Einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht ist verfassungskonform

Große Enttäuschung für alle Impfverweigerer. Das BVerfG hat die Pflege-Impfpflicht gebilligt und die hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerden von Beschäftigten in der Pflege, aber auch von Trägern von Pflegeeinrichtungen abgewiesen. Dennoch könnte sich in der Praxis sowohl die Entscheidung der Verfassungsrichter als auch das Gesetz als Sturm im Wasserglas erweisen, denn das Gesetz zur partiellen Impfpflicht läuft zum Jahresende aus. Bis dahin stehen die Chancen nicht schlecht, dass impfunwillige Mitarbeiter im Pflegebereich sich unter geschickter Ausnutzung der gesetzlich vorgesehenen Verfahren ohne Impfung durchmogeln.

Nachdem der Fokus der Diskussion in Deutschland um die Impfpflicht lange auf der von Bundeskanzler Scholz propagierten Einführung einer allgemeinen Impfpflicht lag, wird in Zeiten fallender Inzidenzen darüber schon kaum mehr diskutiert. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht wurde im Dezember 2021 in der sich aufbäumenden vierten Welle der Corona-Pandemie beschlossen und gilt seit 15. März 2022 in Form des § 20a IfSG.

Was genau beinhaltet die partielle Impfpflicht?

Tatsächlich ist der Begriff „Impfpflicht“ irreführend. Regelrecht verpflichtet zur Impfung wird nämlich niemand. Gemäß § 20a IfSG müssen u.a. Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeheimen ihrem Arbeitgeber mit Ablauf des 15.3.2022 einen Impf- oder Genesenennachweis vorlegen. Es gilt also genau genommen keine Impf-, sondern nur eine Nachweispflicht. Mitarbeiter, die nach dem 15.3.2022 in einer entsprechenden Einrichtung angestellt wurden, mussten bereits vor Beginn ihrer Tätigkeit diesen Nachweis vorlegen.

Form des Nachweises, Ausnahme von der Nachweispflicht

Der Nachweis der vollständigen Impfung/Genesung erfolgt durch Vorlage des Impfpasses, des digitalen Impf-Codes oder des mit Labordaten versehenen Genesenen-Nachweises (§ 20a Abs. 2 IfSG). Der Nachweis ist von den Arbeitgebern zu kontrollieren und zu dokumentieren, vorzugsweise in der Gesundheitsakte. Ausnahme: Können Beschäftigte ein ärztliches Zeugnis beibringen, wonach sie aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden dürfen, entfällt die Pflicht. Das Vorlegen von gefälschten oder Gefälligkeitsattesten kann arbeits- und strafrechtliche Folgen haben. 

Sanktionsmöglichkeiten der Behörden

Verletzt der Arbeitnehmer die Pflicht zur Vorlage eines deutschen Nachweises, so ist der Arbeitgeber verpflichtet, das Gesundheitsamt zu informieren. Dieses kann gegen den betreffenden Arbeitnehmer ein Betretungs- oder Arbeitsverbot oder auch ein Bußgeld verhängen. Impfverweigerer müssen diese gesetzlich normierten unangenehmen Folgen in Kauf nehmen, sind aber nicht im Rechtssinne zur Impfung verpflichtet.

Mögliche arbeitsrechtliche Folgen

Die Missachtung der Verpflichtung aus § 20a IfSG verletzt arbeitsvertragliche Pflichten. Wurde ein behördliches Beschäftigungsverbot erteilt, kann eine personenbedingte ordentliche Kündigung wegen mangelnder persönlicher Eignung erfolgen. Die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers dürfte in diesen Fällen entfallen.  Auch ohne Beschäftigungsverbot kann die Einrichtung arbeitsrechtlich mit Abmahnung und verhaltensbedingter, evtl. sogar fristloser Kündigung reagieren.

