BVerfG: Masernimpfpflicht verstößt nicht gegen die Verfassung

Die Verfassungsbeschwerden gegen die faktische Pflicht zur Impfung gegen Masern waren erfolglos. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fordert allerdings eine einschränkende verfassungskonforme Auslegung der gesetzlichen Impfpflicht.

Der am 18.8.2022 veröffentlichte Beschluss des BVerfG betrifft mehrere Verfassungsbeschwerden minderjähriger Beschwerdeführer, die nicht gegen Masern geimpft sind und über keine Immunität gegen eine Masernerkrankung verfügen. Bei keinem der Beschwerdeführer besteht eine medizinische Kontraindikation gegen die Impfung.

Ohne Masernimpfung keine Kita-Betreuung

Mit ihren Verfassungsbeschwerden greifen die Beschwerdeführer § § 20 Abs. 8 Satz 1-3, Abs. 9 Satz 1 und 6, Abs. 12 Satz 1 und 3, Abs. 13 Satz 1 IfSG an. Diese Vorschriften verfügen eine Verpflichtung zum Nachweis einer Masernimpfung als Voraussetzung für die Betreuung in bestimmten Einrichtungen, darunter die Betreuung in Kitas oder in einer sonstigen erlaubnispflichtigen Kindertagespflege.

Beschwerdeführer rügen Verletzung ihrer Grundrechte

In dieser Verpflichtung sehen die Beschwerdeführer einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die sie vertretenden Eltern einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Elternrecht.

Impfpflicht impliziert schwerwiegende Grundrechtseingriffe

Das BVerfG konnte den Beschwerdeführern insoweit zustimmen, als die beanstandeten Regelungen des IfSG in mehrfacher Hinsicht in ihre Grundrechte eingreifen. Der mit Verletzung der Pflicht zum Nachweis der Masernimpfung verbundene Verlust praktisch sämtlicher Möglichkeiten der Inanspruchnahme staatlicher Betreuungsangebote sowie die dann fehlende Durchsetzbarkeit eines Anspruchs auf eine einrichtungsbezogene, frühkindliche Vorschulförderung führen nach der Bewertung des Senats im Ergebnis zu einer faktischen Pflicht der Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen. Das Elternrecht, sich in Ausübung der Gesundheitsvorsorge für ihr Kind gegen die Durchführung von Impfungen zu entscheiden, werde damit in erheblicher Weise tangiert.

Eingriff in die körperliche Unversehrtheit

Die infektionsrechtlichen Regelungen greifen nach der Bewertung des BVerfG zielgerichtet mittelbar in das Grundrecht der Beschwerdeführer auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein sowie in das Recht der Kinder auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG. Durch das Einbringen eines nicht erwünschten Impfstoffes in den Körper der Kinder werde deren körperliche Integrität in schwerwiegender Weise beeinträchtigt, zumal Nebenwirkungen der Impfung nicht völlig auszuschließen seien.

Grundrechtseingriffe durch Schutz hochrangiger Rechtsgüter gerechtfertigt

Das BVerfG weist dann aber darauf hin, dass sämtliche intendierten Grundrechte unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehen. Zum Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter dürfe der Gesetzgeber diese Grundrechte daher unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschneiden. Das bei Ausbleiben eines Impfnachweis eintretende Betreuungsverbot gemäß § 20 Abs. 9 Satz 6 IFSG verfolge den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, insbesondere vulnerable Gruppen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung zu schützen und die Verbreitung des Masernvirus in der Bevölkerung insgesamt einzudämmen. Angesichts der sehr hohen Ansteckungsgefahr bei Masern und den mit einer Masernerkrankung verbundenen Risiken eines schweren Verlaufs besteht eine beträchtliche Gefährdung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit Dritter. 

Gefahrenlage bei Masern wissenschaftlich abgesichert

Der Gesetzgeber sei aufgrund einer wissenschaftlich gesicherten Erkenntnislage zu Recht davon ausgegangen, dass von Personen, die keinen ausreichenden Impfschutz und/oder keine Immunität gegen Masern aufweisen, erhebliche Gefahren für das Leben und die Gesundheit anderer Personen ausgehen können. Dies gelte insbesondere für vulnerable Gruppen, also Personen, die sich aufgrund einer medizinischen Kontraindikation selbst nicht gegen eine Masernerkrankung schützen können. Diese Gefahr sei in Gemeinschaftseinrichtungen wie Kitas besonders hoch.

