Der Regelungsbereich des § 129 AO: § 129 AO ermöglicht die Berichtigung von Schreibfehlern, Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten sowohl zu Ungunsten als auch zugunsten des Steuerpflichtigen. Obwohl die Durchführung der Berichtigung im Ermessen des FA steht, besteht bei berechtigtem Interesse des Steuerpflichtigen Berichtigungszwang. Dies ergibt sich aus dem Vorrang der materiellen Gerechtigkeit vor der Rechtssicherheit (BFH v. 4.3.2015 – X B 39/14, BFH/NV 2015, 805).

§ 129 AO greift immer dann ein, wenn es sich um Eingabefehler handelt (BFH v. 29.1.2003 – I R 20/02, BFH/NV 2003, 113), Beträge versehentlich doppelt berücksichtigt oder Vorgänge übersehen werden (BFH v. 27.3.1987 – VI R 63/84, BFH/NV 1987, 480). § 129 AO findet auch dann Anwendung, wenn das FA bei der Veranlagung eine Mitteilung über eine Verlustbeteiligung übersieht und nicht berücksichtigt (BFH v. 16.7.2003 – X R 37/99, BStBl. II 2003, 867 = AO-StB 2004, 5). Entsprechendes gilt, wenn das FA einen Teil der Prüfungsfeststellungen schon während der Außenprüfung in einem Änderungsbescheid berücksichtigt, dann aber die Ergebnisse des abschließenden Prüfungsberichts entgegen der Aktenlage durch eine Korrektur des Änderungsbescheides noch einmal in vollem Umfang – und damit doppelt – umsetzt (BFH v. 24.1.2019 – V R 32/17, BFH/NV 2019, 673).

Hat sich der Steuerpflichtige in seiner Steuererklärung zu seinen Ungunsten vertan, kann ein Änderungsantrag nach § 129 AO Erfolg haben, wenn

  • ihm der Fehler in einer Selbsterrechnungserklärung, d.h. in einer Umsatzsteuer-Voranmeldung, Lohnsteuer-Anmeldung oder Umsatzsteuer-Jahreserklärung unterlaufen ist oder
  • das FA eine aus der Steuererklärung bzw. den dazugehörigen Unterlagen ohne weiteres erkennbare offenbare Unrichtigkeit des Steuerpflichtigen (z.B. einen Übertragungsfehler) übernimmt (BFH v. 17.6.2004 – IV R 9/02, BFH/NV 2004, 1505 = AO-StB 2004, 347 sowie BFH v. 12.2.2020 – X R 27/18, BFH/NV 2020, 1041). "Offenbar" i.S.v. § 129 AO ist auch ein Fehler, wenn das FA bei der Einkommensteuerveranlagung übersieht, dass der Steuerpflichtige in seiner vorgelegten Gewinnermittlung die bei der Umsatzsteuererklärung für denselben Veranlagungszeitraum erklärten und im Umsatzsteuerbescheid erklärungsgemäß berücksichtigten Umsatzsteuerzahlungen nicht als Betriebsausgabe erfasst hat (BFH v. 27.8.2013 – VIII R 9/11, BStBl. II 2014, 439 = AO-StB 2013, 359). Eine berichtigungsfähige ähnliche Unrichtigkeit i.S.v. § 129 AO in Form eines Übertragungsfehlers liegt ferner vor, wenn Aufwendungen in der Buchführung zutreffend auf einem Aufwandskonto verbucht, jedoch aufgrund eines technischen Fehlers versehentlich nicht in die Berechnung des Gewinns nach § 4 Abs. 3 EStG übernommen wurden. Unbeachtlich ist, wenn der Fehler bei bloßer Sichtung der Gewinnermittlung ohne Berücksichtigung des Kontennachweises schwer bzw. nur bei einem Abgleich mit Vorjahres-Gewinnermittlungen ersichtlich ist (FG Köln v. 30.3.2017 – 15 K 3280/15, EFG 2017, 1055). Auch die unterlassene Übernahme eines Verlustes aus einer Verlustbescheinigung nach § 43a Abs. 3 S. 4 EStG in die Steuererklärung kann bei Vorliegen der Verlustbescheinigung bei der Steuerveranlagung eine Berichtigung des Bescheides nach § 129 S. 1 AO aufgrund eines Übernahmefehlers begründen (FG Nds. v. 19.2.2020 – 3 K 323/19, EFG 2020, 569).
  • Zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos reicht nicht die mechanische Übernahme der im Jahresabschluss angegebenen Kapitalrücklage i.S.d. § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB aus, sondern auf einer zweiten Stufe sind noch weitere Sachverhaltsermittlungen zur tatsächlichen Höhe des steuerlichen Einlagekontos erforderlich. Im vom BFH entschiedenen Streitfall hatte das FA die offenbar unrichtigen Angaben der Steuerpflichtigen aus der Steuerklärung übernommen und das steuerliche Einlagekonto mit 0 EUR festgestellt. Anhaltspunkte dafür, dass das FA bei der Übernahme der Angaben der Steuerpflichtigen rechtliche Überlegungen angestellt haben könnte, waren weder vorgetragen noch ersichtlich. Damit lag auch auf Ebene des FA ein mechanischer Fehler (sog. doppelter mechanischer Fehler) vor (BFH v. 8.12.2021 – I R 47/18, BStBl. II 2022, 827 = AO-StB 2022, 270 (Marfels)).

Beraterhinweis Die vorstehend erläuterte Möglichkeit der Bescheidänderung nach § 129 AO bei einem Übernahmefehler gilt nicht bei Übernahme eines Rechtsanwendungsfehlers auf der Ebene des Steuerpflichtigen. Dieser wird durch die Übernahme im Rahmen der Veranlagungsarbeiten nicht zu einer offenbaren Unrichtigkeit i.S.d. § 129 AO (FG Köln v. 27.9.2018 – 11 K 2086/16, EFG 2019, 569).

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge