Entscheidungsstichwort (Thema)

Verhältnis NZB zur zulassungsfreien Revision; rechtliches Gehör; Anlaufhemmung

 

Leitsatz (NV)

1. Für eine Nichtzulassungsbeschwerde besteht nur insoweit ein Rechtsschutzbedürfnis, als damit nicht Gründe geltend gemacht werden, die eine zulassungsfreie Revision eröffnen.

2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt das Recht, sich über Tatsachen, Beweisergebnisse und die Rechtslage zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen. Ein Verstoß gegen diese Pflicht läßt sich nur feststellen, wenn sich eine Verletzung aus den besonderen Umständen des konkreten Falles ergibt. Die Vermutung, daß das Gericht seiner Pflicht nachgekommen ist, wird nicht bereits dadurch entkräftet, daß das entsprechende Vorbringen nicht in den Entscheidungsgründen ausdrücklich angesprochen wird.

3. Für die mit der Nichtzulassungsbeschwerde erhobene Rüge, das Gericht habe zu Unrecht das Verfahren nicht ausgesetzt und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeholt, fehlt das Rechtsschutz bedürfnis. Verletzt ein Gericht willkürlich seine Vorlagepflicht, so ist insoweit die zulassungsfreie Revision unter dem Gesichtspunkt des Besetzungsmangels eröffnet.

 

Normenkette

AO 1977 § 170 Abs. 2 Nr. 1; EStG (1985) § 52 Abs. 23a; FGO § 96 Abs. 2, § 105 Abs. 2 Nrn. 4-5, Abs. 3, § 115 Abs. 3 S. 1, § 116 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 100 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1

 

Gründe

Die Beschwerde ist unzulässig und ist deshalb zu verwerfen.

Die Beschwerde bezeichnet keine Verfahrensmängel entsprechend den gesetzlichen Anforderungen (vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Für die Nichtzulassungsbeschwerde besteht insoweit ein Rechtsschutzbedürfnis, als damit nicht unter § 116 Abs. 1 FGO, der für die dort abschließend genannten schwerwiegenden Verfahrensverstöße die zulassungsfreie Verfahrensrevision eröffnet, fallende Verfahrensmängel geltend gemacht werden. Insoweit ergänzt § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO die Regelung in § 116 Abs. 1 FGO (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 9. Juni 1986 IX B 90/85, BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679; vom 2. September 1987 II B 103/87, BFHE 150, 445, BStBl II 1987, 785).

Für die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG --) sieht § 116 Abs. 1 FGO nicht die zulassungsfreie Revision vor (vgl. BFH-Beschluß vom 31. August 1992 V R 9/92, BFH/NV 1993, 313, 314).

2. Die Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist nicht schlüssig, soweit die Klägerin behauptet, das FG habe ihre rechtlichen Ausführungen zur Festsetzungsverjährung betreffend die Einkommensteuerfestsetzungen für die Jahre 1983 und 1984 und insbesondere die Frage des Beginns der Verjährung nach § 170 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) -- mangels hinreichender verfahrensrechtlicher Grundlagen in den Streitjahren -- im angefochtenen Urteil nicht zur Kenntnis genommen und mithin auch nicht erwogen.

a) Art. 103 Abs. 1 GG gewährt das Recht, sich über Tatsachen, Beweisergebnisse und die Rechtslage zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß ein Gericht das von ihm entgegengenommene Parteivorbringen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch in Erwägung gezogen hat. Ein Verstoß gegen diese Pflicht läßt sich nur feststellen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des konkreten Falles ergibt.

