Entscheidungsstichwort (Thema)

Verstoß gegen Art. 52 EGV bei Besteuerung von Einpendlern aus EG-Staaten nach den Grundsätzen der beschränkten Steuerpflicht - Zulässigkeit eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 6 FGO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es ist weiterhin ernstlich zweifelhaft, ob ein Verstoß gegen Art.52 EGV zu bejahen ist, wenn die Bundesrepublik Einpendler aus anderen EG-Mitgliedstaaten, die den ganz überwiegenden Teil ihrer Einkünfte (mehr als 90 v.H.) nur in der Bundesrepublik zu versteuern haben, nach den Grundsätzen der beschränkten Steuerpflicht besteuert.

2. Unterstellt man einen entsprechenden Verstoß gegen Art.52 EGV, so kann ein vergleichbarer Einpendler mit deutscher Staatsangehörigkeit einen Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung mit EG-Steuerausländern haben.

3. Es ist die Aussetzung der Vollziehung einschlägiger Einkommensteuerbescheide bis zur Klärung der Rechtsfrage durch den EuGH in der Rechtssache C-279/93 geboten.

 

Orientierungssatz

Hat der Antragsteller die Entscheidung über eine befristete oder unbefristete Aussetzung der Vollziehung (AdV) in das Ermessen des FG gestellt und hat das FG eine nur befristete AdV ausgesprochen, kann der Antragsteller nach Ablauf der befristeten AdV dieselbe erneut beantragen. Der Antrag ist unabhängig von den in § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO genannten Voraussetzungen zulässig, wenn ihm auch ohne Änderung des ursprünglichen Aussetzungsbeschlusses stattgegeben werden kann. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn dem ursprünglichen Antrag stattgegeben wurde, ohne daß er wegen der befristeten AdV teilweise zurückgewiesen wurde.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3; EStG § 1 Abs. 4, §§ 49ff, 49 Abs. 1 Nr. 3; EWGVtr Art. 7, 52; FGO § 69 Abs. 6; GG Art. 3

 

Tatbestand

I. Das Finanzgericht (FG) Köln hat den Antrag des Antragstellers und Beschwerdeführers (Antragsteller) gegen den Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) auf Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1989 abgelehnt und die Beschwerde zugelassen. Der Beschluß wurde am 25. Mai 1993 zur Post gegeben. Der Antragsteller legte am 9. Juni 1993 beim FG Beschwerde ein, der das FG nicht abgeholfen hat und der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

Der Antragsteller hatte in den Streitjahren 1986 bis 1989 seinen einzigen Wohnsitz in Belgien. Er erzielte Einkünfte aus selbständiger Arbeit aus einer in A (Inland) als freiberuflicher Rechtsanwalt ausgeübten Tätigkeit. Das FA behandelte den Antragsteller für alle Streitjahre als beschränkt Steuerpflichtigen. Es erließ am 13. Juli 1990 und am 26. September 1991 gegenüber dem Antragsteller entsprechende Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1989. Gegen die Bescheide legte der Antragsteller Einsprüche ein, über die --soweit bekannt-- noch nicht entschieden ist.

Der Antragsteller beantragte am 29. April 1991 beim FG die Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1988. Das FG gab diesem Antrag durch Beschluß vom 1. Juli 1991 3 V 395/91 statt. Es ließ die Beschwerde zu, die das FA einlegte. Sie führte zu dem Beschluß des erkennenden Senats vom 22. Januar 1992 I B 77/91 (BFHE 166, 350, BStBl II 1992, 618). Dort wurde die Vorentscheidung bestätigt, jedoch die Aussetzung der Vollziehung zeitlich auf die Dauer bis einen Monat nach Bekanntgabe des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in der Rechtssache C-112/91 begrenzt. Das FA verfügte am 13. November 1991 die Aussetzung der Vollziehung auch des Einkommensteuerbescheides 1989 befristet bis zur Bekanntgabe der Entscheidung durch den EuGH.

