Das Wichtigste in Kürze:

1. Erscheint für den Angeklagten ein mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehener Verteidiger darf die Berufung nicht verworfen werden.
2. Voraussetzung für die Beschränkung der Verwerfungskompetenz des Berufungsgerichts ist, dass der Angeklagte zu Beginn des Berufungs-HV-Termins von einem mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten wird.
3. Wird der abwesende Angeklagte durch einen vertretungsbefugten Verteidiger vertreten und darf deshalb seine Berufung nicht (mehr) verworfen werden, ergibt sich für das Berufungsgericht nach § 329 Abs. 2 und 4 eine Prüfungspflicht.
4. Notwendig ist eine allgemeine Prüfung durch das Gericht, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungs-Hv erforderlich ist oder nicht.
5. Die jetzt nach der Neuregelung des § 329 Abs. 1 ausdrücklich vorhandene rechtliche Möglichkeit der Vertretung verhindert die Verwerfung der Berufung nur dann, wenn eine wirksame Vertretungsbefugnis nachgewiesen, ein Vertretungswille erkennbar und der Vertreter zu Beginn der HV erschienen ist.
6. Die zulässige und wirksame Vertretung eröffnet für den Verteidiger/Vertreter die Rechte und Pflichten im Umfang des § 234.
 

Rdn 207

 

Literaturhinweise:

s. die Hinw. bei → Berufung, Allgemeines, Teil A Rdn 2

→ Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Allgemeines, Teil A Rdn 58.

 

Rdn 208

1.a) Erscheint für den Angeklagten ein mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehener Verteidiger darf die Berufung nicht verworfen werden. Oder: Nur, wenn der Angeklagte nicht wirksam vertreten ist, dürfen Berufung oder Einspruch verworfen werden. Rechtlich zulässig ist die Vertretung des Angeklagten/Betroffenen nur in bestimmten Fällen und bedarf dann einer gesonderten Legitimation (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Vollmacht, Vertretungsvollmacht, Teil A Rdn 1809).

 

Rdn 209

b)aa) Die Frage, ob auch über die Zulässigkeit der Vertretung des Angeklagten in der HV im Strafbefehlsverfahren (vgl. § 412) hinaus eine Vertretung durch einen verteidigungsbereiten Vertreter/Verteidiger, der in der HV anwesend ist, zulässig ist und das ggf. der Verwerfung der Berufung entgegenstand, war in Rspr. und Lit. heftig umstr. (vgl. zum alten Recht a. Burhoff/Kotz/Kotz]; RM, 1. Aufl., Teil A Rn 239; Kotz ZAP F. 22, S. 647). Diese Fragen sind durch das "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe v. 17.7.2015" in § 329 (neu) geregelt (vgl. Teil A Rdn 211 ff.; s. auch Deutscher StRR 2015, 284 ff.; Spitzer StV 2016, 48; Sommer StV 2016, 55).

 

Rdn 210

bb) Zu der Problematik hat in den vergangenen Jahren bereits mehrfach der EGMR Stellung genommen. Der hat in seiner Rspr. wiederholt das Recht des Angeklagten, sich eines Verteidigers zu bedienen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) MRK), betont (vgl. u.a. EGMR NJW 2001, 2387; HRRS 2009 Nr. 981; dazu Gundel NJW 2001, 2380; Meyer-Mews NJW 2002, 1928 in den Anm. zu EGMR, a.a.O. m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Der Verzicht des Angeklagten auf Teilnahme an der HV bedeute danach nicht automatisch auch den Verzicht, sich zu verteidigen oder sich verteidigen zu lassen. Damit war nach Auffassung des EGMR die Verwerfung der Berufung, die allein an das Nichterscheinen des Angeklagten anknüpfte, konventionswidrig/unzulässig. A.A. waren in der innerstaatlichen Rspr. die Obergerichte, die u.a. unter Hinweis auf die einen Konventionsverstoß ebenfalls ablehnende Rspr. des BVerfG (StraFo 2007, 190) ebenfalls ausdrücklich einen Konventionsverstoß verneint haben, da es sich nicht um eine "Abwesenheitsverhandlung" im Berufungsverfahren handele (vgl. u.a. BayObLG NStZ-RR 2000, 307; OLG Düsseldorf StV 2013, 299; OLG Hamm StRR 2012, 463). Dazu hatte der EGMR im Verfahren Neziraj noch einmal Stellung genommen und die Abwesenheitsverwerfung nach § 329 Abs. 1 S. 1 a.F. in diesen Fällen als einen Verstoß u.a. gegen Art. 6 Abs. 3 Buch c MRK angesehen (s. NStZ 2013, 350 u.a. m. Anm. Püschel StraFo 2012, 490). In der Folgezeit haben dann – soweit ersichtlich sämtliche OLG, die nach dem Urteil des EGMR v. 8.11.2012 (a.a.O.) entschieden haben – die Umsetzung dieser Rspr. auf innerstaatliches Recht ablehnt (vgl. KG, Beschl. v. 7.2.2014 – 161 Ss 5/14; OLG Brandenburg StraFo 2015, 70 m.w.N.; OLG Bremen StV 2014, 211; OLG Celle NStZ 2013, 615; OLG München NStZ 2013, 358 m. Anm. Gerst StRR 2013, 146). Begründet worden ist das u.a. mit der Bindung der deutschen Gerichte an geltendes Recht, dieses könne nicht gegen seinen eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden. Diese OLG-Rechtsprechung ist in der Lit. heftig kritisiert worden (vgl. u.a. Engel ZJS 2013, 327; Esser StV 2013, 331; Gerst NStZ 2013, 310; ders., StRR 2013, 23 in der Anm. zu EGMR, a.a.O.; Hüls/Reichling StV 2014, 242; Zehetgruber HRR 2013, 379; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 15a; s.a. noch Burhoff StRR 2013, 388 in der Anm. zu OLG Bremen, a.a.O.; zust. Mosbacher NStZ 2013, 312; diff. Ast JZ 2013, 780).

 

Rdn 211

cc) Durch das ...

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