Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Aufklärung über den für die Frage der Verweisbarkeit entscheidenden Wert einer ausgeübten Tätigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Facharbeiter fällt für die Frage seiner Verweisbarkeit (RVO § 1246 Abs 2 S 2) nicht schon deshalb in die Gruppe der "besonders hoch qualifizierten Facharbeiter", weil er einen besonders hohen Akkord- und Stundenlohn erhält und für das Ergebnis seiner Arbeit einzustehen hat.

2. Zur Frage der Vergleichbarkeit von Tarifverträgen bei der Prüfung zumutbarer Verweisungstätigkeiten (teilweise Aufgabe von BSG 1977-09-22 5 RJ 96/76 = BSGE 44, 288).

3. Entspricht die - relativ hohe - tarifliche Einstufung nicht der objektiven Qualität der ausgeübten Tätigkeit, so ist es für die Frage, ob es sich dabei um eine zumutbare Verweisungstätigkeit iS von RVO § 1246 Abs 2 S 2 handelt, nicht rechtserheblich, daß der Arbeitgeber die tarifliche Einstufung für gerechtfertigt hält (Bestätigung und Fortführung von BSG 1980-11-28 5 RJ 50/80).

 

Orientierungssatz

Eine gemäß § 164 Abs 2 S 3 SGG formgerecht erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung des § 103 SGG greift dann durch, wenn bei der Prüfung der Verweisbarkeit iS des § 1246 Abs 2 S 2 RVO davon ausgegangen worden ist, daß eine relativ hohe tarifliche Einstufung des Klägers bei seiner Beschäftigungsfirma auch tatsächlich der objektiven Qualität der ausgeübten Tätigkeiten entspricht.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 164 Abs 2 S 3 Fassung: 1974-07-30, § 103 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.04.1980; Aktenzeichen L 3 J 64/78)

SG Dortmund (Entscheidung vom 25.01.1978; Aktenzeichen S 2 J 156/77)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 der Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Der 1923 geborene Kläger schloß 1945 eine Lehre als Former mit der Facharbeiterprüfung ab. Danach war er bis 1950 als Maurer, von 1950 bis 1955 als Betriebsmaurer, von 1955 bis 1960 als Maurer und Fliesenleger und von 1960 bis 1977 als Fliesenleger beschäftigt. Seit dem 1. April 1977 ist der Kläger bei einer Installations- und Schaltergerätefabrik als Hausmeister und Montierer tätig. Er wird nach der Lohngruppe 6 des § 3 des Lohnrahmenabkommens in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens vom 26. September 1957/15. April 1970 nach dem Stand vom 19. Februar 1975 entlohnt.

Am 11. März 1977 beantragte der Kläger die Bewilligung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 13. Juni 1977 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab.

