Gesetzestext

 

(1) Hat der Eigentümer eines Grundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grenze gebaut, ohne dass ihm Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt, so hat der Nachbar den Überbau zu dulden, es sei denn, dass er vor oder sofort nach der Grenzüberschreitung Widerspruch erhoben hat.

(2) 1Der Nachbar ist durch eine Geldrente zu entschädigen. 2Für die Höhe der Rente ist die Zeit der Grenzüberschreitung maßgebend.

A. Allgemeines.

 

Rn 1

Im Vordergrund der Vorschrift steht der Gedanke der Werterhaltung von Gebäuden (BGH WM 17, 451, 453). Dazu legt das Gesetz dem beeinträchtigten Grundstückseigentümer nicht nur eine Duldungspflicht auf, welche sowohl seine positiven als auch seine negativen Eigentümerbefugnisse nach § 903 (§ 903 Rn 2) einschränkt; es verhindert auch den nach den allg Vorschriften (§§ 93, 94 I, 946) an sich eintretenden Eigentumserwerb an dem Überbau. Vor einer einseitigen Bevorzugung des Überbauenden schützt die Vorschrift durch das für das Entstehen der Duldungspflicht notwendige Erfordernis, dass der Überbauende weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt hat (I), und durch die Normierung einer Entschädigungspflicht zugunsten des Nachbarn (II). Das mit der Vorschrift verfolgte Ziel lässt sich nur durch eine Auslegung erreichen, die den Regelungszweck (Werterhaltung) ausreichend berücksichtigt (BGH aaO).

B. Berechtigter und Verpflichteter.

 

Rn 2

Nur ein von dem Eigentümer des Grundstücks, von welchem aus die Grenze überbaut wurde, errichteter Überbau muss unter den Voraussetzungen des I geduldet werden. Der Erbbauberechtigte ist dem Eigentümer gleichgestellt (§ 11 ErbbauRG). Dagegen muss der Überbau eines anderen dinglich Berechtigten wie Nießbraucher oder eines obligatorisch Berechtigten wie Mieter (Schlesw ZfIR 17, 119) oder Pächter nicht geduldet werden, auch nicht der von einem bloßen Besitzer des Grundstücks errichtete Überbau (Staud/Roth Rz 11). Jedoch kann der Grundstückseigentümer die Zustimmung zu der Errichtung eines Gebäudes durch diese Personen erteilen; in diesem Fall gilt es als sein Gebäude mit der Folge, dass der Nachbar den Überbau ggf dulden muss.

 

Rn 3

Bei der Beurteilung, wessen Überbau geduldet werden muss, kommt es darauf an, wer nach der Verkehrsanschauung ›Geschäftsherr‹ des Bauvorhabens ist, dh in wessen Namen und in wessen wirtschaftlichem Interesse gebaut wurde (BGHZ 110, 298, 302). Die Person desjenigen, der das Gebäude handwerklich oder auch als Baubetreuer im eigenen Namen errichtet hat, ist nicht entscheidend für die Geschäftsherreneigenschaft.

 

Rn 4

Duldungspflichtig ist der Eigentümer des Nachbargrundstücks, welches überbaut wurde. Kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung stehen ihm der Erbbauberechtigte und der Dienstbarkeitsberechtigte gleich (§ 916).

C. Tatbestand.

I. Gebäude.

 

Rn 5

Gebäude ist ein Bauwerk, das fest mit dem Erdboden verbunden und allseitig durch Wände und Dach verschlossen ist und den Eintritt von Menschen ermöglicht sowie Schutz gegen äußere Einflüsse gewährt. Unerheblich ist, ob das Gebäude für dauernd oder nur zu einem vorübergehenden Zweck errichtet wurde (§ 95 I 1). Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift (Rn 1) ist § 912 auch auf andere größere Bauwerke als Gebäude wie zB Ufermauern anzuwenden, wenn deren Beseitigung zu einer dem Abriss eines Gebäudes vergleichbaren Zerschlagung wirtschaftlicher Werte führte (BGH WM 15, 1776, 1780). Leicht versetzbare Gebäude wie zB Gartenhäuser fallen nicht unter die Vorschrift.

 

Rn 6

§ 912 findet nur auf einheitliche Gebäude Anwendung. Bei der Beurteilung der Einheitlichkeit kommt es sowohl auf die körperliche bautechnische Beschaffenheit als auch auf die funktionale Einheit an (BGHZ 110, 298, 301). Können Teile eines Gebäude nicht voneinander getrennt werden, ohne dass der eine oder der andere Teil zerstört oder in seinem Wesen verändert wird, handelt es sich um ein einheitliches Gebäude (BGH NJW 82, 756). Kann dagegen ein Anbau, der vollständig auf dem überbauten Grundstück steht, ohne nachteilige Folgen für das auf dem Grundstück des Überbauenden stehende Gebäude abgerissen werden, kommt § 912 nicht zur Anwendung (vgl BGH WM 17, 451, 454).

 

Rn 7

Die Vorschrift ist nicht erst nach der Fertigstellung des Gebäudes anzuwenden. Sie greift bereits dann ein, wenn die Errichtung des Gebäudes so weit fortgeschritten ist, dass eine Werterhaltung (Rn 1) aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll erscheint.

II. Überbau, Stammgrundstück.

 

Rn 8

Das Gebäude (Rn 5 ff) muss von einem Grundstück aus (Stammgrundstück) teilweise über die Grenze auf das Nachbargrundstück gebaut worden sein. Welches das Stammgrundstück ist, bestimmt sich allein nach den Absichten und wirtschaftlichen Interessen des Bauherrn (Rn 2) im Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks (BGH NJW 89, 789, 790). Die Größe oder die Wichtigkeit des über die Grundstücksgrenze gebauten Gebäudeteils im Verhältnis zu dem auf dem Grundstück des Geschäftsherrn stehenden Gebäudeteil spielt für die Bestimmung des Stammgrundstücks keine Rolle (BGHZ 110, 298, 302). Kein Überbau iSd Vorschrift ist es, wenn es an einem Stammgrundstück fehlt (BGH NJW 85, 789, 790).

 

R...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge