BVerfG weist alle Verfassungsbeschwerden zur Bundesnotbremse ab

Die mit dem 4. Bevölkerungsschutzgesetz verhängten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wie auch die Schulschließungen waren nach überraschend eindeutigen Entscheidungen des BVerfG nicht verfassungswidrig.

Die jetzt veröffentlichten Grundsatzentscheidungen BVerfG sind sowohl in ihrem Tenor als auch in den Begründungen überraschend eindeutig. Quintessenz: Der Gesetzgeber hat alles richtig gemacht. Die mit dem „4. Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ verfügten Freiheitsbeschränkungen der Bundesbürger waren sämtlich verfassungsgemäß.

BVerfG hat ohne mündliche Verhandlung zur Notbremse entschieden

Der erste Senat des BVerfG hat aus Gründen der Zeitersparnis auf die Durchführung einer Hauptverhandlung verzichtet, was von einigen Juristen deutlich kritisiert wird. Er hat allerdings zur Vorbereitung der Entscheidung die Stellungnahmen von Sachverständigen aus verschiedenen Fachgebieten wie der Infektiologie, der Epidemiologie, der Virologie, der Aerosolforschung, der Intensivmedizin, der Pädiatrie sowie aus den Bereichen Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft eingeholt.

Wesentlicher Inhalt der Bundesnotbremse

Zur Erinnerung: Mit Erlass der vom 23.4.2021 bis zum 30.6.2021 geltenden Bundesnotbremse wurden bei

  • Ausgangssperren in der Zeit von 22:00 Uhr abends bis 5:00 Uhr morgens,
  • der Distanzunterricht in Schulen,
  • Kontaktbeschränkungen auch im privaten Bereich,
  • die Schließung von Freizeit- und Kultureinrichtungen,
  • Schließungen weiter Bereiche des Einzelhandels,
  • der Gastronomie sowie der Beherbergungsbetriebe verhängt.

Diese Themenkomplexe waren Gegenstand der vom BVerfG getroffenen Entscheidungen.

Die BVerfG-Entscheidungen zur Notbremse im Einzelnen

Insgesamt hat der erste Senat des BVerfG die vom Gesetzgeber im Rahmen der Bundesnotbremse verfügten Freiheitsbeschränkungen der Bürger als mit der Verfassung vereinbar bewertet. Dabei haben die Verfassungsrichter die Beurteilungs- und Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Regelung von Schutzmaßnahmen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die Bevölkerung im Spannungsfeld verschiedener Grundrechte betont und dabei den Gesundheitsschutz als ein überragendes Rechtsgut eingestuft, das die verfügten Freiheitsbeschränkungen letztlich rechtfertigt.

Die bußgeldbewehrten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen

Die Verfassungsrichter haben die in den neu eingefügten § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG sowie in § § 28 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG verfügten bußgeldbewehrten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen als mit dem GG vereinbar bewertet, da diese dem Schutz des überragend hochrangigen Rechtsgutes Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems dienten. Die zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes bestehende äußerste Gefahrenlage der Pandemie habe den Gesetzgeber zu den massiven Eingriffen in Grundrechte der Bundesbürger berechtigt.

Kontaktbeschränkungen beeinträchtigen diverse Grundrechte

Der Senat erkannte an, dass die verhängten Kontaktbeschränkungen in das nach Art. 6 GG geschützte Familiengrundrecht und in die Ehegestaltungsfreiheit sowie in das gemäß Art. 2 Abs. 1 GG gewährte Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit massiv eingegriffen haben. Diese Eingriffe seien jedoch im Hinblick auf den verfolgten Schutz des überragenden Rechtsgutes der Gesundheit der Bevölkerung gerechtfertigt gewesen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber in einer solchen Gefahrenlage ein vom Verfassungsgericht nicht zu überprüfender Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zustehe.

Maßnahmen auf wissenschaftlich unsicherer Grundlage

Der gesetzgeberische Gestaltungsakt sei umso gewichtiger, als die wissenschaftliche Erkenntnislage zur Pandemie mit erheblichen Unwägbarkeiten verbunden gewesen sei und der Gesetzgeber sich nach Kräften bemüht habe, bei seiner Prognose der zu erwartenden Entwicklung der Pandemie die wissenschaftlichen Erkenntnisse so weit wie möglich einzubeziehen. In verschiedenen Sachverständigenanhörungen habe der Gesetzgeber sich mit den fachlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidungen befasst und hierbei insbesondere die Erkenntnisse des RKI einbezogen. Dies sei nicht zu beanstanden.

Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren waren geeignete Maßnahmen

Unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Grundlagen zum damaligen Zeitpunkt waren nach Auffassung des BVerfG sowohl die verhängten Kontaktbeschränkungen als auch die Ausgangssperren geeignete Mittel zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung gewesen sowie zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems, da diese Maßnahmen nach dem Stand der Wissenschaft zur Eindämmung der Verbreitungswege des Virus hätten beitragen können.

Maßnahmen waren verhältnismäßig

Nach der Bewertung des Senats waren zur Kontaktbeschränkungen als auch Ausgangssperren auf verhältnismäßig. Einerseits habe der Gesetzgeber die harten Maßnahmen der Bundes Notbremse zeitlich bis zum 30.6.2021 befristet, darüber hinaus habe das Gesetz sowohl bei den Kontaktbeschränkungen als auch bei den Ausgangsbeschränkungen eine ganze Reihe von Ausnahmen beispielsweise für die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts, zur Durchführung unaufschiebbar Betreuungsmaßnahmen für unterstützungsbedürftige Personen oder Minderjährige zugelassen und damit die Intensität des Eingriffs abgemildert.