Sanktionen für Einrichtungen und Beschäftigte

Verletzen Arbeitgeber ihre Verpflichtungen im Zusammenhang mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht und beschäftigen etwa Mitarbeiter trotz eines Beschäftigungsverbots weiter, handeln sie ordnungswidrig und können seit dem 15.3.2022 mit Geldbußen von bis zu 2.500 EUR sanktioniert werden. Auch Beschäftigte, die gegen die Impfpflicht verstoßen, etwa durch Fälschungen oder Missachtung des Beschäftigungsverbots, handeln ordnungswidrig und können Bußgelder bis zur gleichen Höhe nach dem IfSG erhalten und bei Fälschungen von Impfnachweisen auch Straftatbestände des StGB erfüllen. Der Bußgeldrahmen des IfSG erstreckt sich für besonders gravierende Konstellationen sogar auf bis zu 25.000 EUR (§ 73 Abs. 2 IfSG).

Schon die Eilanträge wurden zurückgewiesen

Angesichts mehrerer Eilanträge hat das BVerfG sich bereits Mitte Februar mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht befasst und die Eilanträge im Rahmen einer Rechtsfolgenabwägung mit der Begründung zurückgewiesen, dass die möglichen schädlichen Folgen einer stattgebenden Entscheidung für die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung wesentlich gravierender wären als die Folgen einer Antragszurückweisung für die Antragsteller. Außerdem sei eine rechtlich fundierte Prüfung der Rechtmäßigkeit der partiellen Impfpflicht in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich, diese müsse dem Hauptverfahren vorbehalten werden.

Schutzbedürftigkeit vulnerabler Gruppen stand im Fokus der Verfassungsrichter

Nun hat das BVerfG im Hauptverfahren die Verfassungsbeschwerden endgültig zurückgewiesen. Die Begründung des BVerfG ist nicht überraschend, sondern schließt an die Zurückweisungsbegründungen in den Eilverfahren an. Der zentrale Gesichtspunkt für die Entscheidung des BVerfG ist die Schutzbedürftigkeit der besonders gefährdeten Menschen in Pflegeeinrichtungen, also der Schutz vulnerabler Gruppen.

Impfpflicht ist schwerer Grundrechtseingriff

In seiner Entscheidung stellte das BVerfG zunächst fest, dass die partielle Impfpflicht einen schwerwiegenden Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte körperliche Unversehrtheit und auch in die nach Art. 12 GG geschützte Berufsfreiheit beinhaltet. Als zielgerichteter Eingriff in die körperliche Unversehrtheit setzt die COVID-19-Impfung – wie jeder ärztlicher Eingriff – eine Einwilligung des Betroffenen nach ärztlicher Aufklärung voraus. Die Ablehnung einer solchen Einwilligung sei den Betroffenen nach dem Gesetz zwar im Prinzip freigestellt, jedoch übe das Gesetz durch die ebenfalls kodifizierten sachlichen und rechtlichen Zwänge erheblichen Druck auf die Entscheidung der Betroffenen aus. Bei Fortsetzung ihrer beruflichen Tätigkeit müssten sie mit Bußgeldern und Tätigkeitsverboten rechnen. Alternativ bliebe ihnen lediglich die Aufgabe des ausgeübten Berufs oder ein Wechsel des Arbeitsplatzes.

Schutz gefährdeter Personen ist überragendes Gemeinschaftsgut

Trotz dieser nicht unerheblichen Grundrechtseingriffe müssen nach der Entscheidung des BVerfG die grundsätzlich schützenswerten Rechtsgüter der Beschwerdeführer gegenüber dem vom Gesetzgeber verfolgten überragend wichtigen Gesetzeszweck des Schutzes besonders gefährdeter Personen zurücktreten. Den Schutz der vulnerablen Gruppen vor den gesundheitlichen Gefahren einer Ansteckung mit dem COVID-19-Virus habe der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums als gegenüber dem Schutz der Grundrechte der Antragsteller vorrangig bewerten dürfen.

