Gesetzestext

 

(1) Das nach dieser Verordnung für das vertragliche Schuldverhältnis maßgebende Recht ist insoweit anzuwenden, als es für vertragliche Schuldverhältnisse gesetzliche Vermutungen aufstellt oder die Beweislast verteilt.

(2) Zum Beweis eines Rechtsgeschäfts sind alle Beweisarten des Rechts des angerufenen Gerichts oder eines der in Artikel 11 bezeichneten Rechte, nach denen das Rechtsgeschäft formgültig ist, zulässig, sofern der Beweis in dieser Art vor dem angerufenen Gericht erbracht werden kann.

A. Gesetzliche Vermutungen und Beweislast (Abs 1).

 

Rn 1

ROM I qualifiziert die Beweislast materiell-rechtlich (anders zB das chinesische Zivilprozessrecht, Art 64 S 1 chin. ZPO). Art 18 I regelt die Bedeutung des mit Hilfe von ROM I ermittelten Vertragsstatuts für Beweisfragen: Es gelten die gesetzlichen Vermutungen und die Bestimmungen zur Beweislast im Vertragsstatut. Insoweit wird das Verfahrensrecht der lex fori – des am Gerichtsort geltenden Rechts – (s.u. Rn 9) verdrängt. Die Regelung in Art 18 I entspricht Art 14 I EVÜ und ex Art 32 III 1 EGBGB (dementsprechend wird zT auch Literatur zu ex Art 32 EGBGB zitiert). S auch die Parallelnorm in Art 22 ROM II. Die Einbindung in eine unionsrechtliche Verordnung zwingt aber nunmehr zu einer autonomen Bestimmung der Begriffe (s Vor ROM I Rn 12 ff).

I. Weite Auslegung.

 

Rn 2

Die Begriffe gesetzliche Vermutung und Beweislast sind weit zu verstehen (ebenso NK-BGB, Bd. 6, Hüßtege/Mansel/Doehner). Sie umfassen von der Rechtsprechung entwickelte Grundsätze (s die Bsp in Rn 5–6). Hierfür sprechen folgende Gründe: (1) Der in der englischen Fassung der ROM I gewählte und der deutschen Fassung gleichgestellte (arg Art 55 I EUV; Art 4 EWG-SprachenVO) weite Wortlaut ›rules‹ which raise presumptions of law or determine the burden of proof umfasst auch Richterrecht (s zB Murphy on Evidence, 11). (2) Da die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nicht alle auf geschriebenem Recht beruhen, sondern zT (so im Vereinigten Königreich) durch Richterrecht geprägt sind, ist der Begriff des Gesetzes (rules) in der Formulierung ›gesetzliche Vermutung‹ bei rechtsvergleichender Betrachtung in einer umfassenden, Gewohnheits- und Richterrecht einschließenden Bedeutung zu verstehen. (3) Dem Ziel von ROM I, einen gemeinsamen Raum des Rechts weiter zu entwickeln (Erw 1), entspricht ein weites Verständnis der Begriffe gesetzliche Vermutung und Beweislast, das die verschiedenen, rechtsvergleichend zu findenden Vermutungen und Beweislastregeln umfasst. (4) Nur diese weite Auslegung führt dazu, dass Art 18 I seine volle unionsrechtliche Wirkung entfalten kann (effet utile, s Vor ROM I Rn 14). Ebenso Grüneberg/Thorn Art 18 Rz 3; Reithmann/Martiny/Martiny Rz 3.188.

 

Rn 3

Da I die Begriffe gesetzliche Vermutung und Beweislast mit der gleichen Rechtsfolge (Anwendbarkeit des Vertragsstatuts) nebeneinander nennt, kommt es auf die genaue Unterscheidung zwischen diesen Begriffen im Vertragsstatut nicht an.

 

Rn 4

I kann nur Vermutungen im Anwendungsbereich von ROM I (s Art 1 Rn 1–4) erfassen: Die Regelung meint nur vertragsrechtlich relevante Vermutungen und nicht Vermutungen, die nach anderen internationalprivatrechtlichen Regelungen zu beurteilende Vorfragen betreffen (Bsp: die sachenrechtliche Vermutung über das Eigentum an einem Kaufgegenstand aus § 1006 BGB).

II. Anwendung von Abs 1 bei deutschem Vertragsstatut.

1. Gesetzliche Vermutung.

 

Rn 5

Ist deutsches Recht Vertragsstatut (und insoweit nicht durch fremdes Prozessrecht verdrängt, vgl oben Rn 1), können zB die folgenden Rechtszustandsvermutungen greifen: (1) die von der Rechtsprechung entwickelte Vermutung für die vollständige und richtige Wiedergabe der getroffenen Vereinbarung in der Vertragsurkunde (s § 133 BGB Rn 50); (2) die Vermutung der Begründetheit eines Garantieanspruchs bei Sachmängeln, die während einer vertraglich übernommenen Haltbarkeitsgarantie auftreten (§ 443 II BGB); (3) die Vermutung der Mangelhaftigkeit der Sache bei Gefahrübergang, wenn ein Sachmangel binnen sechs Monaten ab Gefahrübergang auftritt (§ 476 BGB); (4) bei Teilnichtigkeit eines Vertrages, der keine salvatorische Klausel enthält, die Vermutung der Gesamtnichtigkeit (str, s § 139 BGB Rn 1, Rn 4).

 

Rn 6

Wegen ihrer funktionalen Nähe zur Rechtszustandsvermutung und zur Beweislast sind auch Anscheinsbeweissätze zu typischen Geschehensabläufen als ›gesetzliche‹ Vermutung iSv I – oder als Beweislastregel (s.o. Rn 2) – zu werten (s das Vor §§ 249–255 BGB Rn 6 gegebene Beispiel für einen Transportschaden von Schaltkästen beim Sturz der Kiste, in der sie verpackt sind), vertiefend MüKoIPR/Spellenberg Art 18 Rz 25 f. Für den zur Parallelnorm in ex Art 32 III 1 EGBGB (s www.pww-oe.de) geführten Streit über die Einordnung des Anscheinsbeweises dürfte aufgrund der nunmehr gebotenen weiten Begriffsbildung (s.o. Rn 3) kein Raum mehr bleiben. Das Vertragsstatut bestimmt ferner, ob gesetzliche Fiktionen (zB § 212 III BGB) greifen (Staud/Magnus Art 18 Rz 19).

2. Beweislast.

 

Rn 7

Bei deutschem Vertragsstatut sind – jedenfalls bei einem Verfahren in der EU – deutsche Regeln zur Beweislast und zur Beweislastumkehr (s zB § 280 BGB Rn 2526) anzuwenden. Zur Beweislast geh...

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