Gesetzestext

 

(1) Bei den Landgerichten werden eine oder mehrere Zivilkammern für folgende Sachgebiete gebildet:

1. Streitigkeiten aus Bank- und Finanzgeschäften,
2. Streitigkeiten aus Bau- und Architektenverträgen sowie aus Ingenieurverträgen, soweit sie im Zusammenhang mit Bauleistungen stehen,
3. Streitigkeiten aus Heilbehandlungen,
4. Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen,
5. Streitigkeiten über Ansprüche aus Veröffentlichungen durch Druckerzeugnisse, Bild- und Tonträger jeder Art, insbesondere in Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen,
6. erbrechtliche Streitigkeiten und
7. insolvenzrechtliche Streitigkeiten und Beschwerden, Anfechtungssachen nach dem Anfechtungsgesetz sowie Streitigkeiten und Beschwerden aus dem Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz.

(2) 1Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung bei den Landgerichten eine oder mehrere Zivilkammern für weitere Sachgebiete einzurichten. 2Die Landesregierungen können die Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen.

(3) Den Zivilkammern nach den Absätzen 1 und 2 können auch Streitigkeiten nach den §§ 71 und 72 zugewiesen werden.

A. Geschichte.

 

Rn 1

Das ZPO-RG v 27.7.01 (BGBl I, 1887) hatte das Kammerprinzip verdrängt zugunsten der Zuständigkeit des Einzelrichters. Diese Maßnahme war auf den ersten Blick günstig für Personalbedarfsüberlegungen, damit verbundene Kosten und die Verfahrensbeschleunigung. Kehrseite war aber, dass komplexe Sach- und Rechtsfragen in den Händen einer einzelnen Person lagen. Gleichzeitig setzte in der Anwaltschaft eine Tendenz zur Spezialisierung ein, die in der Schaffung zahlreicher neuer Fachanwaltssparten ihren Ausdruck fand. An den Landgerichten wirken indes auch Richterinnen und Richter, die nicht über eine umfassende Berufserfahrung verfügen. Die Vorkehrung, dass nur Richter mit einjähriger Praxis als originäre Einzelrichter zuständig sind (§ 348 I 2 Nr 1 ZPO), sicherte noch nicht die erforderliche Erfahrung auf der Richterbank. Das drohende Auseinanderfallen der Fachkompetenz war Funktion und Ansehen der Ziviljustiz nicht förderlich. Zwar konnten die Präsidien der Landgerichte gegensteuern durch die in ihrem Ermessen stehende Einrichtung von Spezialkammern (vgl § 348 I 2 Nr 2 ZPO). Von dieser Möglichkeit wurde auch Gebrauch gemacht (Rebehn DRiZ 16, 92), aber nicht immer hinreichend (Fölsch DRiZ 17, 168). Der Juristentag 2014 hatte die Problemstellung zum Thema erhoben (vgl Callies, Gutachten A, 2014: Der Richter im Zivilprozess – sind ZPO und GVG noch zeitgemäß?), was in den Vorschlag zur obligatorischen Verankerung von Spezialkammern mündete. Begleitend war eine rechtspolitische Diskussion feststellbar (Limperg DRiZ 15, 382, 384; Roth ZZP 129 [2016], 3; Wollweber AnwBl 16, 564; Küspert in Althammer/Weller, Europäische Mindeststandards für Spruchkörper, 2017, S 55). – Auf eine Initiative aus dem Rechtsausschuss (vgl BTDrs 18/11437) wurde die obligatorische Einrichtung von Spezialkammern mit G v 28.4.17 (BGBl I, 969) vorgeschrieben, zunächst für die Materien nach Abs 1 Nr 1–4. Für das OLG wurde mit § 119a eine praktisch inhaltsgleiche Vorschrift geschaffen. Eine Ausdehnung der §§ 72a, 119a auf die Sachgebiete nach Abs 1 Nr 5–7 ist zum 1.1.21 in Kraft getreten (RegE BTDrs 19/13828; G v 12.12.19, BGBl I, 2633); zeitgleich wurde Abs 1 Nr 7 angepasst durch das SanInsFoG v 22.12.20 (BGBl I, 3256). Jedenfalls für die genannten Sachgebiete können bei kontinuierlicher Planung des Richterpersonals mögliche Rückstände der Spezialisierung ausgeglichen werden, zumal ein richtig organisierter und funktionierender Diskurs im Spruchkörper einen weiteren Qualitätszuwachs verspricht. Die partielle Rückkehr zum Kammerprinzip ist auch aus diesem Grund zu begrüßen.

B. Einrichtung von Spezialkammern.

 

Rn 2

Die Spezialkammern sind Zivilkammern iSd § 60, wie § 72 I 1 ausdrücklich hervorhebt. § 72a I umreißt die Sachgebiete der Nr 1–5 mit exakt den gleichen Formulierungen, mit denen § 348 I 2 Nr 2 lit b, c, e, h und a ZPO es bereits ermöglichten, einzelne Kammern zu Spezialkammern zu formen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass § 348 ZPO den Präsidien der Landgerichte erlaubt, nach freiem Ermessen zu bestimmen, ob und wie umfassend eine Spezialzuständigkeit eingerichtet wird. § 72a hingegen regelt eine gesetzliche Zuständigkeit, die als striktes Recht keinen Raum lässt für eine weitere Ausformung durch die Präsidien, und zwar weder im Hinblick auf die Einrichtung als solche noch im Hinblick auf die Inhalte der Zuständigkeit (Bericht BTDrs 18/11437, 45; BayObLG NZBau 21, 254; vgl auch Rn 2g, 2h).

 

Rn 2a

Der Gesetzgeber ist überzeugt, dass in den von ihm geschaffenen Zuständigkeiten ein hinreichendes Fallvorkommen besteht (vgl BTDrs 18/11437, 46). Abs 3 stellt klar, dass die Spezialkammern darüber hinaus auch für allgemeine Rechtstreitigkeiten zuständig sein können, die nicht in ihren gesetzlich bestimmten Aufgabenbereich fallen. In kleineren LG-Bezirken können – oder müssen – einer Kammer mehrere Spezialzuständigkeiten zugewiesen werden...

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