Zusammenfassung

 

Art. 31 Brüssel Ia-VO(1) Ist für die Verfahren die ausschließliche Zuständigkeit mehrerer Gerichte gegeben, so hat sich das zuletzt angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären.

(2) Wird ein Gericht eines Mitgliedstaats angerufen, das gemäß einer Vereinbarung nach Artikel 25 ausschließlich zuständig ist, so setzt das Gericht des anderen Mitgliedstaats unbeschadet des Artikels 26 das Verfahren so lange aus, bis das auf der Grundlage der Vereinbarung angerufene Gericht erklärt hat, dass es gemäß der Vereinbarung nicht zuständig ist.

(3) Sobald das in der Vereinbarung bezeichnete Gericht die Zuständigkeit gemäß der Vereinbarung festgestellt hat, erklären sich die Gerichte des anderen Mitgliedstaats zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.

(4) Die Absätze 2 und 3 gelten nicht für Streitigkeiten, die in den Abschnitten 3, 4 oder 5 genannt werden, wenn der Kläger Versicherungsnehmer, Versicherter, Begünstigter des Versicherungsvertrags, Geschädigter, Verbraucher oder Arbeitnehmer ist und die Vereinbarung nach einer in den genannten Abschnitten enthaltenen Bestimmung nicht gültig ist.

 

Rn 1

Die Vorschrift hatte bis zur Reform im Jahre 2015 keine große praktische Bedeutung. Obwohl sie sich nach Entstehung und systematischer Stellung sowohl auf die Fälle des Art 29 als auch auf diejenigen des Art 30 bezieht, wird man die Anwendung des Art 31 auf Fälle des Art 29 (identische Parteien, identischer Streitgegenstand iSd Art 27) beschränken müssen, da die Rechtsfolge des Art 31 (Unzuständigerklärung durch das später angerufene Gericht) zum flexiblen Maßstab des Art 30 nicht passt. Damit betrifft Art 31 Abs 1 nur den Fall, dass für zwei Verfahren mit identischen Parteien und Streitgegenstand unterschiedliche Gerichte ausschließlich zuständig sind.

 

Rn 2

Die Einfügung der Abs 2 bis 4 führt insofern zu einer praktisch höchst bedeutsamen Konzeptionsänderung, als sie den bisher starren Vorrang zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts durchbricht, wenn die Vereinbarung einer ausschließlichen Zuständigkeit eines anderen Gerichts vorgetragen wurde. Sie orientiert sich am Vorbild des Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen, ohne mit dessen Regelungen vollständig übereinzustimmen. Diese Neuorientierung stellt nicht nur eine Einschränkung des Art 31 I, sondern vor allem auch von Art 29 dar. Die Vorschrift setzt voraus, dass die Parteien eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts vereinbart haben. Im Falle einer nur einseitig bindenden Gerichtsstandsvereinbarung greift die Vorschrift immer dann, wenn die Klage vor dem zuerst angerufenen Gericht entgegen der zugunsten des dortigen Beklagten vereinbarten ausschließlichen Zuständigkeit des später angerufenen erhoben wurde (BGH NJW-RR 21, 1207 [BGH 15.06.2021 - II ZB 35/20]). Die Anwendung der Abs 2–4 hängt im Übrigen nicht von der vollen Wirksamkeitsprüfung der vorgebrachten ausschließlichen Zuständigkeitsvereinbarung ab, da diese (ebenso wie die Klärung von Auslegungszweifeln) dem prorogierten Gericht vorbehalten ist. Vielmehr entspricht dem Sinn der Neuregelung eine prima facie-Prüfung der Vereinbarung durch das derogierte Forum, die lediglich dann zur Durchbrechung des Vorrangs nach Abs 2 führen kann, wenn in rechtlicher Hinsicht offensichtlich ist und in tatsächlicher Hinsicht liquide feststeht, dass die Gerichtsstandsvereinbarung keinen Derogationseffekt für die Klage vor dem angeblichen Forum derogatum entfaltet (Pfeiffer ZZP 127 [14], 409, 422; Domej RabelsZ 78 [14], 536; Tretthahn/Hiersche ÖJZ 14, 57, 61). Die im Haager Übereinkommen vorgesehenen Einschränkungen des Vorrangs der ausschließlichen Prorogation für die Fälle des Ordre public-Verstoßes, der ›offensichtlichen Ungerechtigkeit der Vereinbarung‹ und der fehlenden Prorogationsbefugnis nach dem Recht des derogierten Forums lassen sich nicht auf die VO übertragen (Pfeiffer ZZP 127 [14], 409, 421f). Auch eine überlange Verfahrensdauer rechtfertigt nach der zur zeitlichen Prioritätsregel ergangenen, aber wohl auf Art 31 II zu übertragenden Rspr des EuGH (C-116/02 – Gasser), keine Abweichung von den Prioritätsregeln der VO (vgl Pfeiffer ZZP 127 [14], 409, 421f), so dass nunmehr auch eine ›umgekehrte‹ Torpedoklage durch unrichtige Behauptung einer Gerichtsstandsvereinbarung nicht ausgeschlossen ist.

 

Rn 3

Liegen die Voraussetzungen des Art 31 II vor, besteht als Rechtsfolge für das zuerst angerufene Gericht die Pflicht, sein Verfahren auszusetzen. Ist das das zuerst angerufene, aber derogierte Gericht seiner Aussetzungspflicht nicht oder noch nicht nachgekommen ist, kann das als zweites angerufene Gericht dennoch nach dieser Vorschrift verfahren und sein Verfahren fortsetzen. Das gilt aber nicht, wenn Art 31 II unanwendbar ist, insb, weil widersprüchliche Gerichtsstandsvereinbarungen vorliegen (Rn 4). Setzt das zuerst angerufene Gericht sein Verfahren pflichtwidrig fort, werden parallele Verfahren zwar insofern hingenommen als keine pr...

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