" … II. Das LG hat zu Recht einen Verstoß des Kl. gegen § 1 Abs. 2 StVO festgestellt, wodurch die Betriebsgefahr seines Pkws erhöht war. Er hätte nach der von den Bekl. zutreffend zitierten sog. “Lückenrechtsprechung' bei Annäherung an die Einmündung der Straße … in die … -Straße aufgrund des Rückstaus, der sich auf der rechten Spur der … -Straße gebildet hatte, besondere Sorgfalt walten lassen müssen. Da er dagegen verstoßen hat, kann er auch unter Berücksichtigung des Vorfahrtsverstoßes der Bekl. zu 1 Ersatz der materiellen Schäden nur mit einer Anspruchsberechtigung von 75 % geltend machen. Die Berufung, mit der er Ersatz der von ihm geltend gemachten materiellen Schäden mit einer höheren Haftungsquote als 75 % weiterverfolgt, unterliegt daher der Zurückweisung."

Im Einzelnen ist folgendes auszuführen:

1. Gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das BG seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (BGHZ 164, 330 = NJW 2006, 152 = NZV 2006, 73; Senat r+s 2015, 621).

2. Der Anspruch des Kl. gegen die Bekl. auf Schadensersatz aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls ergibt sich aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG. Die Voraussetzungen sind unstreitig erfüllt. Bei dem Betrieb des von der Bekl. zu 1 geführten Pkws, dessen Halterin sie war und der bei der Bekl. zu 2 haftpflichtversichert war, ist der Pkw des Kl. beschädigt worden. Der Unfall ist nicht durch höhere Gewalt gem. § 7 Abs. 2 StVG verursacht worden.

Da der Kl. seinerseits gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG schadensersatzpflichtig ist und auch eine Unabwendbarkeit des Unfallereignisses i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG für keinen Beteiligten in Rede steht – der Kl. hat sogar ausdrücklich die vom LG festgestellte Nicht-Unabwendbarkeit nicht angegriffen –, bestimmt sich der Umfang der Haftung nach Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteilen, §§ 17, 18 StVG.

Bei dieser Abwägung dürfen nur unstreitige, zugestandene oder nach § 286 ZPO bewiesene Umstände berücksichtigt werden, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben (BGH NJW 2016, 1100 = NZV 2016, 168). Jede Partei trägt dabei die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich zu Lasten der anderen Partei eine Erhöhung der Betriebsgefahr ergibt (vgl. BGH NJW 1996, 1405 = NZV 1996, 231; Senat, Urt. v. 19.1.2010 – I-1 U 89/09, BeckRS 2010, 15810).

3. Im Rahmen dieser Abwägung kann zu Lasten des Kl. nicht nur die allgemeine Betriebsgefahr seines Pkws berücksichtigt werden. Diese Betriebsgefahr war aufgrund eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO erhöht.

a) Auch wenn nach den fehlerfrei getroffenen und nicht angegriffenen Feststellungen des LG ein Rotlichtverstoß des Kl. nicht bewiesen ist, so hatte der Kl. an der nur zweifarbigen Lichtzeichenanlage (§ 37 Abs. 2 Nr. 3 StVO), der Vorschaltampel, kein “Grünlicht', sondern war (nur) aufgrund des Zeichens 306 an der Einmündung der Straße … vorfahrtsberechtigt.

b) Dieses Vorfahrtsrecht entband den Kl. aber nicht von der aus § 1 Abs. 2 StVO folgenden Verpflichtung, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zu vermeiden (vgl. auch § 11 Abs. 3 StVO). Eine besondere Sorgfalt beim Vorbeifahren an dem Lkw auf der linken Spur der … -Straße war hier deshalb von dem Kl. zu fordern, weil der Verkehr auf der rechten Spur der … -Straße vor der Kreuzung … -Straße/… stand und insb. der Lkw vor der Einmündung der Straße … zum Stehen gekommen war. Aus dieser “Lücke' heraus hat die Bekl. zu 1 versucht, nach links abzubiegen. Damit hätte der Kl. rechnen müssen.

aa) Kommt eine Fahrzeugreihe vor einer Einmündung ins Stocken, dann muss derjenige Verkehrsteilnehmer, der diese Reihe überholen will, mit dem Vorhandensein für ihn unsichtbarer Hindernisse rechnen und seine Geschwindigkeit darauf einrichten (BGH VersR 1969, 756 = BeckRS 1969, 30394167). An diese Entscheidung des BGH knüpft die in der obergerichtlichen Judikatur entwickelte sog. “Lückenrechtsprechung' an. Danach muss ein vorfahrtberechtigter Verkehrsteilnehmer, der an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne links vorbeifährt, bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne achten. Er hat sich darauf einzustellen, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden. Er muss zudem damit rechnen, dass der eine solche Lücke ausnutzende Verkehrsteilnehmer nur unter erheblichen Schwierigkeiten an der haltenden Fahrzeugschlange vorbei Einblick in den parallel verlaufenden Fahrstreifen nehmen und das Verkehrsverhalten der dort befindlichen Fahrzeugführer beobachten kann. Er darf sich der Lücke daher nur mit voller Aufmerksamkeit und unter Beachtung ein...

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