Das Sozialgericht -SG- hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Januar 1978). Vor dem Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger hilfsweise -ua- beantragt, über die tarifgerechte Eingruppierung seiner seit dem 1. April 1977 ausgeübten Tätigkeit nach den Tätigkeitsmerkmalen Beweis zu erheben. Mit Urteil vom 18. April 1980 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger genieße den Berufsschutz eines gelernten Fliesenlegers, also eines Facharbeiters. Diesen Beruf könne er zwar nicht mehr ausüben, doch sei er dennoch nicht berufsunfähig. Er müsse sich auf die von ihm seit April 1977 ausgeübte Tätigkeit eines Hausmeisters und Montierers bei der Firma S verweisen lassen. Er werde nach der Lohngruppe 6 des Lohnrahmenabkommens in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen nach dem Stand vom 19. Februar 1975 entlohnt, während ein gelernter Facharbeiter in der Lohngruppe 7 eingereiht sei. Er liege also nur eine Gruppe niedriger als ein Facharbeiter. Anhaltspunkte dafür, daß die relativ hohe Einstufung des Klägers nur "vergönnungsweise" erfolge, ergäben sich aus den Auskünften der Firma S nicht. Die verhältnismäßig gute Eingruppierung in die Lohngruppe 6 beruhe nach der Überzeugung des Gerichts darauf, daß von beiden Tätigkeiten des Klägers (Hausmeister und Montierer) die des Hausmeisters "qualitativ im Vordergrund" stehe. Eine sachlich nicht gerechtfertigte hohe Entlohnung erfolge "vergönnungsweise" in der Regel nur dann, wenn ein langjähriger Mitarbeiter von einem höher datierten auf einen tiefer eingestuften Arbeitsplatz aus gesundheitlichen Gründen umgesetzt werde. Davon könne bei einer Neueinstellung, wie hier, jedoch nicht die Rede sein. Die Firma S habe in ihrer Auskunft erklärt, daß die vom Kläger erbrachten Leistungen dem Entgelt entsprächen. Die Einholung eines arbeitsanalytischen Gutachtens sei deshalb nicht nötig gewesen. Der Kläger sei seiner jetzigen Tätigkeit auch gewachsen. Mehr als durchschnittliche geistige Fähigkeiten seien bei dieser Arbeit, die überwiegend handwerkliches Geschick und Können verlange, nicht erforderlich. Im übrigen müßte sich der Kläger auch, falls er nicht seinen jetzigen Arbeitsplatz innehätte, auf die Beschäftigung als Werkspförtner mit gelegentlicher Telefonbedienung, als Verwieger und als Ausgeber leichter Werkzeuge verweisen lassen. Die von dem medizinischen Sachverständigen festgestellten Gesundheitsstörungen beeinträchtigten die Leistungsfähigkeit des Klägers für leichte und mittelschwere Arbeiten nicht.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 RVO und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen

vom 18. April 1980, das Urteil des SG Dortmund

vom 25. Januar 1980 aufzuheben und die Beklagte

unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. Juni 1977

zu verurteilen, Rente wegen Berufsunfähigkeit zu

gewähren,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und

Entscheidung an das LSG Nordrhein-Westfalen

zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision des Klägers ist das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird noch Feststellungen dazu zu treffen haben, ob die jetzige Tätigkeit des Klägers einer angelernten Arbeit qualitativ gleichwertig ist und verneinendenfalls, ob er sonstige angelernte Arbeiten oder ihnen gleich zu erachtende nach seinen verbliebenen Fähigkeiten noch verrichten kann.

Wie das LSG festgestellt hat, kann der Kläger den von ihm bisher ausgeübten Beruf des Fliesenlegers nicht mehr ausüben. Das LSG hat den Kläger bei der Prüfung der Verweisbarkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zu Recht als Facharbeiter eingestuft. Die Feststellungen des LSG, der in der Berufungsinstanz vom Kläger bisher unter Beweis gestellte Vortrag und das Revisionsvorbringen des Klägers geben keinen ausreichenden Anhalt für die Annahme, daß der Kläger nicht nur Facharbeiter ist, sondern der höchsten Berufsgruppe der Arbeiter, also der des "Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion" oder des "besonders hoch qualifizierten Facharbeiters zuzuordnen ist mit der Folge, daß er zumutbar nur auf Tätigkeiten zu verweisen wäre, die nach ihrer tariflichen Einstufung in die - nachfolgende - Gruppe der Facharbeiter fallen (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 15. Februar 1979 in SozR 2200 § 1246 Nr 37 mwN). Allein die Tatsache, daß Fliesenleger allgemein besonders günstige Akkord- und Stundenlöhne in ihren Tarifverträgen durchgesetzt und - ohne Abschluß besonderer Werkverträge - für das Ergebnis ihrer Arbeit einzutreten haben, macht nicht aus den Fliesenlegern schlechthin "besonders hoch qualifizierte Facharbeiter". Die verschiedenen Facharbeiter unterliegen in ihrer Entlohnung durch den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung Schwankungen, die dazu führen können, daß ein Facharbeiterberuf gegenüber anderen relativ hoch entlohnt wird, ein weiterer vielleicht relativ niedrig. Diese Entwicklung hat bereits zum Rückgang einzelner Facharbeiterberufe geführt, ohne daß damit gesagt werden kann, dieser Berufsstand habe qualitativ nachgelassen. Umgekehrt führt die hohe Entlohnung in einem gelernten Beruf allein noch nicht zu dem Schluß, dieser Lehrberuf sei gegenüber anderen qualitativ besonders ausgezeichnet. Eine andere Frage - für die sich aus den Tatsachenfeststellungen des LSG noch nichts ergibt und zu der auch der Kläger noch nichts Hinreichendes dargetan hat - ist, ob der Kläger in seinem Beruf eine Spitzenstellung nicht nur hinsichtlich der Entlohnung, sondern auch in qualitativer Hinsicht, eingenommen hat und deshalb womöglich als "besonders hoch qualifizierter Facharbeiter" im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu beurteilen ist (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 15. Februar 1979 aaO).