Abwägung Risiken und Nutzen der Masernimpfung

Demgegenüber ist nach Auffassung des BVerfG das Risiko von unerwünschten Neben- oder Spätfolgen einer Masernimpfung vergleichsweise gering. Das Eintreten eines echten Impfschadens ist mit dem Risiko ungeimpfter Personen, an Masern zu erkranken und infolge der Erkrankung zu versterben, abzuwägen. Die Eingriffe sowohl in das Elternrecht als auch in die körperliche Integrität der Kinder sind nach Bewertung des BVerfG deshalb grundsätzlich vom Zweck des Schutzes hochrangiger Rechtsgüter der Verfassung gedeckt.

Nachweispflicht ist geeignet, erforderlich und verhältnismäßig

Die vom Gesetzgeber statuierte Nachweispflicht sei auch geeignet und erforderlich, den gesetzgeberischen Zweck des Gesundheitsschutzes der Gesamtbevölkerung zu erreichen. Andere, weniger stark in die Grundrechte der Beschwerdeführer eingreifende Mittel, stünden zur effektiven Zielerreichung nicht zur Verfügung. Der Gesetzgeber habe die ihm zustehende Einschätzungsprärogative daher in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise durch Einführung der Impfnachweispflicht ausgeübt.

Problem der Kombinationsimpfstoffe

Das BVerfG legte besonderes Augenmerk auf die häufig zur Verfügung gestellten Kombinationsimpfstoffe, die weitere Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheitserreger enthalten. Soweit diese Mehrfachimpfstoffe Komponenten zum Schutz gegen eine Erkrankung an Mumps, Röteln und Windpocken enthalten, werden auch diese Kombinationsimpfstoffe nach Einschätzung des Senats von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfasst, da diese Impfstoffe bereits bei Erlass des Gesetzes verfügbar gewesen und vom Gesetzgeber mitbedacht worden seien. Die Einbeziehung dieser Kombinationsimpfstoffe halte sich angesichts der häufig ausschließlichen Verfügbarkeit dieser Kombinationsimpfstoffe im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung der Norm.

Eingriffsnorm ist verfassungskonform auszulegen

Da sowohl das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich unter Gesetzesvorbehalt stehen, darf in diese Rechte nur aufgrund eines ordnungsgemäß erlassenen Gesetzes eingegriffen werden. Vor diesem Hintergrund kann die Eingriffsnorm des § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nach der Entscheidung des Senats daher denklogisch nur den Einsatz solcher Impfstoffkomponenten gestatten, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bekannt waren. Die Eingriffsnorm sei daher verfassungskonform so auszulegen, dass Kombinationsimpfstoffe, die andere als die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bekannten Impfstoffe enthalten, gegen den Willen der Beschwerdeführer nicht eingesetzt werden dürfen.

Verfassungsbeschwerden abgewiesen

Im Ergebnis verletzt die Pflicht zum Nachweis einer Masernimpfung als Voraussetzung für die Aufnahme in bestimmte staatliche Betreuungseinrichtungen die Beschwerdeführer nicht in verfassungswidriger Weise in ihren Grundrechten.

(BVerfG, Beschluss v. 21.7.2022, 1 BvR 469/20, 1 BvR 470/20 u.a.)

Hintergrund:

Seit dem 1.3.2020 müssen Kinder, die die Schule oder eine Kita besuchen, nachweisen, dass sie gegen Masern geimpft sind. Dies gilt auch für die dort beschäftigten Personen, die nach 1970 geboren wurden.

Übergangsfristen abgelaufen

Wird kein Nachweis vorgelegt, drohen Konsequenzen. Der Kita Besuch wird Kindern untersagt, Eltern von Schulkindern müssen mit Bußgeldern bis zu 2500 Euro rechnen, Angestellten droht die Versetzung oder auch Kündigung. Zum 31.7.2022 sind für bereits in entsprechenden Einrichtungen befindliche Personen sämtliche Übergangsfristen abgelaufen.

Schlagworte zum Thema:  Bundesverfassungsgericht, Impfung