Entscheidungsstichwort (Thema)

Ernstliche Zweifel an Verfassungsmäßigkeit der §§ 49 ff. EStG

 

Leitsatz (NV)

Es bestehen ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der §§ 49 ff. EStG in den Fällen, in denen die Berücksichtigung des sog. Existenzminimums des beschränkt Steuerpflichtigen rechtlich nicht vorgesehen ist.

 

Normenkette

EStG § 49 ff.; EWGV Art. 52

 

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) ist Niederländer. In den Streitjahren 1989 und 1991 wohnte er mit seiner Familie (Ehefrau und drei Kinder) nur in den Niederlanden. In der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) unterhielt er einen Gewerbebetrieb, aus dem er im Veranlagungszeitraum 1989 Einkünfte nur in Höhe von 9777 DM erzielte. Nach seinen eigenen Angaben erzielte der Antragsteller in 1989 auch anderswo keine weiteren Einkünfte.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) erließ am 30. Januar 1991 gegen den Antragsteller einen Einkommensteuerbescheid 1989, in dem die Einkommensteuer mit 25 v. H. von 9777 DM = abgerundet 2440 DM festgesetzt wurde. Gleichzeitig erließ das FA einen Einkommensteuer-Vorauszahlungsbescheid 1991, in dem die Einkommensteuer-Vorauszahlungen ab dem 10. März 1991 auf 610 DM vierteljährlich festgesetzt wurden. Gegen die Bescheide legte der Antragsteller fristgerecht Einsprüche ein mit dem Antrag, die Einkommensteuer jeweils aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) auf 0 DM herabzusetzen. Über die Einsprüche hat das FA - soweit erkennbar - noch nicht entschieden. Durch Verfügung vom 13. März 1991 hat es jedoch den Erlaß einer Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO 1977 abgelehnt. Dagegen erhob der Antragsteller Rechtsbehelf.

Mit Schreiben vom 28. Februar 1991 beantragte der Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1989 und des Einkommensteuer-Vorauszahlungsbescheides 1991. Später dehnte er den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Ablehnung seines Antrags auf Erlaß einer Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen aus. Das FA lehnte beide Anträge am 13. März 1991 bzw. am 4. April 1991 ab.

Der Antragsteller wiederholte deshalb seine Anträge auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beim Finanzgericht (FG). Dieses gab dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1989 und des Einkommensteuer - Vorauszahlungsbescheides 1991 durch Beschluß vom 25. Juli 1991 statt. Es ließ die Beschwerde zu. Der Beschluß wurde dem FA am 7. August 1991 zugestellt. Es legte am 19. August 1991 beim FG Beschwerde ein, der das FG nicht abgeholfen hat.

Das FA hat am 22. August 1991 einen geänderten Einkommensteuer-Vorauszahlungsbescheid 1991 erlassen und die Einkommensteuer-Vorauszahlungen ab dem 10. September 1991 auf 0 DM herabgesetzt. Der Antragsteller hat insoweit die Hauptsache für erledigt erklärt. Das FA hat zu der Erledigungserklärung keine weitere Stellungnahme abgegeben.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unbegründet, soweit der angefochtene Beschluß des FG die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1989 und der Einkommensteuer-Vorauszahlungen zum 10. März und zum 10. Juni 1991 betrifft. Im übrigen ist das Begehren des Antragstellers in der Hauptsache erledigt. Deshalb war die Beschwerde isngesamt mit der Maßgabe als unbegründet zurückzuweisen, daß für die Vorauszahlungen ab dem 10. September 1991 die Erledigung der Hauptsache festzustellen war.

1. Der Streitfall ist in vieler Hinsicht dem Verfahren I B 77/91 gleichgelagert, über das der erkennende Senat durch Beschluß vom 22. Januar 1992, BFHE 166, 359, BStBl II 1992, 618 entschieden hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die Entscheidungsgründe des Beschlusses inhaltlich Bezug. Dabei weist er darauf hin, daß der Antragsteller Niederländer ist und sich deshalb unmittelbar auf Art. 52 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft berufen kann (EWGV).

