Entscheidungsstichwort (Thema)

Gleichstellung mit Facharbeitern. Wettbewerbsfähigkeit

 

Orientierungssatz

1. Hat ein Versicherter die für einen Facharbeiterberuf vorgesehene berufliche Ausbildung nicht durchlaufen, ist gleichwohl die berufliche Tätigkeit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen, wenn sie ihrer Qualität nach dem Berufsbild des Facharbeiters entsprochen hat und nicht nur vorübergehend "vollwertig" ausgeübt worden ist.

2. Hinsichtlich der "Wettbewerbsfähigkeit" im Verhältnis zu voll ausgebildeten Facharbeitern muß auf die Wirklichkeit des allgemeinen Berufslebens abgestellt werden.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 1 S 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.10.1987; Aktenzeichen L 4 J 212/86)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 08.07.1986; Aktenzeichen S 7 J 60/84)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der 1933 geborene Kläger besuchte acht Jahre lang die Volksschule. Eine förmliche Ausbildung, insbesondere als Maurer, erhielt er nicht. Zunächst als Hilfsarbeiter tätig, war er ab 1965 als Maurer versicherungspflichtig beschäftigt.

Im November 1977 erlitt er einen Arbeitsunfall. Nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit gewährte ihm die zuständige Berufsgenossenschaft ab Februar 1980 eine Teilrente in Höhe von zunächst 30, später von 20 vH. Nachdem der Kläger seine Tätigkeit als Maurer Anfang Februar 1980 wieder aufgenommen hatte, erlitt er bereits im März 1980 einen weiteren Arbeitsunfall, aufgrund dessen ihm ab 15. November 1981 eine Teilrente von 20 vH zuerkannt wurde. Von diesem Tag an war der Kläger arbeitslos gemeldet. Er erhielt Arbeitslosenhilfe bis 12. Januar 1984.

Seinen Antrag vom Februar 1982 auf Gewährung der Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit (BU oder EU) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. Mai 1982 ab. Auf die nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 9. August 1983) erhobene und auf die Gewährung von Rente wegen BU beschränkte Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) mit Entscheidung vom 8. Juli 1986 die Beklagte, dem Kläger ab 1. März 1982 Rente wegen BU zu gewähren.

Die von der Beklagten dagegen eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 15. Oktober 1987 zurück. Dem Kläger stehe Rente wegen BU zu, da er den Beruf des Maurers aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben könne und keine anderen Tätigkeiten ersichtlich seien, auf die er zumutbar zu verweisen sei. Trotz fehlender förmlicher Ausbildung zum Maurer sei er aufgrund der von ihm ausgeübten Tätigkeit als Facharbeiter einzustufen. Er habe nicht nur Entlohnung als Facharbeiter erhalten, sondern sich vor allem auch die für die Ausübung des Ausbildungsberufes des Maurers erforderlichen theoretischen und praktischen Fähigkeiten durch langjährige Berufstätigkeit angeeignet. Zwar seien bei ihm gewisse Defizite in den Kenntnissen nicht zu übersehen. Diese Defizite seien aber für seine Einstufung nicht erheblich, weil das bei ihm teilweise fehlende theoretische Wissen in der täglichen Praxis des einfachen Maurers nicht benötigt werde. Für die qualitative Bewertung seiner bisherigen Berufstätigkeit sei eine Zuordnung streng nach Berufsbeschreibung und -bild der Verordnung über die Berufsausbildung in der Bauwirtschaft (Bauwirtschaft-Ausbildungs-VO -BauAusbV-) vom 8. Mai 1974 (BGBl I S 1073) nicht der geeignete Maßstab.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Abweichung von einer Entscheidung des erkennenden Senats sowie sinngemäß die Verletzung materiellen und formellen Rechts.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Oktober 1987 und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 8. Juli 1986 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die kraft Zulassung durch das LSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 8. Juli 1986 zurückgewiesen und die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Rente wegen BU ab 1. März 1982 bestätigt.

Nach § 1246 Abs 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung (aF) erhält Rente wegen BU der Versicherte, der berufsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Nach Abs 2 Satz 1 der Vorschrift ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach Satz 2 der Regelung umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zu Recht hat das LSG auf dieser Grundlage nach den tatsächlichen Feststellungen, die es dazu getroffen hat, den Kläger entsprechend dem arbeitsmarktlichen Wert seiner Tätigkeit einem voll ausgebildeten Maurer gleichgestellt und ihn innerhalb des vom Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung entwickelten und aufrechterhaltenen Mehrstufenschemas (vgl dazu aus letzter Zeit nur BSG SozR 2200 § 1246 Nr 151 mwN) in die Gruppe der Erwerbstätigen eingereiht, deren Leitberuf der Beruf des Facharbeiters ist.

Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und daher für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Kläger keine Gesellenprüfung abgelegt, ist allerdings wie ein geprüfter Maurergeselle entlohnt worden. Wenn das LSG aus der letzten Tatsache allein noch nicht den Schluß gezogen hat, daß der Kläger im Mehrstufenschema in die Gruppe der Facharbeiter einzuordnen ist, so ist dies für sich genommen nicht zu beanstanden. In ständiger Rechtsprechung hat das BSG die tarifliche Einstufung der "bisherigen Berufstätigkeit" eines Versicherten als zuverlässiges Indiz für die Qualität der ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung angesehen (vgl Urteile des erkennenden Senats vom 11. Juli 1985 - 5b RJ 88/84 - und 9. September 1986 - 5b RJ 82/85 - in BSG SozR 2200 § 1246 Nr 129 = BSGE 58, 239 und Nr 140, jeweils mwN). Es hat dabei aber zugleich deutlich gemacht, daß sich die Qualität und betriebliche Bedeutung einer Tätigkeit nicht einfach aus der Entlohnung als Einzeltatsache ableiten lassen. Maßgebend ist vielmehr das aus den tariflichen Tätigkeitsmerkmalen und dem Gesamtzusammenhang des Tarifvertrags zu entnehmende berufskundliche Anforderungsprofil einer Beschäftigung. Die zunächst zu vermutende Richtigkeit der tariflichen Einstufung eines Beschäftigten kann also durchaus widerlegt werden (vgl Urteile des erkennenden Senats vom 27. Januar 1981 - 5b/5 RJ 76/80 -, 10. Februar 1983 - 5b RJ 8/82 - und 11. Juli 1985 - 5b RJ 88/84 - in SozR 2200 § 1246 Nrn 77, 106, 129).

Für Fälle, in denen der Versicherte die für einen Facharbeiterberuf vorgesehene berufliche Ausbildung nicht durchlaufen hat, hat das BSG in ständiger Rechtsprechung gleichwohl die berufliche Tätigkeit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet, wenn sie ihrer Qualität nach dem Berufsbild des Facharbeiters entsprochen hat und nicht nur vorübergehend "vollwertig" ausgeübt worden ist. Zugleich ist hervorgehoben worden, es sei im Interesse einer klaren und sachgerechten Abgrenzung geboten, eingehend zu prüfen, ob die abweichend vom "normalen" Ausbildungsweg erlangte berufliche Position tatsächlich in "voller Breite" derjenigen des Facharbeiters entspricht. Neben der gleichen tariflichen Einstufung und Entlohnung sei zu verlangen, daß der Versicherte nicht nur eine seinem individuellen Arbeitsplatz entsprechende Leistung erbracht, sondern auch über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten verfügt hat, die von einem Facharbeiter "gemeinhin" erwartet werden. In diesem Sinne müsse eine "Wettbewerbsfähigkeit" im Verhältnis zu voll ausgebildeten Facharbeitern bestanden haben (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 53, 55, 62, 68, 70, 126, 131, 138, 150).

Diese Rechtsprechung, an deren grundsätzlicher Aussage festzuhalten ist, darf freilich in ihrer praktischen Umsetzung und Anwendung auf die Wirklichkeit des allgemeinen Berufslebens nicht mißverstanden werden. Bei der für die Einordnung in das Mehrstufenschema maßgeblichen "Wettbewerbsfähigkeit" ist vielmehr zu beachten, daß sich berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten mit der Fortentwicklung der konkreten menschlichen Persönlichkeit umschichten, aufbauen, verringern oder sogar ganz verlieren können. Die berufliche Qualifikation, die beispielsweise ein Facharbeiter kurz nach Abschluß der für ihn vorgeschriebenen Fachausbildung hat und die maßgebend von den Anforderungen der abgelegten Prüfung bestimmt ist, wird sich nicht selten merklich von dem Wissens- und Könnensstand unterscheiden, den ein Versicherter desselben Faches nach langjähriger Berufspraxis aus seiner täglichen Arbeitserfahrung heraus hat und der vor allem auch durch eine Spezialisierung innerhalb der jeweiligen die Facharbeitereigenschaft begründenden Berufssparte geprägt sein kann. Entscheidend für die Gleichstellung im Mehrstufenschema als Facharbeiter ist daher stets nur das Gesamtbild der beruflichen Qualifikation, die ein Versicherter ohne abgeschlossene Ausbildung aufweist und die dem Leistungsstandard genügen muß, der für einen Facharbeiter der betreffenden Fachrichtung als Berufstyp allgemein verlangt wird. Qualifikationsschwächen können insoweit durch Qualifikationsstärken ebenso kompensiert wie zeitbedingter Verlust an theoretischem Wissen durch Ansammlung berufspraktischer Erfahrung ausgeglichen werden, wenn sie beide innerhalb der gegenständlichen "Bandbreite" des zugrundeliegenden berufskundlichen Anforderungsprofils liegen.