Omikron hat nichts geändert

Besonderen Wert legte das BVerfG auf die Feststellung, dass das Auftreten der Omikron-Variante des COVID-19-Virus nicht geeignet sei, diese Einschätzung grundlegend zu ändern. Auch in diesem Punkt sei die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zu berücksichtigen, der zu Recht habe annehmen dürfen, bei älteren und immunsupprimierten Personen bestehe ein erhöhtes Risiko für eine Infektion auch unter der Omikron-Variante, da diese Personen auf Impfungen grundsätzlich weniger gut ansprechen. Diese Einschätzung sei im Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes durch eine Verschärfung der pandemischen Lage getragen worden. Diese Einschätzung gelte aber – in abgeschwächter Form – auch weiterhin unter der zur Zeit verbreiteten Omikron-Variante. Dies hätten die im verfassungsrechtlichen Verfahren angehörten Fachgesellschaften bestätigt. Wissenschaftlich bestehe weitgehend Konsens, dass bei den vulnerablen Gruppen weiterhin von einer hohen Gefahr schwerer Krankheitsverläufe auch unter Omikron auszugehen sei.

Gesetzliche Regelung geeignet und erforderlich

Die gesetzlich geregelte Nachweispflicht ist nach Auffassung des BVerfG unter präventiven Gesichtspunkten zum Schutz vulnerabler Gruppen auch zur Gefahrenabwehr geeignet und erforderlich. Ein milderes Mittel zu deren Schutz sei nach Einschätzung der Sachverständigen nicht erkennbar. An dieser Stelle sah das Gericht eine Relativierung der gesetzlich normierten Grundrechtseingriffe darin, dass § 20a IfSG keinen hoheitlich umsetzbaren Impfzwang begründet, sondern den Betroffenen letztlich die Entscheidung darüber überlässt, ob sie die geforderten Nachweise erbringen oder nicht. Durch diese Form der Regelung zeige der Gesetzgeber, dass er die letzte Entscheidung über die Impfung aus Respekt vor der Entscheidungsfreiheit der Betroffenen diesen selbst überlasse, wenn auch gegebenenfalls unter Inkaufnahme der damit verbundenen beruflichen Nachteile.

Sämtliche Regelungen sind verfassungskonform

Im Ergebnis sind die gesetzlich normierten Regelungen zur Nachweispflicht nach der Entscheidung des BVerfG daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. (BVerfG, Beschluss v. 27.4.2022, 1 BvR 2649/21).

Impfpflicht gesellschaftlich nach wie vor umstritten

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat die Entscheidung des BVerfG als umsichtig und ausgewogen begrüßt. Die „Deutsche Krankenhausgesellschaft“ (DKG) fordert demgegenüber die Aussetzung der partiellen Impfpflicht. Im Hinblick auf das politische Scheitern der allgemeinen Impfpflicht sei die nun eingetretene Beschränkung der Impfverpflichtung auf Personen im Pflegebereich unangemessen und nicht nachzuvollziehen.

Die allgemeine Impfpflicht ist bis auf weiteres vom Tisch

Über die ursprünglich von Bundeskanzler Olaf Scholz favorisierte allgemeine Impfpflicht wird kaum noch gesprochen. Politisch ist sie wohl gescheitert. Nach einer ersten Orientierungsdebatte im Bundestag Ende Januar 2022 und einer ersten Lesung im Bundestag Mitte März hat am 22.3. der Gesundheitsausschuss über die Impfpflicht beraten. Nach der ersten Lesung im Bundestag war bereits klar, dass der Entwurf für ein „Gesetz zur Aufklärung, Beratung und Impfung aller Volljährigen“ ohne ein Einlenken der Union nicht durchsetzbar war. Am Ende hatte der Vorschlag einer allgemeinen Impfpflicht ab 18 keine Chance mehr. So kam es in den letzten Tagen unmittelbar vor der Abstimmung im Bundestag zu einem von Abgeordneten der SPD, der Grünen und der FDP vorgelegten Kompromissvorschlag, der auch für die CDU akzeptabel sein sollte, es dann aber nicht war.