Entscheidend für die berufliche Stellung des Arbeiters ist sowohl bei der Feststellung des bisherigen Berufs als auch bei den in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten der qualitative Wert der Tätigkeiten. Dabei spiegelt die tarifliche Einstufung einer beruflichen Tätigkeit durch die unmittelbar am Arbeitsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise (Tarifpartner) deren qualitativen Wert relativ zuverlässig wieder. Die tarifliche Einstufung ist also lediglich ein Hilfsmittel, die objektive Qualität des bisherigen Berufs und der Verweisungstätigkeiten zu bestimmen (so die ständige Rechtsprechung des BSG, vgl SozR 2200 § 1246 Nr 49 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Aus der Entlohnung allein läßt sich Qualität und betriebliche Bedeutung nicht einfach ablesen. Deshalb können auch dann zwei Tätigkeiten hinsichtlich ihrer qualitativen Bedeutung zueinander in Beziehung gesetzt werden, wenn sie jeweils in zwei verschiedenen Tarifverträgen zu Grunde gelegt werden, bei denen die Ecklöhne bzw die jeweils niedrigsten Facharbeiterlöhne erheblich voneinander abweichen. Ohne Bedeutung ist, ob der Ecklohn bzw der niedrigste Facharbeiterlohn des Tarifvertrages, nach dem der Kläger nunmehr entlohnt wird, gegenüber dem entsprechenden Tariflohn des für den Hauptberuf maßgebenden Tarifvertrages mehr als 20 % niedriger ist. Der Senat hat zwar bei einer derartigen Lohndifferenz in dem von der Revision angeführten Urteil vom 22. September 1977 - 5 RJ 96/76 - (BSGE 44, 288 = SozR 2200 § 1246 Nr 23) eine Vergleichbarkeit von Tarifverträgen verneint. Insoweit hält indes der Senat an dieser Entscheidung nicht fest. Entscheidend ist vielmehr der aus den tariflichen Tätigkeitsmerkmalen und aus dem Gesamtzusammenhang des Tarifvertrages zu entnehmende qualitative Wert der jeweiligen Tätigkeit. Eine andere Betrachtung würde auch bedeuten, daß eine Rangskala der verschiedenen Facharbeiterberufe untereinander begründet würde, je nach dem, wie gut sie allgemein entlohnt werden. Das wäre aber mit den für eine zumutbare Verweisungstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO maßgebenden Kriterien, wonach es allein auf die objektive Qualität der Tätigkeit und gerade nicht auf die tatsächliche Lohnhöhe ankommt, nicht zu vereinbaren.