Diese Vermutung wird nicht bereits dadurch entkräftet, daß das betreffende Vorbringen nicht in den schriftlichen Entscheidungsgründen angesprochen wird. Hinsichtlich der Berücksichtigung von Rechtsausführungen werden zudem im Vergleich zu Tat sachenbehauptungen geringere Anforderungen gestellt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 15. Dezember 1992 VIII R 52/91, BFH/NV 1993, 684, 685, mit umfangreichen Nachweisen).

b) Es trifft zwar zu, daß das FG im Tatbestand des angefochtenen Urteils lediglich ausführt, die Klägerin halte die Schätzungen für unzulässig, weil für die Ein kommensteuer 1983 und 1984 bereits Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Im übrigen nimmt es lediglich pauschal auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug (zur Zulässigkeit einer solchen Bezugnahme vgl. BFH-Urteil vom 15. Januar 1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81, 85, m. w. N.). Indessen bedurfte es nach der insoweit maßgebenden materiell-rechtlichen Auffassung des Gerichts (vgl. dazu BFH-Urteil vom 31. August 1992 V R 47/88, BFHE 169, 250, BStBl II 1992, 1046, 1047, ständige Rechtsprechung) keiner ausführlicheren Darstellung des Streitstandes im Tatbestand (vgl. § 105 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 FGO; BFH-Urteile vom 5. September 1989 VII R 62/87, BFH/NV 1990, 348, 350, m. w. N.; vom 2. Februar 1989 V R 171/83, BFH/NV 1990, 11, 13, m. w. N.).

Das FG ist unter Bezugnahme auf das zwischen den Beteiligten ergangene und rechtskräftig gewordene Urteil vom 20. Oktober 1992 VI 79/90 erkennbar davon ausgegangen, daß die Klägerin kraft Aufforderung durch das FA zur Abgabe von Steuererklärungen für die Jahre 1983 und 1984 verpflichtet war und insofern die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 mit der Folge zum Zuge kam, daß der Steuerfestsetzung keine Festsetzungsverjährung entgegenstand. Die Bezugnahme auf diese zwischen denselben Beteiligten ergangene Entscheidung desselben Spruchkörpers war ebenfalls unbedenklich. Eine solche Verweisung genügt den Anforderungen an die Entscheidungsgründe i. S. von § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO (vgl. BFH-Urteil vom 14. Mai 1992 V R 96/90, BFHE 168, 306, BStBl II 1992, 1040, 1041; Beschluß vom 26. Juni 1990 VII R 124/89, BFH/NV 1991, 463, 464).

Nach der für die Prüfung eines gerügten Verfahrensmangels maßgebenden materiell-rechtlichen Rechtsauffassung brauchte das FG auch nicht mehr ausdrücklich auf die erst nach Ergehen dieses in Bezug genommenen Urteils im Rahmen dieses Streitverfahrens gemachten rechtlichen Ausführungen der Klägerin einzugehen.

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung greift die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 auch dann ein, wenn die Erklärungspflicht sich erst konkret aus der Aufforderung des FA zur Abgabe einer Steuererklärung ergibt. Auch in diesem Falle liegt im Sinne dieser Bestimmung eine Pflicht zur Einreichung einer Steuererklärung aufgrund gesetzlicher Vorschriften vor (vgl. BFH-Urteil vom 17. Februar 1993 II R 83/90, BFHE 170, 305, BStBl II 1993, 580).

c) Soweit die Beschwerde einen Verfahrensmangel darin sieht, daß das FG wegen einer verfassungswidrig echten Rückwirkung des § 52 Abs. 23a i. d. F. des Steuerbereinigungsgesetzes 1985 nicht gemäß Art. 100 GG das Verfahren ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeholt hat, rügt sie im Kern einen Besetzungsmangel des Gerichts i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO. Verletzt ein Gericht willkürlich seine Vorlagepflicht an ein anderes Gericht, so ist insoweit die zulassungsfreie Revision eröffnet (vgl. Ruban/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 119 Rz. 5, m. w. N.). Jedenfalls besteht kein Rechtsschutzbedürfnis dafür, abgesehen davon, daß eine derartige Verpflichtung eine entsprechende -- im Streitfall gerade fehlende -- Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des vorliegenden Gerichts voraussetzt, diesen Mangel als Zulassungsgrund im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde geltend zu machen.

Von einer weiteren Begründung sieht der erkennende Senat nach Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ab.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421903

BFH/NV 1997, 419

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