Zusammenfassung

 

Art. 71 Brüssel Ia-VO(1) Diese Verordnung lässt Übereinkünfte unberührt, denen die Mitgliedstaaten angehören und die für besondere Rechtsgebiete die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung oder die Vollstreckung von Entscheidungen regeln.

(2) Um eine einheitliche Auslegung des Absatzes 1 zu sichern, wird er in folgender Weise angewandt:

a) Diese Verordnung schließt nicht aus, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, der Vertragspartei einer Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet ist, seine Zuständigkeit auf eine solche Übereinkunft stützt, und zwar auch dann, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, der nicht Vertragspartei einer solchen Übereinkunft ist. In jedem Fall wendet dieses Gericht Artikel 28 dieser Verordnung an.
b) Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat von einem Gericht erlassen worden sind, das seine Zuständigkeit auf eine Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet gestützt hat, werden in den anderen Mitgliedstaaten nach dieser Verordnung anerkannt und vollstreckt.

Sind der Ursprungsmitgliedstaat und der ersuchte Mitgliedstaat Vertragsparteien einer Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet, welche die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen regelt, so gelten diese Voraussetzungen. In jedem Fall können die Bestimmungen dieser Verordnung über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen angewandt werden.

A. Normgegenstand.

 

Rn 1

Die Vorschrift regelt das Verhältnis der EuGVO zu Übereinkommen für besondere Rechtsgebiete. Bereits der entsprechende Abs 1 der Ursprungsfassung (VO [EG] 44/2001) räumte als Rangkollisionsnorm (Rauscher/Mankowski Rz 1) denjenigen spezielleren multilateralen völkerrechtlichen Verträgen den Vorrang ein, die noch unter Geltung des EuGVÜ abgeschlossen worden sind, und verbaute zugleich den Mitgliedstaaten die eigenständige Gestaltung der von der EuGVO erfassten Gegenstände für die Zukunft (Gebauer/Wiedmann/Gebauer/Berner Rz 1). Mit Blick auf das Benelux-Übereinkommen über geistiges Eigentum (Marken und Muster oder Modelle) vom 25.2.2005 hat sich der EuGH (C-230/15 Brite Strike Technologies, GRUR INt. 2016, 959) allerdings hinsichtlich einer Neufassung bestehender Übereinkommen offen gezeigt. Die Sperre gegenüber mitgliedstaatlicher Gestaltung soll mit der Beibehaltung der Norm in der aktuellen Fassung (VO [EU] 1215/2012) aufrechterhalten bleiben. Inzwischen will der EuGH (C-533/08 – TNT Express Nederland/AXA, NJW 10, 1736 [EuGH 04.05.2010 - Rs. C-533/08], zu Art 31 II, III CMR) Spezialvorschriften über Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung nur noch insoweit Vorrang einräumen, als diese ›in hohem Maße vorhersehbar sind, eine geordnete Rechtspflege fördern, es erlauben, die Gefahr von Parallelverfahren so weit wie möglich zu vermeiden, und den freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie das gegenseitige Vertrauen in die Justiz iRd Union (favor executionis) unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen gewährleisten, wie sie in der genannten Verordnung vorgesehen sind‹. Dies soll sich bis in die Auslegung des jeweiligen Übereinkommens auswirken (EuGH C-452/12 – Nipponkoa Insurance/Inter-Zuid Transport BV, EuZW 14, 220). Abs 2 soll als authentische Interpretation Abs 1 konkretisieren.

B. Übereinkommen für besondere Rechtsgebiete (Abs 1).

 

Rn 2

Übersichten finden sich etwa bei MüKoZPO/Gottwald Rz 2; Kropholler/v Hein Rz 3 ff; Rauscher/Mankowski Rz 29 f. Zu den spezielleren Übereinkommen, die ›unberührt‹ bleiben, zählen bspw das Genfer Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßenverkehr v 19.5.56 (CMR, BGBl 1961 II 1119) idF des Protokolls v 5.7.78 zur CMR (BGBl 1980 II 721, 733);

C. Authentische Auslegung (Abs 2).

I. Zuständigkeit (lit a).

 

Rn 3

Lit a S 1 stellt klar, dass die Zuständigkeit auch dann auf ein Spezialübereinkommen gestützt werden kann, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz (Art 62) in einem Mitgliedstaat hat, der nicht Vertragsstaat des Übereinkommens ist. Nicht ganz unproblematisch ist der Verweis in Abs 2 lit a S 2. Die Vorgängervorschrift des Art 57 II lit a S 2 EuGVÜ hat insb das OLG Dresden dahin verstanden, dass die gem Art 31 CMR begründete Zuständigkeit eben keine Zuständigkeit iSd EuGVÜ sei, der Beklagte diese also durch bloßes Nichteinlassen aushebeln könne, so dass sich das angerufene Gericht nach Art 20 I EuGVÜ (Art 26 EuGVO) für unzuständig zu erklären habe (Dresd IPRax 00, 121 [OLG Dresden 24.11.1998 - 14 U 713/98] m abl Anm Haubold [91]). Der EuGH hat dieses absurde Ergebnis durch die Annahme einer Inkorporationswirkung des Art 57 II lit a EuGVÜ vermieden, wonach sich eine nach dieser Norm ›unberührte‹ Zuständigkeit aufgrund eines Übereinkommens für die Zwecke des Art 20 I EuGVÜ (Art 28 EuGVO nF) als eine ›nach dem EuGVÜ begründete‹ darstellt (EuGH C-148/03 – Nürnberger Allgemeine Versicherungs AG, Rz 17, NJW 05, 44; zum Verhältnis von Art 31 CMR und Art 71 ferner EuGH C-157/13 – Nickel & Goeldner Spedition, ZIP 15, 96; C-533/08 – TNT Express Nederland/AXA, NJW 10, 1736 [EuGH 04.05.2010 - Rs. C-533/08]). Das Inkorporationsmodell ist zwar kons...

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