In tatsächlicher Hinsicht hat das LSG weiter festgestellt, daß von den beiden Tätigkeiten des Klägers (Hausmeister und Montierer) die des Hausmeisters "qualitativ im Vordergrund" stehe und daß die Tätigkeit als Hausmeister und Montierer von der Firma S für so qualifiziert angesehen werde, daß die relativ günstige Einstufung sachlich gerechtfertigt sei. Darauf kommt es indes rechtlich nicht an. Weder die tarifliche Einstufung noch die subjektive Meinung des Arbeitgebers über den qualitativen Wert einer Tätigkeit entbindet das Tatsachengericht davon, deren objektiven Wert selbst zu ermitteln. Dabei ist die Tatsache, daß ein Arbeiter wie ein angelernter Arbeiter entlohnt wird, lediglich ein Indiz dafür, daß er auch qualitativ Arbeiten verrichtet, die dieser tariflichen Eingruppierung entsprechen (vgl insoweit das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 28. November 1980 - 5 RJ 50/80 -).

Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG - was nach alledem bei der Prüfung der Verweisbarkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO erforderlich gewesen wäre - davon ausgegangen ist, daß die relativ hohe tarifliche Einstufung des Klägers bei seiner jetzigen Beschäftigungsfirma auch tatsächlich der objektiven Qualität der ausgeübten Tätigkeiten entspricht. Selbst wenn man dies den Ausführungen im angefochtenen Urteil, daß die Hausmeistertätigkeit im Vordergrund stehe und diese handwerkliches Geschick und Können verlange, entnehmen wollte, greift insoweit die vom Kläger gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG formgerecht erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung des § 103 SGG durch. Da der Kläger - wie aus seinem in der mündlichen Verhandlung des LSG hilfsweise gestellten Beweisantrag erhellt - die tarifgerechte Eingruppierung seiner ausgeübten Tätigkeiten bestritten hat und sich aus den vom SG und vom LSG eingeholten Arbeitgeberauskünften weder eine "im Vordergrund stehende" Hausmeistertätigkeit noch ein hierfür erforderliches handwerkliches Geschick und Können ergibt, hätte sich das LSG - wie mit der Revision zutreffend gerügt wird - zu einer weiteren Aufklärung über den für die Frage der Verweisbarkeit des Klägers entscheidenden Wert seiner ausgeübten Tätigkeiten gedrängt fühlen müssen.

Soweit das LSG den Kläger auf die Beschäftigungen eines Werkspförtners mit gelegentlicher Telefonbedienung, als Verwieger und als Ausgeber leichter Werkzeuge verweisen will, reichen seine sehr allgemein gehaltenen Ausführungen nicht aus, um erkennen zu lassen, ob es von den Grundsätzen ausgeht, die hinsichtlich der Verweisbarkeit von Facharbeitern in der Rechtsprechung des BSG anerkannt sind. Als Facharbeiter kann der Kläger nur auf Beschäftigungen verwiesen werden, die qualitativ einer Anlerntätigkeit entsprechen. Welchen Inhalt die vom LSG genannten Tätigkeiten jedoch haben, ob sie so hochwertig sind, daß sie dem Kläger zumutbar sind und ob der Kläger ihnen gewachsen ist, ist im einzelnen vom LSG nicht dargelegt worden. Das Tatsachengericht muß zunächst konkret bezogen auf den Einzelfall substantiiert prüfen, welche beruflichen Anforderungen an die in Erwägung gezogene Verweisungstätigkeit gestellt werden. Sodann ist festzustellen, ob der Versicherte diesen beruflichen Anforderungen nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen genügen kann und ob die Tätigkeit seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht bzw nach einer Einarbeitungs- oder Einweisungszeit bis zu drei Monaten ausgeübt werden kann. Schließlich ist insbesondere an Hand ihrer tariflichen Einstufung zu prüfen, ob sich die Tätigkeit qualitativ deutlich aus dem Bereich der ungelernten Arbeiten heraushebt (vgl hierzu insbesondere Urteile des erkennenden Senats vom 15. Februar 1979 in SozR 2200 §1246 Nr 38 und vom 28. November 1980 aaO, jeweils mwN).

Das LSG wird auch über die Kosten der Revisionsinstanz zu befinden haben.

 

Fundstellen

BSGE, 135

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