Die Judikatur des BFH zum Themenkomplex der Gewährung der Akteinsicht durch ein FG ist mit einer aktuellen Entscheidung des BFH weiter ergänzt worden. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger wendete sich im Rahmen einer Klage nach erfolglosem Einspruchsverfahren vor dem FG gegen Schätzungsbescheide. Im Verwaltungsverfahren war dem Kläger keine Akteneinsicht gewährt worden. Im finanzgerichtlichen Verfahren kam es auch zu keiner Akteneinsicht. Zwar versendete das FG aufgrund seines Antrags auf Akteneinsicht die Akten zur Einsichtnahme an ein Amtsgericht. Noch vor der Durchführung der Akteneinsicht legte aber die Prozessbevollmächtigte des Klägers das Mandat nieder. Nach ordnungsgemäßer Ladung zur mündlichen Verhandlung bestellte sich die Prozessbevollmächtigte am Vortag der anberaumten mündlichen Verhandlung um 18:13 Uhr mit einem Telefax unter Beifügung einer schriftlichen Vollmacht erneut. Sie beantragte, den Termin zu verlegen sowie Akteneinsicht. Der Vorsitzende des Senats des FG teilte am Tag der mündlichen Verhandlung dem Büro der Prozessbevollmächtigten mit, dass der Antrag auf Terminverlegung abgelehnt wird. In der mündlichen Verhandlung erschien für den Kläger niemand. Im klageabweisenden Urteil stützte das FG die Ablehnung des Antrags auf Terminverlegung und Akteneinsicht darauf, dass beide Anträge allein aus Gründen der Prozessverschleppung gestellt worden seien.

Der BFH sah dies anders. Er hob das Urteil wegen eines Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück. Das FG hat durch die Ablehnung des Antrags auf erneuter Akteneinsicht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 2 GG). Das Recht auf rechtliches Gehör umfasst zum einen die Möglichkeit der Akteneinsicht (vgl. BVerfG v. 19.1.2006 – 2 BvR 1075/05, Kammerentscheidungen des BVerfG 7, 205; BFH v. 25.5.2011 – VI B 3/11, BFH/NV 2012, 46 = AO-StB 2011, 266) und zum anderen einen Anspruch auf die Erteilung von Ausfertigungen, Auszügen, Ausdrucken und Abschriften (§ 78 Abs. 1 S. 2 FGO). Anders als der Senat des FG bewertete der BFH das Verhalten der Prozessbevollmächtigten im Streitfall (noch) nicht als Prozessverschleppung. Aufgrund der zwischenzeitlichen Mandatsniederlegung der Prozessbevollmächtigten konnte nicht ohne weiteres eine Prozessverschleppung nur deshalb angenommen werden, weil sie kurzfristig vor dem Termin der mündlichen Verhandlung erneut Akteneinsicht beantragt hat. Insb. schränkt eine Beteiligung der Prozessbevollmächtigten im Einspruchsverfahren dieses Recht nicht ein. Da in diesem Verfahrensstadium die Gerichtsakte noch nicht existiert und daher nicht bekannt sein kann, ist nicht sichergestellt, dass der Kläger umfassende und erschöpfende Kenntnis über die dem Gericht vorgelegten Akten des FA hat. Dies gilt erst Recht, wenn das FA wie im Streitfall eine Akteneinsicht während des Verwaltungsverfahrens verweigert hat.

Der BFH hielt auch die fehlende Teilnahme des Klägers an der mündlichen Verhandlung für unbeachtlich. Zwar müsse ein Kläger auch zu diesem Zeitpunkt noch bereit sein, Einsicht in die Akten zu nehmen. Im Streitfall hatte der Vorsitzende des Senats beim FG in dem Telefongespräch mit dem Büro der Prozessbevollmächtigten jedoch eine Akteneinsicht nicht angeboten.

Schließlich verneinte der BFH, dass der Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör durch einen Verzicht unbeachtlich geworden sei. Zwar kann nach der Rspr. des BFH (u.a. BFH v. 25.2.2010 – IX B 156/09, BFH/NV 2012, 176) dann ein Gehörsverstoß nicht mehr gerügt werden, wenn der Beteiligte darauf verzichtet hat (§ 155 S. 1 FGO i.V.m. § 295 ZPO). Im Streitfall hatte der Kläger jedoch aufgrund des am Tag vor der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags auf Akteneinsicht klar zum Ausdruck gebracht, dass er hierauf gerade nicht verzichten wollte. Nach Auffassung des BFH musste der Kläger diesen Antrag nach dem Telefongespräch des Vorsitzenden mit dem Büro der Prozessbevollmächtigten auch nicht wiederholen. Schließlich könne dem Kläger seine fehlende Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nicht vorgehalten werden. Es war nicht zu erwarten, dass ihm zu diesem Termin die Möglichkeit zur Einsicht in das weitere Aktenmaterial gewährt worden wäre.

BFH v. 15.2.2022 – X B 137/20

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