Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung nach § 174 Abs. 4 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

1. Ordnungsgemäße Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache.

2. Grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage, ob die Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 AO 1977 die richtige steuerliche Erfassung eines Sachverhalts auch dann noch zuläßt, wenn der ursprünglich aufgrund irriger Beurteilung des Sachverhalts ergangene Steuerbescheid durch einen späteren Steuerbescheid - wieder irrig - zu Unrecht geändert wurde.

 

Normenkette

FGO § 115; AO 1977 § 174 Abs. 4

 

Verfahrensgang

FG Nürnberg

 

Tatbestand

Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) betrieb eine Steuerberatungskanzlei. In den Jahren 1972 und 1973 errichtete er ein Einfamilienhaus. Mit der Begründung, im Dachgeschoß des Hauses sollten die Kanzleiräume untergebracht werden, machte er in den Umsatzsteuererklärungen 1972 und 1973 die in den Baurechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer teilweise als abziehbare Vorsteuerbeträge geltend. Eine Betriebsprüfung im Jahre 1979 ergab, daß der Kläger sein Büro nicht in das neu errichtete Einfamilienhaus, sondern im Jahr 1975 in ein anderes Gebäude verlegt hatte. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) machte daraufhin den in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug durch geänderten Umsatzsteuerbescheid 1975 vom 11. Januar 1980 rückgängig. Der Kläger hatte demgegenüber den Vorsteuerabzug erst im Rahmen der Umsatzsteuervoranmeldung für Oktober 1978 korrigiert. In dem anschließenden Rechtsstreit gegen den geänderten Umsatzsteuerbescheid 1975 vertrat das Finanzgericht (FG) die Auffassung, die Beseitigung des Vorsteuerabzugs in diesem Bescheid sei unzulässig. Vielmehr sei der in einem späteren Besteuerungszeitraum vorgenommenen, den Vorsteuerabzug ausschließenden Verwendung der bezogenen Leistung entgegen der ursprünglichen Zweckbestimmung dadurch Rechnung zu tragen, daß der zunächst vorgenommene Vorsteuerabzug durch Änderung der ursprünglichen Umsatzsteuerfestsetzung rückgängig zu machen sei. Das Urteil vom 29. Juni 1982 wurde rechtskräftig.

Daraufhin korrigierte das FA durch Änderungsbescheide vom 10. Dezember 1982 - gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) - die ursprünglichen Steuerfestsetzungen, und zwar den unter Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung ergangenen Änderungsbescheid 1972 vom 6. Dezember 1979 und den erstmaligen Umsatzsteuerbescheid 1973 vom 22. Juli 1975, die beide auf dem Betriebsprüfungsbericht vom 24. März 1975 beruhten.

Einspruch und Klage hinsichtlich des geänderten Bescheids für 1973 hatten keinen Erfolg.

Hinsichtlich des geänderten Umsatzsteuerbescheids 1972 vom 10. Dezember 1982 gab das FG der Klage statt. Es verneinte die Anwendbarkeit des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 in diesem Fall. Die Umsatzsteuerfestsetzung 1972 sei zuletzt erst am 6. Dezember 1979 aufgrund des Prüfungsberichts vom 24. März 1975 geändert worden. Soweit könne von einem Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung nicht ausgegangen werden. Der Sachverhalt falle vielmehr unter die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Hier greife aber die Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO 1977 bezüglich des angefochtenen Bescheids ein.

Der angefochtene Umsatzsteuerbescheid 1972 vom 10. Dezember 1982 könne auch nicht auf § 174 Abs. 4 AO 1977 gestützt werden. Denn die Finanzbehörde dürfe keine Fehler korrigieren, die sie im Zeitpunkt der widerstreitenden Steuerfestsetzung nicht mehr hätte ändern dürfen (vgl. Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten - AO 1977 -, 7. Aufl., S. 110). Bei zutreffender Beurteilung des Verhaltens hätte die Rückgängigmachung des Vorsteuerabzugs nicht in dem aufgrund des Prüfungsberichts vom 22. Oktober 1979 ergangenen Umsatzsteueränderungsbescheid 1975 vom 11. Januar 1980, sondern teilweise im Rahmen der Umsatzsteuerfestsetzung 1972 erfolgen müssen. Für 1972 habe das FA aber bereits am 6. Dezember 1979 einen Änderungsbescheid erlassen, der durch den Bescheid vom 11. Januar 1980 infolge der Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 AO 1977 nicht mehr habe geändert werden dürfen.

Hinsichtlich der Umsatzsteuerfestsetzung 1972 hat das FA die Nichtzulassung der Revision mit der Beschwerde angefochten. Es macht geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung.

