Das Wichtigste in Kürze:

1. Erscheint der Angeklagte in der HV nicht, muss seine Vorführung angeordnet oder Haftbefehl erlassen werden, soweit dies zur Durchführung der HV geboten ist.
2. Allgemeine Voraussetzung für den Erlass einer der Zwangsmaßnahmen ist, dass der ordnungsgemäß geladene Angeklagte unentschuldigt ausgeblieben ist.
3. Ein Vorführungsbefehl muss inhaltlich die in § 134 Abs. 2 aufgeführten Angaben enthalten.
4. Der HB nach § 230 Abs. 2 setzt keinen dringenden Tatverdacht und keinen Haftgrund nach §§ 112 ff. voraus.
5. Zuständig für den Erlass der Zwangsmaßnahme ist das Gericht, nicht der Vorsitzende allein.
6. Gegen die Zwangsmaßnahme nach § 230 Abs. 2 ist gem. §§ 304, 305 S. 2 grds. die Beschwerde zulässig.
7. Liegen die allgemeinen Voraussetzungen für den Erlass eines HB nach den §§ 112 ff. vor, kann das Gericht bei Ausbleiben des Angeklagten auch einen solchen HB erlassen.
 

Rdn 4337

 

Literaturhinweise:

Morgenstern, Der Anwesenheitsgrundsatz und die Sistierhaft nach § 230 StPO, JR 2016, 237

Rupp, Haftbefehl gem. § 230 II StPO im Rahmen von Großverfahren, NStZ 1990, 576

Scharf/Kopp, Zeitliche Schranken beim Haftbefehl nach § 230 StPO, NStZ 2000, 297

Ullenboom, Untersuchungs- oder Sitzungshaftbefehl?, NJW 2018, 2671

Welp, Die Gestellung des verhandlungsunfähigen Angeklagten, JR 1991, 269

s.a. die Hinw. bei → Haftfragen, Teil H Rdn 2030.

 

Rdn 4338

1. Erscheint der Angeklagte in der HV nicht, muss (!) gegen ihn gem. § 230 Abs. 2 mit einem Vorführungsbefehl (im Folgenden VB) die Vorführung angeordnet (s.u. Teil Z Rdn 4349 f.) oder ein HB (s.u. Teil Z Rdn 4348) erlassen werden, soweit dies zur Durchführung der HV geboten ist. Da ggf. Haft droht, muss der Verteidiger sich mit den Voraussetzungen der möglichen Zwangsmaßnahmen sorgfältig auseinandersetzen.

 

Rdn 4339

Zulässig sind die Maßnahmen auch im StB-Verfahren, da in der Rspr. auch dort der Erlass des HB nach § 230 Abs. 2 als zulässig angesehen wird, auch wenn sich der Angeklagte in der HV durch einen nach § 411 Abs. 2 mit einer nachgewiesenen Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten lässt (KG StraFo 2014, 512; VRS 129, 8; → Strafbefehlsverfahren, Teil S Rdn 2981; → Verteidiger, Vertretung des Angeklagten, Teil V Rdn 3808). Dem soll auch nicht entgegenstehen, dass die HV undurchführbar ist, weil der Verteidiger telefonisch vor der HV mitgeteilt hatte, der Angeklagte werde nicht erscheinen, und das Gericht daraufhin Zeugen und Dolmetscher abgeladen hatte (KG StraFo 2014, 512).

 

Rdn 4340

In der Vergangenheit war der Erlass eines HB nach § 329 Abs. 4 a.F. auch im Berufungsverfahren uneingeschränkt zulässig. Gegen den ausbleibenden Angeklagten konnte Vorführung oder Verhaftung angeordnet werden, sofern nicht sein Erscheinen in einer neuen HV ohne Zwangsmaßnahmen zu erwarten war, wenn bei seiner Berufung keine Verwerfung erfolgt ist oder bei einer Berufung der StA nicht ohne ihn verhandelt werden konnte (§ 329 Abs. 4 a.F.). An der Stelle hat sich durch das "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe" (BT-Drucks 18/3562 u. 18/5254) eine Änderung ergeben, und zwar wie folgt (vgl. i. Üb. → Berufung, Verwerfung, Ausbleiben des Angeklagten, Ausbleiben/Wartezeit, Teil B Rdn 792 ff.):

Bei einer Berufung des Angeklagten sind Vorführung und Verhaftung bedingt durch den gestreckten Verfahrensablauf im Zusammenhang mit der nun gebotenen Erforderlichkeitsprüfung nach § 329 Abs. 2 und 4 nur noch bei erneuter Verhandlung nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht mangels Verwerfungsmöglichkeit vorgesehen (§ 329 Abs. 1 S. 4, Abs. 3 Alt. 2). Die Zwangsmaßnahmen stehen unter dem Vorbehalt, dass sie zur Durchführung der HV geboten sind.
Bei einer Berufung der StA hat sich in der Sache nichts geändert (vgl. § 329 Abs. 3 Alt. 1).
 

Rdn 4341

2.a) Allgemeine Voraussetzung für den Erlass einer dieser Zwangsmaßnahmen ist zunächst, dass der Angeklagte beim Aufruf der Sache unentschuldigt ausgeblieben ist (→ Gang der Hauptverhandlung, Aufruf der Sache, Teil G Rdn 1946; zu möglichen Entschuldigungsgründen → Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung, Teil A Rdn 449 f.; → Berufung, Verwerfung, Ausbleibens des Angeklagten, genügende Entschuldigung, Teil B Rdn 809 ff.). Allein die Befürchtung, der Angeklagte werde zum HV-Termin nicht erscheinen, berechtigt dagegen nicht zur Anordnung der Vorführung gemäß § 230 Abs. 2 (LG Magdeburg, Beschl. v. 3.5.2018 – 25 Qs 35/17).Ist der Angeklagte nur verspätet, kommt es darauf an, ob es ihm zugemutet werden konnte, pünktlich vor Gericht zu erscheinen (OLG Köln, Beschl. v. 8.7.2008 – 2 Ws 326/08).

 

Rdn 4342

b)aa) Voraussetzung ist weiterhin, dass der Angeklagte ordnungsgemäß geladen worden ist (→ Ladung des Angeklagten, Teil L Rdn 2185; → Berufung, Verwerfung, Ausbleiben des Angeklagten, ordnungsgemäße Ladung, Teil B Rdn 823). Gegen denjenigen, der nicht wirksam geladen worden ist, dürfen keine Zwangsmaßnahmen erg...

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