Rn 4

Hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Verordnung ist zu unterscheiden: Art 1 regelt den sachlichen (auch: gegenständlichen oder persönlichen) Anwendungsbereich. Der Begriff ›Zivilsachen‹ soll weiterhin Anträge, Maßnahmen oder Entscheidungen sowie öffentliche Urkunden und bestimmte außergerichtliche Vereinbarungen über die Rückgabe eines Kindes nach dem Haager Übereinkommen von 1980 umfassen. Sowohl gerichtliche als auch behördliche Verfahren, wie bspw das Verwaltungsverfahren gem Art 1778a port Cc sind daher als Zivilsachen anzusehen. Die Verordnung gilt in Bezug auf Ehesachen nur für die Ehe, nicht für andere Verbindungen, wie etwa registrierte verschieden- oder gleichgeschlechtliche Verbindungen. Allerdings ist der Begriff der Ehe – der in der Verordnung nicht definiert wird – wie alle Begriffe der Verordnung autonom – unter Berücksichtigung ihrer Erwägungsgründe und Systematik – auszulegen. Höchst strittig ist nach wie vor, ob auch die Ehe gleichgeschlechtlicher Partner unter die Verordnung fällt (Rauscher/Helms Art 1 Rz 6 f; Überblick bei Mankowski IPRax 17, 541, 546). Für die jeweiligen Ansichten lassen sich mehr oder weniger gewichtige Argumente finden. Die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Deutschland ändert an der gebotenen autonomen Auslegung allerdings nichts. Zur Vermeidung unterschiedlicher internationaler Zuständigkeit sollte auch für solche Ehen eine internationale Zuständigkeit nach der Verordnung bejaht werden. Ansonsten hilft nur der Rückgriff auf § 98 FamFG. Privatscheidungen aus Drittstaaten werden dagegen von der Verordnung nicht erfasst (EuGH FamRZ 18, 169; BGH FamRZ 20, 1811; Anm Dimmler FamRB 20, 471). Ob auch die in den Mitgliedstaaten erfolgten Privatscheidungen (in Italien Cubeddu Wiedemann/Henrich FamRZ 15, 1253; in Spanien Ferrer y Riba FamRZ 16, 1557; in Frankreich Ferrand/Francoz-Terminal, FamRZ 17, 1456; in Griechenland Koutsouradis FamRZ 18, 1389; eingehend auch Antomo StAZ 20, 33; Gruber/Möller IPRax 20, 393, 401) der Verordnung unterfallen, ist streitig. Auf das Vorabentscheidungsersuchen des BGH (FamRZ 21, 119; Anm Dimmler FamRB 21, 2) hat der EuGH (FamRZ 23, 21 mAnm Dutta FamRZ 23, 16; Anm Dimmler FamRB 23, 4) entschieden, dass auch eine von einem italienischen Standesbeamten errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Eheleute über die Ehescheidung enthält, eine anerkennungsfähige Entscheidung nach der VO darstellt. Denn der italienische Standesbeamte prüft in gewissem Umfang die in seinem geltenden innerstaatlichen Recht festgelegten Voraussetzungen. Kirchliche Entscheidungen (NK-BGB/Gruber Art 1 Rz 16) werden jedenfalls von dieser Verordnung nicht erfasst (zur religiösen jüdischen Scheidung als gerichtliche Scheidung Elmaliah/Thomas FamRZ 18, 739, 745). Die Zuständigkeitsnormen der Verordnung gelten ohne Ansehung der Staatsangehörigkeit der Beteiligten (Stuttg FamRZ 04, 1382; Kobl FamRZ 09, 611, 612), zugleich muss nicht zwingend ein kompetenzrechtlicher Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat vorliegen (EuGH NJW 19, 415 Rz 41 Anm Dimmler FamRB 18, 474; BGH FamRZ 08, 1409). Der EuGH hat sich erstmals (FamRZ 08, 125) zum Anwendungsbereich der Verordnung geäußert und auch die nach öffentlichem Recht erfolgte Inobhutnahme und Inpflegegabe eines Kindes zu Kinderschutzzwecken zivilrechtlich qualifiziert und damit dem Anwendungsbereich der Verordnung unterstellt. Dies hat der EuGH in der Nachfolge bestätigt (FamRZ 09, 843; FamRZ 16, 2071; Anm Pirrung IPRax 17, 562; Anm Dimmler FamRB 17, 14).

 

Rn 5

Der räumliche (oder: territoriale) Anwendungsbereich (dazu auch Andrae IPRax 06, 82) ergibt sich vereinfacht aus Art 2 Nr 3 (alle EU-Mitgliedstaaten außer Dänemark) und im Detail – zB betreffend die überseeischen Departements Frankreichs – aus Art 355 AEUV, in dem das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten genau definiert wird. Mit dem Ablauf des 31.12.20 ist auch das VK nicht mehr Mitgliedstaat, sondern Drittstaat (aber jedenfalls KSÜ-Mitgliedstaat). Vor dem 31.12.20 beantragte Scheidungen im VK können auch nach dem Ablauf des 31.12.20 nach den Vorschriften der Art 21 ff der Verordnung anerkannt werden (vgl Art 67 II lit b des Abkommens v 24.1.20 über den Austritt des VK aus der EU, ABl 20 L 29, geändert durch Beschl v 12.6.20, ABl 20 L 225 S 7; Mankowski NZFam 21, 237; Gottwald FamRZ 20, 965; Dutta StAZ 20, 65; Niethammer-Jürgens IWRZ 19, 106; zum Sorgerecht Zühlsdorff JAmt 20, 606, 607). Die Zwergstaaten Andorra, San Marino und Monaco gehören ebenso wenig wie der Vatikanstaat zur EU.

 

Rn 6

Der zeitliche Geltungsbereich folgt aus Art 72 (ab 1.3.05) und Art 64 (Übergangsvorschrift). Für die nach dem 1.3.05 der EU beigetretenen Mitgliedstaaten ist die Verordnung indes frühestens ab dem Tag ihres Beitritts anwendbar (vgl EuGH FamRZ 10, 2049 zur Brüssel II-VO [VO Nr 1347/2000]); Kroatien ab dem 1.7.13 (dazu BGH FamRZ 19, 996).

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