Der EuGH hat am 26. Januar 1993 in der Rechtssache C-112/91 entschieden (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1993, 277; Internationales Steuerrecht --IStR-- 1993, 72). Daraufhin lehnte das FA den Antrag des Antragstellers auf Verlängerung der Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1989 ab. Der Antragsteller beantragte deshalb mit Schreiben vom 12. Februar 1993 beim Bundesfinanzhof (BFH) die Änderung des Beschlusses vom 22. Januar 1992 dahingehend, daß die Aussetzung der Vollziehung unbefristet gewährt werde. Diesen Antrag hat der BFH durch Beschluß vom 25. März 1993 I S 5/93 als unzulässig abgelehnt, weil der Antrag zuständigkeitshalber beim FG hätte gestellt werden müssen. Der Beschluß ist in BFHE 171, 197, BStBl II 1993, 515 veröffentlicht.

Mit Schreiben vom 18. Februar 1993 beantragte der Antragsteller auch beim FG die Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1989. Diesen Antrag lehnte das FG --wie eingangs erwähnt-- durch Beschluß vom 12. Mai 1993 ab.

Mit seiner Beschwerde macht der Antragsteller die Verfassungswidrigkeit der Vorschriften über die beschränkte Steuerpflicht geltend.

Er beantragt, unter Aufhebung des angegriffenen Beschlusses die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1988 vom 13. Juli 1990 auszusetzen, soweit die Einkommensteuer 1986 höher als 135 932 DM, die Einkommensteuer 1987 höher als 315 378 DM und die Einkommensteuer 1988 höher als 428 717 DM festgesetzt worden sei, den Einkommensteuerbescheid 1989 in Höhe von 132 598 DM auszusetzen und die Verwirkung von Säumniszuschlägen aufzuheben.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide entsprechend dem Antrag des Antragstellers.

1. Gemäß § 69 Abs.3 i.V.m. Abs.2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Steuerbescheides auf Antrag aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestehen oder wenn dessen Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides ist ernstlich zweifelhaft, wenn die Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der präsenten Beweismittel, der gerichtsbekannten Tatsachen und des unstreitigen Sachverhalts in entscheidungserheblicher Weise zu Unsicherheiten in der Beurteilung der Rechtslage oder zu Unklarheiten in der Beurteilung von Tatfragen führt (vgl. BFH-Urteil vom 17. Mai 1978 I R 50/77, BFHE 125, 423, BStBl II 1978, 579; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 69 Anm.77 m.w.N.). Eine unbillige Härte ist i.S. des § 69 Abs.2 FGO anzunehmen, wenn dem Steuerpflichtigen durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides wirtschaftliche Nachteile drohen, die über die eigentliche Steuerzahlung hinausgehen und die nicht oder nur schwer wiedergutzumachen sind (BFH-Beschluß vom 24. November 1988 IV S 1/86, BFH/NV 1990, 295).

2. Bezogen auf die Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1988 hat das FG den Antrag des Antragstellers aus Gründen des § 69 Abs.6 Satz 2 FGO zu Unrecht als unzulässig angesehen. Will das FG über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides gemäß § 69 Abs.3 i.V.m. Abs.2 FGO positiv entscheiden, so steht es in seinem pflichtgemäßen Ermessen, ob es die Vollziehung zeitlich unbefristet oder befristet aussetzt. Es wird die Vollziehung regelmäßig nur dann zeitlich befristet aussetzen, wenn es davon ausgeht, daß die von ihm angenommenen ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen, weil z.B. der EuGH sie in einem bestimmten Verfahren verbindlich zu klären hat. Enthält in einem solchen Fall der vom Antragsteller ursprünglich gestellte Antrag keine zeitliche Befristung der begehrten Aussetzung der Vollziehung und beschließt das FG dennoch eine solche, so bedeutet dies nicht notwendigerweise eine teilweise Ablehnung des Antrags des Antragstellers. Vielmehr kann dessen Antrag auch dahin auszulegen sein, daß er die Entscheidung über eine befristete oder unbefristete Aussetzung der Vollziehung in das pflichtgemäße Ermessen des FG stellt. Das FG spricht häufig eine nur befristete Aussetzung der Vollziehung auch deshalb aus, um einen späteren Beschluß gemäß § 69 Abs.6 Satz 1 FGO bzw. einen Antrag des FA gemäß § 69 Abs.6 Satz 2 FGO entbehrlich zu machen. Diese Vorgehensweise eröffnet allerdings dem Antragsteller die Möglichkeit, nach Ablauf einer befristeten Aussetzung der Vollziehung dieselbe erneut zu beantragen. Über den Antrag hat das FG gemäß § 69 Abs.3 i.V.m. Abs.2 FGO zu entscheiden. Er ist unabhängig von den in § 69 Abs.6 Satz 2 FGO genannten Voraussetzungen zulässig, wenn ihm auch ohne Änderung des ursprünglichen Aussetzungsbeschlusses stattgegeben werden kann. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn dem ursprünglichen Antrag stattgegeben wurde, ohne daß er wegen der befristeten Aussetzung der Vollziehung teilweise zurückgewiesen wurde.