Die Anträge, über die der Bundestag abgestimmt hat

Am 07.04.2022 lagen dem Bundestag folgende Gruppenanträge zur Abstimmung vor:

  • Antrag der AfD: Ablehnung jeglicher Impfpflicht plus Rücknahme des Gesetzes zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht.
  • Antrag Abgeordnetengruppe um Wolfgang Kubicki: Ablehnung der allgemeinen Impfpflicht ergänzt durch Maßnahmen zur Aufklärung und Erhöhung der Impfbereitschaft in der Bevölkerung.
  • Gruppenantrag CDU/CSU: Vorab Implementierung eines allgemeinen Impfregisters, ergänzt durch die Einführung eines nach Alters- und Berufsgruppen abgestuften Impfmechanismus, der je nach Pandemie-Lage kurzfristig aktiviert werden könnte.
  • Kompromissvorschlag von Ampelabgeordneten: Einführung einer Impfpflicht ab Oktober 2022 für Personen ab 60 Jahre; Option des Aussetzens der Impfpflicht im Fall eines deutlichen Anstiegs der Impfquote; Pflicht zur Beratung über die Vor- und Nachteile einer Coronaimpfung für alle Personen ab 18 Jahre.

Der deutsche Hausärzteverband hat sich insoweit vehement gegen eine „Zwangsberatung“ in den Arztpraxen und der damit verbundenen Belastung der Hausärzte ausgesprochen.

Sogar die Abstimmungsreihenfolge war umstritten

Selbst die Reihenfolge der Abstimmung über die Gruppenanträge war zwischen den Fraktionen hochumstritten. Im Ergebnis hat die Ampelmehrheit nicht durchsetzen können, dass über den von Abgeordneten der Ampel vorgelegten Kompromissantrag als letztes abgestimmt wird. Sie hatte damit die Hoffnung verknüpft, dass einige Abgeordnete der CDU-Fraktion im Fall der Ablehnung ihres Antrags dann doch noch für den Kompromissantrag stimmen oder sich zumindest der Stimme enthalten würden.

Kein Fraktionszwang bei der Impfpflicht

Über die allgemeine Impfpflicht wurde im Bundestag ohne Fraktionszwang abgestimmt, dennoch hat die CDU/CSU-Fraktion wohl geschlossen gegen den von einigen Abgeordneten der Ampel vorgelegten Kompromissantrag gestimmt, so dass im Ergebnis keiner der vorgelegten Anträge eine Mehrheit erreichte. Gegen den Kompromissantrag stimmten 378 Abgeordnete, 296 stimmten mit Ja, neun enthielten sich.

Endgültig ist das Aus für die Impfpflicht noch nicht

Da keiner der Anträge zur Impfpflicht die erforderliche Mehrheit im Parlament errungen hat, ist die allgemeine Impfpflicht jedenfalls politisch erst einmal gescheitert. Das heißt aber nicht, dass die Diskussion zu diesem Thema endgültig beendet wäre. Spätestens wenn die Infektionszahlen wieder nach oben weisen oder eine Überlastung des Gesundheitssystems droht, könnte die Diskussion wieder aufleben. Ob das zum nächsten Herbst oder Winter tatsächlich wieder geschieht, kann zur Zeit niemand voraussehen. Spannend wird die Entwicklung zum Herbstanfang ohnehin, denn am 23.9.2022 laufen auch die letzten Corona-Schutzmaßnahmen nach dem IfSG aus und auch das dürfte weitere politische Diskussionen auslösen.

Partielle Impfpflicht läuft zum 31.12.2022 aus

Nicht nur die letzten Corona-Schutzmaßnahmen laufen im Herbst 2022 aus. Mit dem 31.12.2022 endet – jedenfalls nach jetzigem Stand – auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht, denn das Gesetz verfolgt in erster Linie den Zweck, die Impfquote in der Pflege kurzfristig zu erhöhen. Ob die partielle Impfpflicht vor diesem Hintergrund in der Realität ein probates Mittel ist, die Impfquote in Pflegeeinrichtungen nachhaltig zu erhöhen, erscheint zumindest fraglich. Nach der aktuellen Datenlage hat noch kein Gesundheitsamt von der Möglichkeit der Verhängung von Bußgeldern oder der Anordnung von Betretungs- oder Beschäftigungsverboten Gebrauch gemacht. Es wird offensichtlich noch geprüft. Die Verhängung von Sanktionen könnte also noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Viel Gestaltungsspielraum für Impfverweigerer

Verfahrensrechtlich ist vor Verhängung einer Sanktion die Anhörung des Betroffenen erforderlich. Gegen verhängte Maßnahmen kommen dann Widerspruch und weitere Rechtsmittel in Betracht. Das alles kostet eine Menge Zeit und bietet hartnäckigen Impfverweigerern durchaus die Chance, sich ohne Impfung bis in den Jahreswechsel zu retten. Am Schluss könnte sich dann die partielle Impfpflicht – ebenso wie die allgemeine Impfpflicht – doch noch als Rohrkrepierer erweisen. Wünschenswert wäre dieses Ergebnis nicht. Letztlich entscheidet auch hier – wie so oft – das Verantwortungsbewusstsein der Betroffenen.



Hintergrund: Umstrittene Zulässigkeit von Impfpflichten

Schon im Januar 2016 hat sich der wissenschaftliche Dienst des Bundestags Corona-unabhängig mit der Möglichkeit der Impfpflicht befasst und sah die Mauern nicht sonderlich hoch. Zweifel an der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht äußerte die Juristin Frauke Rostalski, die Mitglied des Deutschen Ethikrats ist. Diese betrafen insbesondere die unter 60-Jährigen: "Eine Impfpflicht für diejenigen, die kein erhöhtes Risiko aufweisen, mit Covid-19 auf der Intensivstation zu landen, lässt sich aus meiner Sicht generell nicht rechtfertigen."

Rechtsgrundlagen für eine SARS-CoV-2-Impfpflicht

Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, danach ist der Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zuständig für „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten beim Menschen“. Er hat davon im Infektionsschutzgesetz Gebrauch gemacht: § 20 Abs. 6 IfSG erlaubt eine Impfpflicht bei einer konkrete Bedrohungslage für Teile der Bevölkerung und setzt dafür den Erlass einer entsprechenden Rechtsverordnung voraus. Die Anordnung einer allgemeinen Durchimpfung der Gesamtbevölkerung gegen das Coronavirus wäre von der Rechtsnorm § 20 Abs. 6 IfSG ohne eine Änderung nicht gedeckt, eine Regelung dazu erforderlich.

§ 20 Abs. 6 IfSG würde als Grundlage für eine allgemeine Impfpflicht nicht ausreichen, da er nur Teilimpfungen zulässt. Zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht wäre daher entweder eine Änderung des § 20 Abs. 6 IfSG oder Einführung einer neuen gesetzlichen Vorschrift erforderlich. Eine solche Impfpflicht müsste an eng begrenzte Voraussetzungen gebunden sein, wie das Eintreten einer nationalen Notlage durch die epidemische Verbreitung einer übertragbaren Krankheit mit schweren Verlaufsformen.

Vereinbarkeit mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit

Die Impfpflicht könnte das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) verletzen. Dass eine Pflicht zur Impfung ein Eingriff in dieses Recht wäre, steht schon angesichts nicht völlig auszuschließender Impfschäden außer Frage. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG lässt einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit aber auf der Grundlage eines Gesetzes zu, wenn die darin enthaltenen Eingriffsbefugnisse verfassungsrechtlich zum Schutz anderer hochrangiger Rechtsgüter gerechtfertigt sind. Ob diese Voraussetzung vom BVerfG angesichts der jetzt getroffenen Entscheidung als erfüllt angesehen würde, ist schwer zu beantworten. Die jetzige Entscheidung betrifft die spezielle Situation in besonderen Pflegeeinrichtungen, in denen besonders gefährdete Personengruppen vorübergehend oder dauerhaft leben. Die vom BVerfG für diese besondere Situation aufgestellten Grundsätze sind daher nicht ohne weiteres auf die Gesamtbevölkerung übertragbar.

