Rz. 15

Wird dem Sozialhilfeträger oder einer von ihm beauftragten Stelle eine Notlage bekannt, so ist er verpflichtet, von Amts wegen, d. h. von sich aus, einzugreifen, soweit die Leistungsvoraussetzungen vorliegen.

 

Rz. 16

"Bekannt" sind die Leistungsvoraussetzungen dem Sozialhilfeträger, wenn sie ihm dargelegt werden oder wenn er sie auf andere Weise erkennen kann. Kenntnis i. d. S. setzt positive Kenntnis der Notlage voraus. Diese positive Kenntnis muss sich auf alle Tatsachen beziehen, die den Leistungsträger in die Lage versetzen, die Leistungen – ggf. nach Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen und etwaiger Ermittlungen durch den Sozialhilfeträger – zu erbringen (vgl. SG Gelsenkirchen; Urteil v. 18.10.2012, S 8 SO 75/12). Unerheblich ist, auf welche Weise die Kenntnis erlangt wird, also aufgrund von Mitteilungen des Leistungsberechtigten, aufgrund eigener Wahrnehmung von Mitarbeitern oder durch Dritte (z. B. Verwandte, Ärzte, freie Wohlfahrtsverbände, Kirchen o. Ä.). Es kommt hierbei also nicht darauf an, dass etwaige erforderliche Ermittlungen bereits abgeschlossen sind, wenn hinreichende Anhaltspunkte für die Erforderlichkeit der Hilfe an sich bestehen. Nicht ausreichend ist, dass der Sozialhilfeträger die Leistungsvoraussetzungen lediglich "erahnen" kann (BVerwG, Beschluss v. 9.11.1976, V B 80.76; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 25.11.2010, L 1 SO 8/10; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 28.8.2014, L 9 SO 28/14). Andererseits ist der Sozialhilfeträger nach § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB X kraft Gesetzes verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (vgl. ausführlich Schoch, ZfS 1987 S. 65).

 

Rz. 17

Diese Amtsermittlungspflicht erstreckt sich nicht allein auf die Tatsachen, die bedeutsam für eine bestimmte Hilfeart sind. Vielmehr ist es Aufgabe des Sozialhilfeträgers, die Gesamtsituation des Hilfesuchenden unter dem Gesichtspunkt aller Hilfemöglichkeiten des SGB XII zu prüfen und den Fall im Ganzen zu regeln (BVerwG, Urteil v. 10.11.1965, V C 104.64) – sog. Gesamtfallgrundsatz. Das ergibt sich daraus, dass § 18 den Begriff der "Sozialhilfe" insgesamt und nicht etwa einen einzelnen Leistungsanspruch verwendet. Zu weit ginge es aber, aus dem Kenntnisgrundsatz abzuleiten, dass der Sozialhilfeträger alle nur denkbaren Leistungen nach dem SGB XII gewähren muss. Hier kommt es vielmehr darauf an, was im Einzelfall von der Kenntnis der Notlage umfasst ist.

 

Rz. 18

Im Rahmen der Amtsermittlung darf der Sozialhilfeträger den Hilfebedürftigen nach § 21 Abs. 2 Satz 1 SGB X heranziehen. Dieser soll insbesondere die ihm bekannten Tatsachen und Beweismittel angeben (§ 21 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Dieser Befugnis des Sozialhilfeträgers entsprechen auf der anderen Seite die Mitwirkungspflichten des Leistungsempfängers, wie sie in §§ 60 ff. SGB I konkretisiert werden. Die Verletzung dieser Mitwirkungspflichten kann unter den näheren Voraussetzungen des § 66 SGB I zum zeitweisen Verlust der Leistung führen.

 

Rz. 19

Das "Bekanntwerden" i. S. d. Abs. 1 ist nicht mit Kennenmüssen gleichzusetzen, letzteres reicht grundsätzlich nicht aus. Der Sozialhilfeträger muss auch keine Ermittlungen ins Blaue hinein anstellen. Im Rahmen der stationären Hilfe zur Pflege reicht es für eine Kenntnis nicht aus, wenn der Heimträger ohne nähere Angaben zum Einkommen und Vermögen auf einem Vordruck lediglich den Einzug einer bis dahin nicht hilfebedürftigen Person in die Einrichtung anzeigt. Denn neben Angaben zum Bedarf müssen auch Anhaltspunkte für eine Bedürftigkeit vorliegen (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 28.8.2014, L 9 SO 28/14 Rz. 28 ff.). Vage Hinweise auf eine potenzielle Hilfebedürftigkeit lösen weder den Hilfefall selbst noch die Pflicht zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen aus (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 28.8.2014, a. a. O., Rz. 28, m. w. N.). Die Mitteilung einer Tochter, dass ihre Eltern die Rechnungen für den Heimaufenthalt nicht bezahlen könnten, reicht zur Erlangung der Kenntnis jedenfalls aus (BSG, Urteil v. 5.9.2019, B 8 SO 20/18 R Rz. 12).

 

Rz. 20

Allerdings muss keine restlose Gewissheit über die Voraussetzungen des Anspruchs bestehen. Der Anspruch muss auch nicht mit dem für die richterliche Überzeugungsbildung erforderlichen Grad an Sicherheit feststehen. Vielmehr reicht es aus, dass die Leistung voraussichtlich zu gewähren ist. Daher schließt die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen, z. B. zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen, das Entstehen des Anspruchs nicht aus. Der Sozialhilfeträger ist einerseits nicht verpflichtet ist, die Notwendigkeit der Hilfe zu "erahnen", andererseits genügt es, wenn hinreichend konkrete Anhaltspunkte für eine Notlage i. S. des SGB XII bestehen und die weiteren "Details" dann im Rahmen der Amtsermittlungspflicht des § 20 SGB X aufgeklärt werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 28.8.2014, L 9 SO 28/14 Rz. 34).

 

Rz. 21

Demgegenüber ist aber erforderlich, dass es sich um einen gegenwärtigen Bedarf handelt. Ein voraussichtlich erst in Zukunft eintretender Bedarf löst auch dann noc...

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