Rn 17

Die Kasuistik zu den Anwaltspflichten im Prozess ist inzwischen kaum noch überschaubar, weshalb hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden kann: Unklare Vorstellungen über die Rechtslage entlasten den Anwalt (BGH NJW 94, 55, 56) ebenso wenig wie ein Rechtsirrtum (BGH NJW 11, 386 [BGH 03.11.2010 - XII ZB 197/10]). Abfragen im Internet zur Ermittlung der Rechtslage genügen nur dann, wenn geeignete Quellen wie Datenbanken über Rechtsvorschriften benutzt werden (BGH NJW 14, 2503 [BGH 15.05.2014 - V ZB 172/13] Rz 11). Der Anwalt muss seine Postulationsfähigkeit prüfen (BGH NJW-RR 07, 278, 279 [BGH 31.10.2006 - VI ZB 20/06]). Er muss für einen ordnungsgemäßen PKH-Antrag sorgen (BGH NJW 01, 2720, 2721 [BGH 12.06.2001 - XI ZR 161/01]). Von denkbaren Alternativen muss er die sicherste wählen (BGH NJW 93, 333 [BGH 23.09.1992 - I ZR 224/90]; 94, 55, 56; 15, 3519, 3520), bei zweifelhaftem Rechtsmittel muss er dafür sorgen, dass sein Rechtsmittel nach jeder Betrachtung zulässig ist (Karlsr NJW-RR 22, 1078 [OLG Karlsruhe 27.04.2022 - 6 W 39/21] Rz 9). Er muss zweckmäßigerweise sofort nach Eingang des Urteils die Partei vom Zeitpunkt der Zustellung in Kenntnis setzen und sie über die mögliche Rechtsmitteleinlegung so zeitig unterrichten, dass sie noch innerhalb der Rechtsmittelfrist über die Einlegung entscheiden kann (BGH NJW 07, 2331 [BGH 23.05.2007 - IV ZB 48/05]; NJW-RR 17, 1210 [BGH 18.07.2017 - VI ZR 52/16] Rz 12). Er muss sicherstellen, dass die Information den Empfänger auch erreicht (BGH MDR 22, 788 Rz 14 zur Information per E-Mail). Ob und welche Rechtsmittel möglich sind, hat er eigenständig sorgfältig zu prüfen (BGH NJOZ 09, 3379, 3381), eine Delegation auf das Büropersonal ist nicht möglich (BGH NJW-RR 22, 346 [BGH 11.01.2022 - VIII ZB 37/21] Rz 9). Der Anwalt muss sich rechtzeitig erkundigen, ob der Rechtsmittelanwalt das Mandat übernommen hat (BGH NJW 82, 2447; 01, 1576, 1577 [BGH 25.01.2001 - IX ZB 120/00]; NJW 14, 2565 [BVerfG 30.06.2014 - 2 BvR 792/11] Rz 18). Zudem muss er in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise die von ihm zuvor geprüften Daten für die fristgemäße Einlegung und Begründung des Rechtsmittels (idR) schriftlich übermitteln (BGH NJW 19, 2028 Rz 13). Rechtsmittelschriften müssen den Rechtsmittelführer eindeutig bezeichnen, auf Äußerungen von nicht richterlichen Justizbediensteten zur Beachtung der Form darf er sich nicht verlassen (BGH Beschl v 8.8.17 – X ZB 9/15 Rz 25). Auf eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung darf der Anwalt vertrauen (§ 233 S 2), wenn diese zu einem zumindest nachvollziehbaren Rechtsirrtum geführt hat (MDR 21, 114 Rz 7; weitergehend nunmehr BGH NJW-RR 22, 805 Rz 12: auch bei einem Fachanwalt idR unverschuldeter Rechtsirrtum), nicht hingegen, wenn sie offenkundig falsch war und nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte (BGH NJW 21, 784 Rz 7; FamRZ 14, 643 Rz 19 f; NJW 18, 165 Rz 7; MDR 18, 420 Rz 7; WM 21, 1949 Rz 15; BVerwG Beschl v 8.3.19 – 5 PB 15.18 Rz 12; vgl zu einem Fall fehlender Offensichtlichkeit BayObLG NJW-RR 21, 1431 [BayObLG 19.08.2021 - 102 VA 56/21] Rz 39). Dabei ist davon auszugehen, dass ein Rechtsanwalt die gesetzlichen Regeln für fristgebundene Rechtsmittel kennt und auch weiß, dass bei besonderen Verfahren spezielle Regelungen gelten (BGH NJW 21, 784 [BGH 25.11.2020 - XII ZB 256/20] Rz 8; Beschl v 8.5.20 – LwZB 1/19 Rz 5 zu § 2 I 3 LwLG; Stuttg NJW 20, 77 [OLG Stuttgart 07.10.2019 - 17 UF 156/19] Rz 25, 30 zum HKÜ-Verfahren; Brandbg Beschl v 21.11.19 – 13 WF 209/19 Rz 9 zum Familienstreitverfahren). Eine fehlende Belehrung ist bei einem Rechtskundigen für Versäumnisse idR nicht ursächlich (BayObLG Beschl v 12.5.21 – 101 VA 44/21 Rz 31). Ein unverschuldeter Rechtsirrtum führt nicht dazu, dass das beim falschen Gericht eingegangene Rechtsmittel die Frist wahrt, sondern ermöglicht lediglich die Wiedereinsetzung (BGH NJW-RR 22, 805 [BGH 24.02.2022 - V ZB 59/21] Rz 12; MDR 21, 114 [BGH 22.10.2020 - V ZB 45/20] Rz 7). Im Rahmen seiner Verpflichtung zur Büroorganisation hat er durch allg und unmissverständliche Anweisungen dafür zu sorgen, dass Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert (BGH Beschl 10.2.22 – I ZB 46/21 Rz 9) und dass Fehler möglichst vermieden werden und er muss die Einhaltung der Organisation in regelmäßigen Abständen zumindest durch Stichproben kontrollieren (BGH NJW 13, 1815, 1816 [BGH 15.01.2013 - II ZR 83/11]; Beschl v 18.1.18 – IX ZB 4/17 Rz 9, 10). Er muss dafür sorgen, dass eingehende Schriftstücke auf Fristen überprüft werden (OVG Bautzen Beschl v 15.6.20 – 5 A 525/17, Rz 6), dass mehrere Fristen in einer Sache gesondert erfasst (BGH BGHReport 06, 323, 324 [BGH 09.11.2005 - XII ZB 140/05]), dass Fristen ordnungsgemäß eingetragen werden (BGHReport 06, 699 [BGH 27.01.2006 - V ZR 46/05]; NJW 06, 2778, 2779), insbesondere der Zeitpunkt der Zustellung richtig vermerkt wird (BGH NJW 10, 3305 [BGH 22.06.2010 - VIII ZB 12/10]), und sichergestellt ist und durch ihn kontrolliert werden kann, dass die ...

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