Der Eingriff müsste mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein, also zunächst erkennbar ein durch den Schutz eines hochrangigen Rechtsgutes legitimiertes Ziel verfolgen. Außerdem müssten Ausnahmen für Personen zugelassen werden, bei denen eine medizinische Indikation gegen eine Impfung spricht. Im Rahmen des Kampfes gegen die Verbreitung der Masern hat das BVerfG sich bereits zu einigen Voraussetzungen für eine allgemeine Impfpflicht positioniert. Ein Problem besteht darin, dass die Corona-Impfung – anders als bei der Impfung gegen Masern – nicht zur Ausrottung der Krankheit bzw. des Virus führt. Deshalb bezweifeln einige Verfassungsrechtler das Merkmal der Geeignetheit zur endgültigen Beendigung der Pandemie.

Die Nachteile der Impfung für die Betroffenen dürften die Vorteile der verfolgten Ziele nicht überwiegen. Dem Interesse der Gesundheitsvorsorge stehen die, in sehr seltenen Fällen auch bleibenden, Nebenwirkungen gegenüber. Die Zahl der Corona-Toten und schweren Verläufe lassen, insbesondere bei Berücksichtigung von Folgeschäden (psychische und wirtschaftliche Belastungen, verschobene OPs etc.), den Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit angemessen erscheinen. Doch auch in diesem Punkt wirft die Omikron-Variante neue Fragen auf.

Vereinbarkeit mit dem Schutz der Menschenwürde

Art. 1 Abs. 2 S. 1 GG schützt die Menschenwürde und untersagt es, Menschen zum Objekt staatlichen Handelns zu machen. Dieses Grundrecht scheint, in Anbetracht des Widerstandes, die Menschen stark umzutreiben und könnte auch erklären, dass in den Bundesländern der früheren DDR, welche bei Impfpflichten rigoroser war als die damalige Bundesrepublik, die Impfbereitschaft deutlich geringer ist. Doch wiegen auch hier die Verhinderung einer übertragbaren Krankheit mit schweren Verlaufsformen und Folgeschäden schwer. Deshalb scheint fraglich, dass eine Impfpflicht den

„Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt.“

(Vgl. BVerfG, Urteil v. 15. 2. 2006, 1 BvR 357/05)

Aber auch hier die Frage, ob diese Voraussetzungen unter der Omikron-Variante noch erfüllt sind.

Gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum

Einige Juristen verweisen darauf, dass das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Bundes-Notbremse vom 19.11.2021 (1 BvR 781/21, 1 BvR 889/21, 1 BvR 860/21, 1 BvR 854/21, 1 BvR 820/21, 1 BvR 805/21, 1 BvR 798/21) den großen Abwägungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont hat und dieser Grundsatz auch bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung einer Impfpflicht eine wichtige Rolle spielen könnte. Diesen Gestaltungsspielraum hat das BVerfG auch in seiner jetzigen Entscheidung zur partiellen Pflicht wiederum herausgestellt.  Dieser Hinweis ist daher nicht unbegründet, krankt aber an den zeitlichen wie personellen Besonderheiten der bisherigen Entscheidungen, die auf die Bedingungen der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht nicht ohne weiteres zu übertragen sind.

EU-Recht spricht nicht gegen eine nationale Impfpflicht

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hält eine nationale Impfpflicht für zulässig. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit könne im Interesse allgemeiner Gesundheitsvorsorge eine notwendige Maßnahme sein, vorausgesetzt der Staat hat zuvor sämtliche ihm zur Verfügung stehenden milderen Optionen zur Bekämpfung der Krankheit ausgeschöpft (EGMR, Urteil v. 8.4.2021, 47621/13). Der EGMR stellt klar, dass die Impfpflicht einen Grundrechtseingriff für die Betroffenen bedeutet. Dieser Eingriff sei aber zum Schutz des übergeordneten Interesses der Gesundheitsvorsorge gerechtfertigt. Bei der Ausgestaltung einer Impfpflicht stünde den einzelnen Staaten ein weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu.


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Schlagworte zum Thema:  Impfung, Politik, Grundgesetz