2. Entgegen der Auffassung des FA fehlt es im Streitfall nicht an einem vollziehbaren Verwaltungsakt (Steuerbescheid). In dem Verfahren vor dem FG hat der Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1989 und des Einkommensteuer-Vorauszahlungsbescheides 1991, beide vom 30. Januar 1991, beantragt. Zwar hat er außerdem beantragt, die Vollziehung des Ablehnungsbescheides vom 13. März 1991 auszusetzen. Das FG hat diesen Antrag jedoch nur als Hilfsantrag gewertet. Es hat in dem angefochtenen Beschluß die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1989 und des Einkommensteuer-Vorauszahlungsbescheides 1991 ausgesetzt. Beide Bescheide waren damals und sind auch heute insoweit vollziehbar, als sie gegenüber dem Antragsteller Einkommensteuerschulden festsetzen. Der Antragsteller hat die Steuerfestsetzungen fristgerecht mit Einsprüchen angefochten. Das FA ist verpflichtet, in den Einspruchsverfahren von Amts wegen die materielle Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide zu prüfen. Dabei wird es auch die Auswirkungen berücksichtigen müssen, die sich aus dem zu erwartenden Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in der Rs. C - 112/91 ergeben. Soweit danach die Vorschriften der §§ 49 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) im Widerspruch zu denen des EWGV stehen sollten, können sie vom FA nicht angewendet werden.

3. Der Senat sieht für den Streitfall davon ab, die Aussetzung der Vollziehung längstens auf die Dauer bis einen Monat nach Bekanntgabe des Urteils des EuGH in der Rs. C-112/91 zeitlich zu beschränken. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide ergeben sich nämlich auch aus der möglichen Verfassungswidrigkeit der §§ 49 ff. EStG in den Fällen, in denen die Berücksichtigung des sog. Existenzminimums des beschränkt Steuerpflichtigen rechtlich nicht vorgesehen ist. Der Senat nimmt dazu auf die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84 u. a. (BStBl II 1990, 653) und vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) sowie auf den Beschluß des III. Senats des Bundesfinanzhofs vom 25. Juli 1991 III B 555/90 (BFHE 164, 570) Bezug. Der in den genannten Entscheidungen vertretenen Rechtsauffassung pflichtet er grundsätzlich bei. Er geht davon aus, daß bei der Besteuerung das sog. Existenzminimum auch gegenüber einem beschränkt Steuerpflichtigen berücksichtigt werden muß, der seine sämtlichen Einkünfte nur in der Bundesrepublik versteuert. Im Streitfall sind diese Voraussetzungen insoweit erfüllt, als die Beteiligten übereinstimmend davon ausgehen, daß der Antragsteller in 1989 nur Einkünfte in Höhe von 9777 DM erzielte und daß diese Einkünfte nur in der Bundesrepublik steuerpflichtig sind. Der Betrag von Jahreseinkünften in Höhe von 9777 DM liegt bei einem verheirateten Ehemann mit drei Kindern für das Streitjahr 1989 unter dem Existenzminimum (vgl. Lang, Steuer und Wirtschaft 1990, 346). Demgegenüber kann das FA nicht mit Erfolg auf die in den Niederlanden günstigeren Lebensbedingungen des Antragstellers hinweisen. Es ist nicht dargetan, daß der Betrag von 9777 DM unter Berücksichtigung der besonderen Lebensbedingungen in den Niederlanden das Existenzminimum des Antragstellers übersteigt. Bei dieser Sachlage kann die Frage offenbleiben, ob nicht zumindest im Einzelfall auch der besondere Steuersatz i. S. des § 50 Abs. 3 Satz 2 EStG gegen Art. 52 EWGV verstößt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 418458

BFH/NV 1992, 736

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