Leitsatz (amtlich)

Der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden kann allenfalls erschüttert sein, wenn eine grundlose Vollbremsung mit der nötigen Gewissheit im Sinne des § 286 ZPO bewiesen ist.

Ein Sicherheitsabstand von 2 m auf das vorausfahrende Fahrzeug ist, gerade im außerörtlichen Verkehr, immer unzureichend und macht eine rechtzeitige Reaktion auf Fahrmanöver des Vorausfahrenden unmöglich.

Unterschreitet der Auffahrende den gebotenen Sicherheitsabstand in besonders gravierender Weise (hier: 2 m Abstand statt gebotener 10 m), tritt die Betriebsgefahr des vorausfahrenden Fahrzeugs vollständig zurück, selbst wenn ein geringer Verstoß des Vorausfahrenden gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO vorliegen sollte.

 

Normenkette

StVO § 4 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Bielefeld (Aktenzeichen 7 U 70/17)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 29.8.2017 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld (Az. 2 O 246/16) wird unter teilweiser Abänderung der erstinstanzlichen Kostenentscheidung zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der Kosten der erstinstanzlichen Säumnis, die die Beklagten als Gesamtschuldner tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das erstinstanzliche Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. Auf die Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO verzichtet.

II. Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Der Klägerin steht gegen die Beklagten kein Anspruch auf Schadensersatz aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall, der sich am 3.2.2016 gegen 14.50 Uhr in X außerorts auf der C Straße ereignet hat, nach §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 2, 3, 18 Abs. 1 S. 1 StVG iVm. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG zu.

Die Beklagten haften bereits dem Grunde nach nicht.

1. Der Unfall beruht nicht auf höherer Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG.

Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass ein Fall des § 17 Abs. 3 StVG vorliegt. Denn dies setzt voraus, dass der Unfall durch ein für die Beteiligten unabwendbares Ereignis verursacht worden ist, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeugs, noch einem Versagen seiner Vorrichtungen beruht und sowohl Halter als auch Fahrer jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben (dazu u.a. OLG Düsseldorf, Urteil vom 6.2.2018, Az. 1 U 112/17, Rn. 35, NJW 2018, 1694). Ein Idealfahrer anstelle der Beklagten zu 2) hätte auch bei Zugrundelegung des Beklagtenvortrags in der konkreten Unfallsituation anders reagiert. So hätte ihr durch einen Blick in den Rückspiegel auffallen können, dass das hinter ihr fahrende Fahrzeug sehr dicht auffährt, und sie hätte hierauf durch stärkere Beschleunigung statt dem eingeräumten Abbremsen oder leichtes Ausweichen reagieren können. Ein Idealfahrer anstelle des Zeugin M hätte darüber hinaus einen größeren Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten.

2. Gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG hängt der Umfang der Haftung demnach von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere davon, inwieweit der Unfall vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Abwägung ist dabei aufgrund aller festgestellten - d.h. unstreitigen, zugestandenen oder gemäß § 286 ZPO bewiesenen - Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, soweit diese sich nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben, wobei in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang ist, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben, das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2016, Az. VI ZR 32/16, Rn. 8, NJW 2017, 1177; OLG Hamm, Beschluss vom 21.12.2017, Az. I-7 U 39/17, Rn. 17, NJW-RR 2018, 474).

Bei der nach diesen Maßstäben gebotenen Abwägung überwiegen die Verursachungsanteile auf Seiten der Klägerin in einer Weise, dass ein etwaiger Haftungsanteil der Beklagten jedenfalls vollständig zurücktritt.

a) Die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs ist durch einen Verkehrsverstoß des Zeugen M, dessen Verhalten sich die Klägerin zurechnen lassen muss, erhöht worden.

aa) Da der Zeuge M mit dem klägerischen VW Sharan auf das Fahrzeug der Beklagten zu 2) aufgefahren ist, spricht gegen ihn bereits der Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden. Für die Annahme des Anscheinsbeweises genügt es, dass sich beide Fahrzeuge im gleichgerichteten Verkehr bewegt haben und zumindest eine teilweise Überdeckung der Schäden an Front und Heck vorliegt (KG Berlin, Beschluss vom 20.11.2013, Az. 22 U 72/13, juris). So liegen die Dinge hier. Der Sachverständige Prof. Dipl. Ing. T hat in seinem mündlich erstatteten Gutachten im Senatstermin vom 31.7.2018 unter Verweis auf die Anlagen A 20 bis A 23 seines Gutachtens ausgeführt, dass die Fahrzeuge nahezu längsachsenparallel zusammengestoßen sein müssen. Es kann, wenn überhaupt, nur einen ganz geringen Anstoßwinkel gegeben haben (S. 2 des Berichterstattervermerks vom 31.7.2018, Bl. 252 d.A.). In einer solchen Situation spricht der erste...

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