Das KG Berlin hatte sich mit der Frage zu befassen, ob in ärztlichen Attesten ein Mindestmaß an korrektem Deutsch erforderlich ist oder ob vor Gericht auch ärztliche Atteste zählen, die eine katastrophale Orthographie aufweisen.
Berufungsverhandlung wegen Verhandlungsunfähigkeit geschwänzt
Im konkreten Fall hatte eine wegen Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte verurteilte Angeklagte Berufung gegen ihre Verurteilung eingelegt. Den Hauptverhandlungstermin im Berufungsverfahren hatte sie wegen gesundheitlicher Beschwerden nicht wahrgenommen. Hierzu hatte der Verteidiger knapp 2 Stunden vor der angesetzten Berufungshauptverhandlung bei Gericht schriftlich die Aufhebung des Termins beantragt. Begründung: Erkrankung der Angeklagten an Gürtelrose, verbunden mit starken Schmerzen, Fieber und Abgeschlagenheit. Beigefügt war ein ca. 2 Wochen zuvor ausgestelltes ärztliches „Besuchsprotokoll“, das u.a. die Diagnose „starke Herpes am Geses“ enthielt.
Ärztliches Attest wegen katastrophaler Orthographie unbeachtlich?
Das für die Berufung zuständige LG zeigte sich von dem Inhalt des Attests wenig angetan und sah die diagnostizierte Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten als nicht hinreichend belegt an. Begründung des Gerichts: Das vorgelegte ärztliche Attest sei in einem katastrophalen Deutsch verfasst und wimmle dermaßen vor Rechtschreib- und Orthographiefehlern, dass erhebliche Zweifel an der Qualifikation des ausstellenden Arztes bestünden. Ein dermaßen schlecht geschriebenes Attest sei nicht geeignet, die Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten zu belegen. Das LG verwarf deshalb die Berufung wegen Nichterscheinens der Angeklagten als unzulässig.
Antrag auf Wiedereinsetzung
Die Angeklagte beantragte über ihren Verteidiger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte hierzu ein am Verhandlungstag erstelltes weiteres „Besuchsprotokoll“ vor, das eine nochmalige Untersuchung durch einen Arzt für Allgemeinmedizin bescheinigte. Dieses Besuchsprotokoll enthielt die Diagnosen „Herpes Zoster … Röttung … Körpertemperatur von 38,7° … Schmerzen li. Lendenwirbelbereich mit blasige Ausschlag. Letzte Tage Simpotome stärker geworden“.
Wiedereinsetzungsantrag erstinstanzlich zurückgewiesen
Das LG ließ sich auch von diesen Diagnosen nicht überzeugen. Wenn die Angeklagte am Verhandlungstag um 8.50 Uhr einen Arzttermin habe wahrnehmen können, so hätte sie auch zur Verhandlung erscheinen können - so das LG. Eine hinreichende Entschuldigung, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertige, sei darin nicht zu sehen. Auch hätte sie das 2. „Besuchsprotokoll“ ihrem Verteidiger noch vor der Hauptverhandlung auf digitalem Wege übermitteln können. Die nachträgliche Einreichung sei verspätet und daher unzulässig. Das LG wies den Wiedereinsetzungsantrag mit diesen Argumenten zurück.
Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten hinreichend belegt
Im Beschwerdeverfahren bewertete das KG den Vorgang anders. Das vorgelegte 2. Besuchsprotokoll stamme vom Verhandlungstag und weise neben vagen Symptomen ein Fieber der Angeklagten in Höhe von 38,7°, gemessen ca. 1 Stunde vor Beginn der Hauptverhandlung, aus. Dies lasse auf eine tatsächliche Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten schließen. Damit habe die Angeklagte gemäß §§ 329 Abs. 7, 44, 45 StPO hinreichend glaubhaft gemacht, an der Teilnahme an der Berufungsverhandlung ohne ihr Verschulden gehindert gewesen zu sein.
Deutschkenntnisse sagen nichts über ärztliche Qualifikation aus
Das KG stellte klar, dass eine katastrophale Orthographie und Grammatik eines ärztlichen Attests nicht den Schluss auf eine fehlende Qualifikation des ausstellenden Arztes und/oder eine inhaltliche Unrichtigkeit zulässt. Begriffe wie „Geses“, „Röttung“, „blasige Ausschlag“ oder „Simpotome“ ließen zwar auf mangelnde Deutschkenntnisse des Ausstellers schließen, nicht aber auf eine fehlende fachliche Qualität. Den bei der Vorinstanz offenbar entstandenen Zweifeln an der Echtheit der eingereichten Atteste und der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Angeklagten sei das LG nicht nachgegangen. Deshalb lägen belastbare Hinweise darauf, dass die Atteste möglicherweise falsch sind oder nicht von einem approbierten Arzt stammen, nicht vor. Im Ergebnis sei daher von der Echtheit auszugehen.
Auch nachträglich vorgebrachte Entschuldigungsgründe beachtlich
Auch die Argumentation des LG, die Angeklagte hätte das 2. „Besuchsprotokoll“ zu spät eingereicht, überzeugte das KG nicht. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verlange von der Angeklagten nicht, dass sie ihr Fernbleiben vom Termin genügend entschuldigt hat, vielmehr fordere das Gesetz lediglich, dass das Fernbleiben genügend entschuldigt ist. Dies sei auch dann gegeben, wenn die Entschuldigungsgründe mit Verzögerung vorgebracht würden.
Wiedereinsetzungsantrag erfolgreich
Im Ergebnis gab das KG dem Wiedereinsetzungsersuchen der Angeklagten trotz verbleibender Zweifel an der Echtheit der Atteste statt.
(KG Berlin, Beschluss v. 4.4.2025, 3 Ws 11/25