"… [7] II. 1. Der rechtliche Ausgangspunkt des AG, dass sowohl die Bekl. als auch die Kl. grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7,17 I, II, 18 I StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 III StVG darstellte, wird von der Berufung nicht in Zweifel gezogen."

[8] 2. Das Erstgericht hat in die danach gebotene Haftungsabwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile gem. § 17 I, II StVG einen der Beklagtenseite zuzurechnenden Verstoß gegen § 4 I 2 StVO eingestellt, da das Fahrschulauto ohne zwingenden Grund stark abgebremst worden sei. Dies nimmt die Berufung hin.

[9] 3. Ferner hat der Erstrichter einen der Kl. zuzurechnenden Verstoß gegen § 4 I 1 StVO aufgrund unzureichenden Sicherheitsabstands zum vorausfahrenden Fahrzeug eingestellt. Dies ist im Ergebnis zutreffend.

[10] a) Nach § 4 I 1 StVO muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug i.d.R. so groß sein, dass auch dann hinter ihm angehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Wer im Straßenverkehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war i.d.R. unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins (BGH, st. Rspr.; vgl. NJW-RR 2007, 680 = VersR 2007, 557; Geigel/Freymann, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 27 Rn 146; Helle in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2016, § 4 Rn 42, jew. m.w.N.).

[11] b) Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann nach allgemeinen Grundsätzen dadurch erschüttert werden, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Licht erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird (BGH, st. Rspr., vgl. NJW 2017, 1177; NJW-RR 2007, 680 m.w.N.). Soweit dies in Rechtsprechung und Literatur in Fällen in Betracht gezogen wird, in denen dem Auffahrenden der Nachweis gelingt, dass der Vorausfahrende sein Fahrzeug ohne zwingenden Grund stark abbremste (vgl. Helle in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Rn 51.1 m.w.N., zur gegenteiligen Auffassung: OLG Karlsruhe NJW 2017, 2626), kann dies jedenfalls nicht für Unfallsituationen gelten, in denen mit einem abrupten Abbremsen auch ohne zwingenden Grund gerade typischerweise zu rechnen ist.

[12] c) So liegt der Fall hier: Jeder Verkehrsteilnehmer, der einem deutlich als solchen gekennzeichneten Fahrschulfahrzeug folgt, muss mit plötzlichen und sonst nicht üblichen Reaktionen, auch ohne dass sie durch eine vor dem Fahrschulfahrzeug bestehende Verkehrssituation hervorgerufen werden, rechnen und seine Fahrweise darauf einstellen (AG München, Urt. v. 14.6.2005 – 322 C 36909/04; AG Hannover, Urt. v. 5.7.2013 – 417 C 3415/13; AG München VersR 1972, 212). Denn das grundlose Abbremsen oder auch "Abwürgen" des Motors gehört zu den typischen Anfängerfehlern eines Fahrschülers. Dementsprechend kann der Umstand, dass der Fahrschulwagen nach den Feststellungen des Erstgerichts vorliegend ohne zwingenden Grund abgebremst wurde, nicht zu einer Erschütterung des Anscheinsbeweises herangezogen werden, weshalb es auf Klägerseite bei dem festgestellten Sorgfaltsverstoß gegen § 4 I1 StVO verbleibt.

[13] Mit Erfolg wendet sich die Berufung allerdings gegen die Annahme gleichwertiger Verursachungsbeiträge im Rahmen der Haftungsverteilung.

[14] a) Soweit das AG von einer hälftigen Mitverursachung beider Seiten ausgegangen ist, würdigt dies die gesonderte Sorgfaltspflicht des hinter dem Fahrschulwagen befindlichen Fahrzeugs nicht ausreichend. Die Verpflichtung, den Sicherheitsabstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug so zu bemessen, dass auch dann hinter diesem gehalten werden kann, wenn plötzlich gebremst wird, trifft grds. jeden Verkehrsteilnehmer. Vorliegend hatte der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs aber zudem besondere Vorsicht walten zu lassen, denn die deutliche Kenntlichmachung von Fahrschulfahrzeugen bei Übungsfahrten dient dem Zweck, auf das insoweit erhöhte Risiko eines unangepassten Fahrverhaltens, vorliegend in Form des unvermittelten Abbremsens ohne zwingenden Grund, hinzuweisen (AG München, a.a.O. – 322 C 36909/04). Anders als in dem vom LG Ellwangen (Urt. v. 15.11.1979 – III S 3/79 (11); VersR 1980, 586) entschiedenen Fall, das eine hälftige Haftungsverteilung angenommen hatte, kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass in der streitgegenständlichen Verkehrssituation mit einem abrupten Abbremsen des Fahrzeugs grds. unter keinen Umständen zu rechnen gewesen wäre. Denn der Ehemann der Kl. hat bei seiner Vernehmung selbst angegeben, die herannahende Person in einer Entfernung von ca. 4 Metern wahrgenommen zu haben (Bl. 71 d.A.). Eine Reaktion des voranfahrenden Fahrschulwagens auf die sich der Fahrbahn nähernde Person war daher nicht völlig fernliegend und hätte bei der Wahl des Sicherheitsabstands einkalkuliert werden müssen.

[15]...

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