Für die Beantwortung der Frage, ob ein Versicherter ohne oder mit nur teilweiser Ausbildung, der Facharbeiten ausführt, im Verhältnis zu einem Facharbeiter "wettbewerbsfähig" im oben genannten Sinn ist und diesem im Rahmen des Mehrstufenschemas gleichgestellt werden kann, folgt hieraus, daß als Vergleichsbasis nicht stets nur der Stand an fachlichen Kenntnissen und Fertigkeiten herangezogen werden darf, den ein Facharbeiter bei oder kurz nach seiner Abschlußprüfung hat und der sich für immer mehr Berufe unmittelbar aus der jeweiligen Berufsausbildungsordnung ablesen läßt. Zugrunde gelegt werden muß vielmehr das Gesamtbild beruflicher Qualifikation, das ein Facharbeiter bietet, der dem Probanden nach Lebensalter, Berufsverlauf und zuletzt ausgeübter Tätigkeit - die Aspekte einer förmlichen Ausbildung selbstverständlich ausgenommen - entspricht. Eine derartige angepaßte, die faktische Entwicklung der Persönlichkeit fortschreibende Betrachtungsweise ist insbesondere für das Maß an theoretischem Fachwissen erforderlich, das zur Annahme der "Wettbewerbsfähigkeit" des Betreffenden allein vertretbar vorausgesetzt werden kann. Bereits in seinem Urteil vom 20. September 1988 - 5/5b RJ 32/87 - hat der erkennende Senat betont, daß die Anforderungen insofern nicht überspannt werden dürfen. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, daß auch gelernte, ausgebildete Facharbeiter nach langjähriger Berufstätigkeit einen Teil insbesondere ihres theoretischen Fachwissens verloren haben. Bei der Prüfung der "Wettbewerbsfähigkeit" kann deshalb von einem Facharbeiten ausführenden Versicherten ohne oder mit nur teilweiser Ausbildung nicht mehr an theoretischen Kenntnissen verlangt werden, als von einem langjährig tätigen gelernten Versicherten in seiner Berufsgruppe im allgemeinen erwartet wird.

Die Einstufung des Klägers als Facharbeiter durch das Berufungsgericht geht im gedanklichen Ansatz von einer Rechtsauffassung aus, die sich inhaltlich mit den dargestellten Regeln zur Beurteilung der "Wettbewerbsfähigkeit" deckt. Eine Verletzung des materiellen Rechts, wie sie die Revision rügt, liegt daher insoweit nicht vor. Infolge hiervon beanstandet auch die Beklagte zu Unrecht, das LSG habe hinsichtlich der theoretischen Kenntnisse des Klägers seine Pflicht zur Amtsermittlung aus § 103 Satz 1 SGG unzureichend erfüllt. Von seinem zutreffenden Rechtsstandpunkt aus konnte sich das Gericht mit den von ihm erhobenen Beweisen, insbesondere der Vernehmung des Zeugen J. , begnügen, um daraus in prozessual nicht zu bemängelnder Weise die Qualität der vom Kläger ausgeführten Arbeit als Facharbeitertätigkeit festzustellen. Rechtsfehler enthält das angefochtene Urteil auch nicht insofern, als es die übrigen Voraussetzungen eines Rentenanspruchs des Klägers bejaht. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zur Unfähigkeit des Klägers, seinen bisherigen Beruf weiter auszuüben, zu seiner Verweisbarkeit sowie zur Erfüllung der Wartezeit sind nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angegriffen worden und damit gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend.

Der Revision der Beklagten mußte nach allem der Erfolg versagt bleiben; sie war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655185

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