Dazu trägt das FA vor: Das FG gehe bei Anwendung des § 174 Abs. 4 AO 1977 von einem zu engen Standpunkt aus; es mache eine Änderung davon abhängig, ob die Folgerungen nach § 174 Abs. 4 AO 1977 noch im Zeitpunkt der ,,widerstreitenden" Steuerfestsetzung hätten gezogen werden können. Zutreffend sei jedoch eine Auslegung dahingehend, daß eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO 1977 auch in Betracht komme, wenn sie zunächst möglich gewesen und infolge der irrigen Beurteilung unterlassen worden sei. Von dieser rechtlichen Beurteilung gehe offensichtlich auch das FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 9. Mai 1980 IV 108, 109/79, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1980, 532) aus. Das FG hätte eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO 1977 bejahen müssen, wenn es ausreichend gewürdigt hätte, daß für das Ergehen des ,,endgültigen" Umsatzsteuerbescheids 1972 vom 6. Dezember 1979, in dem der Vorsteuerabzug weiterhin belassen worden sei, und den Umsatzsteuerbescheid 1975 vom 11. Januar 1980, mit dem der Vorsteuerabzug beseitigt worden sei, die vom FA übernommene irrige Beurteilung des Betriebsprüfungsberichts vom 22. Oktober 1979 maßgebend gewesen sei.

Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sei darin zu sehen, daß die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bei vorstehend aufgeführten Sachverhalten die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids auf § 174 Abs. 4 AO 1977 gestützt werden könne, von allgemeinem Interesse sei. Hierfür sei maßgebend, daß die Rechtssache auch für eine Reihe gleichgelagerter Fälle Bedeutung habe. Das allgemeine Interesse zeige sich auch darin, daß die Problematik bereits in Literatur und Rechtsprechung erörtert, aber höchstrichterlich noch nicht geklärt worden sei.

Der Kläger beantragt, ,,die Revision zurückzuweisen".

 

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Nach § 115 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) muß in der Beschwerdeschrift die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt werden.

Eine Rechtssache hat dann grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, deren Klärung das Interesse der Allgemeinheit an der Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Es muß sich um eine aus rechtssystematischen Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche Rechtsanwendung wichtige Frage handeln (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24. Juni 1985 I B 23/85, BFHE 144, 133, BStBl II 1985, 605, m. w. N.).

Das Interesse der Allgemeinheit an der Entscheidung einer beschriebenen Rechtsfrage ist nicht schon mit dem Hinweis dargelegt (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO), daß sie noch nicht vom BFH entschieden sei und daß andere gleichgelagerte Fälle beim BFH anhängig seien (vgl. z. B. BFH-Beschluß vom 27. Juni 1985 I B 27/85, BFHE 144, 137, BStBl II 1985, 625). Erforderlich ist die Darlegung, daß und aus welchen Gründen die Frage in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten ist. Das FA hat die nach seiner Auffassung klärungsbedürftige Rechtsfrage unter Hinweis auf die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten des § 174 Abs. 4 AO 1977 hinreichend deutlich dargestellt. Es hat zudem durch den Hinweis auf das Urteil des FG Rheinland-Pfalz in EFG 1980, 532 im Vergleich zum vorliegenden Urteil mit den jeweiligen Nachweisen Angaben gemacht, die noch so hinreichend konkret sind, um erkennen zu lassen, daß - über das Interesse des FA an der Entscheidung im Einzelfall hinaus - ein allgemeines Interesse an einer Entscheidung der Rechtsfrage durch den BFH zur Herstellung der Rechtssicherheit und Rechtseinheitlichkeit bestehe.

2. Die Beschwerde ist begründet. Die Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 AO 1977 setzt voraus, daß aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird; in diesem Fall können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlaß oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgen gezogen werden. Das gilt auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird.

Die Rechtsfrage, ob die Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 AO 1977 es auch dann noch gestattet, durch Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgen aus einem Sachverhalt zu ziehen, wenn bei Aufhebung oder Änderung des direkt zu beurteilenden Steuerbescheids die Voraussetzung zur Änderung des Steuerbescheids, in dem die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden sollten, nicht mehr bestehen, ist von allgemeinem Interesse, weil diese Rechtsfrage in einer Reihe von Fällen als Problem ansteht, vom BFH noch nicht entschieden ist, und in Rechtsprechung und Schrifttum uneinheitlich beantwortet wird (vgl. außer dem bereits genannten Urteil des FG Rheinland-Pfalz und der vorliegenden Entscheidung; ferner Woerner/Grube, a. a. O., S. 109 f.; Förster in Koch, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 174 Rz. 19; unklar: Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 174 AO 1977 Tz. 15).

Der Zulassung der Revision steht nicht etwa das Fehlen der Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage entgegen. Wie der BFH z. B. im Beschluß vom 23. Juni 1967 VI B 16/67 (BFHE 89, 117, BStBl III 1967, 531) ausgeführt hat, setzt die Zulassung der Revision voraus, daß mindestens die konkrete Möglichkeit besteht, daß die als grundsätzlich angesehene Frage im Revisionsverfahren geklärt werden kann. Nach der Aktenlage ist eine solche konkrete Möglichkeit dafür vorhanden, daß die Änderungsmöglichkeit der Steuerfestsetzung nach § 174 Abs. 4 AO 1977 nicht durch Ablauf der Festsetzungsfrist ausgeschlossen ist.

 

Fundstellen

BFH/NV 1987, 421

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