Corona-Generationenkonflikt vor dem Bundesverfassungsgericht

Das die Sicht auf Corona-Beschränkungen divergiert, zeigt sich auf vor dem obersten deutschen Verfassungsgericht: Ein junger und ein älterer Beschwerdeführer scheiterten dort mit Verfassungsbeschwerden. Der junge hielt die Beschränkungen der Freiheitsrechte für unverhältnismäßig, dem älteren dagegen gingen Lockerungen zu weit. Ein ähnlicher Graben verläuft zwischen denen, die schwere Coronafälle erlebt und nicht erlebt haben.

Beide Verfassungsbeschwerden um Corona und Menschenrechte hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen.

  • Der jüngere Beschwerdeführer bezweckte die Rücknahme der Corona-Einschränkungen nach dem IfSG gegenüber allen Bürgern, die noch nicht das 60. Lebensjahr erreicht haben.
  • Der ältere, knapp 60 Jahre alte Beschwerdeführer wollte Bund und Länder zur umgehenden Rücknahme sämtlicher Lockerungen verpflichtet sehen.

Lebensgefahr durch Lockerungen?

Der ältere Beschwerdeführer sah durch die beschlossenen bundesweiten Lockerungen sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Er verwies auf wissenschaftliche Studien, wonach die Lockerungsmaßnahmen verfrüht seien. Er fühle sich nicht mehr sicher. Seine Gesundheit sei aufs schwerste bedroht. Insbesondere die Öffnung der Grundschulen sei nach wissenschaftlichen Studien extrem gefährlich, da jüngere Kinder mental nicht in der Lage seien, die Abstandsregeln einzuhalten.

Gesundheitsschutz ist eine originäre Staatspflicht

Das BVerfG gab dem Beschwerdeführer insoweit recht, als das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit grundsätzlich die staatliche Verpflichtung umfasst, sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen und seine Bürger vor Beeinträchtigungen der Gesundheit zu schützen. Bei der Entscheidung darüber, welche Maßnahmen geeignet seien, die Gesundheit der Bürger zu schützen, komme dem Gesetzgeber aber ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Feststellung einer Verletzung der staatlichen Schutzpflicht durch das BVerfG setze voraus,

  • dass der Staat entweder überhaupt nichts für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung unternimmt oder
  • er offensichtlich völlig ungeeignete und unzulängliche Maßnahmen zur Erreichung des erstrebten Ziels Gesundheitsschutz ergreift.

Gesundheitsschutz ist nicht alles

Die Erfüllung der Forderung des Beschwerdeführers nach optimalen Schutz der Gesundheit und Zurückstellung anderer Ziele würde nach Auffassung des BVG in letzter Konsequenz zu einer vollständigen Isolation der gesamten Bevölkerung führen, denn dies biete den besten Schutz gegen eine Covid-19-Infektion. Der Gestaltungsspielraum des Staates umfasse aber die Option, bei der Auswahl der geeigneten Mittel zum Schutz der Gesundheit auch den grundrechtlich geschützten Freiheitsrechten der Bürger Rechnung zu tragen. Auch dürfe der Staat die gesellschaftliche Akzeptanz angeordneter Maßnahmen berücksichtigen und sich insbesondere auch für ein behutsames und wechselndes Vorgehen im Sinne langfristig wirksamen Lebens- und Gesundheitsschutzes entscheiden.

Kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf konkrete Beschränkungen

Eine andere Beurteilung ergibt sich nach Auffassung des BVerfG auch nicht aus fachwissenschaftlichen Studien. Diese Studien befassen sich nach Beurteilung der Verfassungsrichter lediglich mit unterschiedlichen Prognoseszenarien. Ein Anspruch auf konkrete Beschränkungsmaßnahmen lasse sich in der aktuellen Situation, in der der Staat abwägend Beschränkungen anordnet bzw. lockert, aus dem Verfassungsrecht nicht ableiten. Die Verfassungsbeschwerde sei daher offensichtlich unbegründet und nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Jüngerer Beschwerdeführer will Beschränkungen nur für Ältere

Ähnliche Erwägungen, aber mit gegenteiliger Stoßrichtung, führten die Verfassungsrichter zur Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde des jüngeren Beschwerdeführers. Dieser machte geltend, die durch die dritte und vierte bayerische InfektionsschutzmaßnahmenVO verfügten Beschränkungen verletzten die Grundrechte der Nicht-Risikogruppen. Für Personen, die jünger als 60 Jahre sind, seien die Maßnahmen unverhältnismäßig. Die Gefährdung dieses Personenkreises durch das Coronavirus sei nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht höher als bei den jährlich auftretenden Influenzaviren.

Staat darf solidarisches Handeln einfordern

Die Verfassungsbeschwerde geht nach Auffassung der Verfassungsrichter schon im Ansatz von einer fehlerhaften Grundannahme aus. Entgegen den Vorstellungen des Beschwerdeführers sei der Staat nicht verpflichtet, den Schutz besonders gefährdeter Personengruppen allein durch Begrenzungen deren eigener Freiheit zu bewerkstelligen. Der Staat dürfe zum Schutz besonders gefährdeter Personengruppen auch den weniger gefährdeten Menschen Freiheitsbeschränkungen auferlegen, wenn hierdurch den stärker gefährdeten Gruppen ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden könne.

Gestaltungsspielraum wird mit zunehmendem Zeitablauf geringer

Auch bei der Belastung verschiedener Personengruppen ist nach der Entscheidung des BVerfG der gesetzgeberische Spielraum für den Ausgleich widerstreitender Grundrechte zu berücksichtigen. Die Verfassungsrichter wiesen allerdings ausdrücklich darauf hin, dass dieser Spielraum im Laufe der Zeit geringer werden kann.

  • Besonders schwere Einschränkungen der Freiheitsrechte müsse der Verordnungsgeber bereits in der Verordnung klar befristen.
  • Außerdem sei der Verordnungsgeber verpflichtet, die Notwendigkeit der ergriffenen Einschränkungen kontinuierlich zu überprüfen und
  • er müsse unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse die Intensität der Beschränkungen ständig an die aktuellen Notwendigkeiten anpassen.

Diesen Erfordernissen ist der bayerische Verordnungsgeber nach Einschätzung des BVerfG durch eine Vielzahl beschlossener Erleichterungen aber bisher gerecht geworden.

Verfassungsbeschwerde unsubstantiiert

Inwieweit die Einschränkungen für den Beschwerdeführer vor diesem Hintergrund weiterhin unverhältnismäßig sein sollen, hatte dieser nach Auffassung der Verfassungsrichter in seiner Verfassungsbeschwerde nicht substantiiert dargelegt. Auch diese Verfassungsbeschwerde wurde daher gar nicht erst zur Entscheidung angenommen.

(BVerfG, Beschluss v. 12.5.2020, 1 BvR 1027/20 u. Beschluss v. 13.5.2020, 1 BvR 1021/20).

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Hintergrund:

Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hat der Staat in kürzester Zeit eine ungeheure Zahl von Beschränkungen der Freiheitsrechte der Bürger verfügt und einen totalen Shutdown des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens in die Wege geleitet. Verstöße wurden und werden mit zum Teil harten Bußgeldern oder sogar als Straftat geahndet.

Schlagworte zum Thema:  Coronavirus, Bundesverfassungsgericht