Verfassungsbeschwerden gegen Schließungsverfügungen waren unzulässig

Soweit die Beschwerdeführer Maßnahmen des Gesetzgebers zur Schließung von Freizeit- und Kultureinrichtungen, Ladengeschäften, Sport- und Gaststätten angegriffen haben, hat das BVerfG diese als mangelhaft begründet und als nicht zulässig erhoben zurückgewiesen (BVerfG Beschluss v. 19.11.2021, 1 BvR 889/21; 1 BvR 860/21; 1 BvR 854/21 u.a.)

Schulschließungen waren nicht grundgesetzwidrig

Die Verfassungsbeschwerden zu den verfügten Schulschließungen hat das BVerfG mit ähnlicher Begründung im Hinblick auf das überragende Rechtsgut des Lebens- und Gesundheitsschutzes zurückgewiesen. Die beschwerdeführenden Schüler:innen rügten insbesondere die Verletzung eines Rechtes auf Bildung. Die Eltern machten unter anderem geltend, dass ihr nach Art. 6 Abs. 1 GG geschütztes Recht auf freie Gestaltung des Familienlebens durch das Verbot von Präsenzunterricht unverhältnismäßig beeinträchtigt worden sei.

BVerfG postuliert Recht der Kinder auf Bildung

Erstmals hat das BVerfG ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf Bildung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG abgeleitet. Dieses Recht beinhalte einen

"Anspruch der Kinder und Jugendlichen auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten".

Schulschließungen mit erheblichen negativen Folgen

In dieses Recht auf Bildung haben die Schulschließungen nach der Bewertung des BVerfG in schwerwiegender Weise eingegriffen. Diese Sicht begründete der Senat nicht zuletzt mit einer ganzen Reihe von sachkundigen Stellungnahmen aus den Bereichen Pädagogik und Familienpsychologie. Insbesondere habe der Wegfall des Präsenzunterrichts Lernrückstände bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien in besonderer Weise gefördert und zu einer erheblichen Belastung der familiären Verhältnisse geführt.

Coronavirus

Auch hier überragendes Rechtsgut der Gesundheit

Der Senat bewertete die Anordnung der Schulschließungen gemäß § 28 b Abs. 3 IfSG als Bestandteil des Gesamtschutzkonzepts innerhalb eines ganzen Maßnahmenbündels zum Schutz überragend wichtiger Rechtsgüter. Auch die Schulschließungen hätten der Begrenzung zwischenmenschlicher Kontakte und damit dem Zweck des Schutzes von Leben und Gesundheit der Allgemeinheit sowie der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gedient. Das Verbot des Präsenzunterrichtes sei gemessen an dem damaligen Sach- und Erkenntnisstand ein geeignetes Mittel zur Förderung dieses Gesundheitsschutzes gewesen.

Schulschließungen waren verhältnismäßig

Der Senat bewertete die Schulschließungen als angemessen. Zum einen habe der Gesetzgeber Schulschließungen an eine besonders hohe 7-Tage-Inzidenz von 165 geknüpft. Die Eingriffe in die in die Eingriffsintensität habe der Gesetzgeber dadurch gemindert, dass es den Ländern freigestanden habe, Abschlussklassen und die Förderschulen von dem Verbot des Präsenzunterrichts auszunehmen.

Den Ländern sei auch die Möglichkeit eingeräumt worden, eine Notbetreuung einzurichten, um besonders sozial schwache Schüler zu fördern. Darüber hinaus sei die Möglichkeit der Einrichtung des Distanzunterrichts, teilweise digital, teilweise durch Zurverfügungstellung von schriftlichen Aufgabenstellungen eingeräumt worden. Schließlich habe der Bund den Ländern im Rahmen des Digitalpakts Schule Finanzhilfen in Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden Euro gewährt, um die Rahmenbedingungen zur Durchführung des digitalen Unterrichts zu verbessern.

Start muss Negativfolgen abmildern

Der Senat betonte in diesem Zusammenhang allerdings, dass das staatliche Förderungs- und Schutzgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG diesen verpflichtet, die nachteiligen Folgen der Schulschließungen für die Familien und die Teilhabe der Eltern am Arbeitsleben durch Maßnahmen zur Familienförderung auszugleichen. Dieser Pflicht hat der Staat nach Einschätzung des Senats allerdings in hinreichendem Maße Genüge getan.

Hierzu gehört auch der nach § 56 Absatz 1a Satz 1 Nr. 1 IfSG bestehende Anspruch auf Entschädigung erwerbstätiger Eltern, die wegen Betreuung ihrer Kinder nicht arbeiten konnten sowie die Erweiterung des Anspruchs gesetzlich Versicherter auf Krankengeld wegen der Betreuung erkrankter Kinder gemäß § 45 Absatz 2a Satz drei SGB V.

Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen

Im Ergebnis waren die verfügten Schulschließungen nach der Entscheidung des BVerfG daher verfassungsgemäß und die hiergegen eingelegten Verfassungsbeschwerden nicht erfolgreich.

(BVerfG, Beschluss v. 19.11.2021, 1 BvR 971/21; 1 BvR 1069/21).

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