So ist auch der Streitfall gelagert. Der erkennende Senat hat in seinem Beschluß in BFHE 166, 350, BStBl II 1992, 618 die vom Antragsteller begehrte Vollziehung zeitlich befristet ausgesetzt, ohne dessen Antrag teilweise abzulehnen. Bei dieser Sachlage mußte das FG auch über den sich auf die Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1988 beziehenden Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs.3 i.V.m. Abs.2 FGO entscheiden. Auf die Voraussetzungen des § 69 Abs.6 Satz 2 FGO kommt es nicht an, weshalb unentschieden bleiben kann, ob es sich --wie das FG angenommen hat-- um Sachentscheidungsvoraussetzungen handelt.

3. Der Senat hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1989. Die ernstlichen Zweifel sind nicht --wie noch im Beschluß in BFHE 166, 350, BStBl II 1992, 618 erwartet-- durch das Urteil des EuGH vom 26. Januar 1993 C-112/91, HFR 1993, 277, IStR 1993, 72 beseitigt worden (vgl. Knobbe-Keuk, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1993, 425; Thömmes, Internationale Wirtschaftsbriefe --IWB-- Fach 11 Gruppe 2 S.130 ff.). Zwar ist durch das EuGH-Urteil geklärt, daß auch der Antragsteller sich nicht unmittelbar auf Art.52 EG-Vertrag i.d.F. vom 7. Februar 1992 (BGBl II 1992, 1251) berufen kann. Ungeklärt ist jedoch die Rechtsfrage, ob sich aus der Vorschrift ein Rechtsanspruch bestimmter EG-Steuerausländer auf eine besondere steuerliche Behandlung im Inland ergibt und ob der Antragsteller einen Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung mit den genannten EG-Steuerausländern hat. Um erstere Frage zu klären, hat der erkennende Senat durch Beschluß vom 14. April 1993 I R 29/92, BFHE 170, 454, HFR 1993, 448, IStR 1993, 272 ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-279/93 bleibt abzuwarten. Erst dann, wenn diese Entscheidung ergangen ist, wird abschließend darüber zu befinden sein, ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Gleichbehandlung unter dem Gesichtspunkt des Art.3 des Grundgesetzes zusteht. So gesehen bestehen die vom erkennenden Senat in BFHE 166, 350, BStBl II 1992, 618 angenommenen ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1988 im Kern unverändert fort. Sie erstrecken sich auch auf den Einkommensteuerbescheid 1989 und zwingen dazu, die damals getroffene Entscheidung zu wiederholen bzw. auf 1989 auszudehnen. Die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1989 war bis einen Monat nach Bekanntgabe des Urteils des EuGH in der Rechtssache C-279/93 mit der Maßgabe auszusetzen, daß inzwischen verwirkte Säumniszuschläge ab Fälligkeit entfallen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 64920

BFHE 173, 127

BFHE 1994, 127

BB 1994, 1338

BB 1994, 1338-1339 (LT)

BB 1994, 636

DB 1994, 763 (L)

DStZ 1994, 281 (KT)

HFR 1994, 309-310 (LT)

StE 1994, 191 (K)

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