Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 25.09.1986)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. September 1986 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren ist (§§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung – RVO –).

Der 1930 geborene Kläger hat den Beruf des Schuhmachers erlernt. Anfangs als Arbeiter nur auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig, war er nach einem dreimonatigen Lehrgang zum Elektroschweißer als A- und E-Schweißer, ab 1967 bloß noch als E-Schweißer beschäftigt. Die Schweißerprüfung nach DIN 8560 E-B II m legte er mehrfach ab. Seit Februar 1982 ist er arbeitslos.

Nach einem ersten erfolglos gebliebenen Antrag des Klägers auf Rente vom Februar 1983 wies die Beklagte auch den neuen Rentenantrag vom Mai 1984 mit Bescheid vom 31. August 1984 ab, da der Kläger noch leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung ohne Knien, Hocken, Bücken oder Überkopfarbeit leisten könne.

Die vom Kläger dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 16. Dezember 1985 ab. Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil blieb ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 25. September 1986). Das LSG stellte aufgrund der im Verfahren bisher eingeholten medizinischen Gutachten sowie eines von ihm zusätzlich in Auftrag gegebenen orthopädischen Sachverständigengutachtens fest, daß der Kläger noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen und unter Beachtung der weiteren in den Gutachten näher beschriebenen Einschränkungen verrichten könne. Als „bisheriger Beruf” iS des § 1246 der RVO scheide die ursprünglich erlernte Tätigkeit als Schuhmacher aus, da sich der Kläger von diesem Beruf ohne erkennbare gesundheitliche Gründe gelöst habe. Durch die langjährige Ausübung einer Tätigkeit als Elektroschweißer habe der Kläger entgegen seiner Auffassung keinen Berufsschutz als Facharbeiter erworben. Es fehlten ihm die theoretischen und praktischen Kenntnisse eines gelernten Schmelzschweißers. Angesichts der nur dreimonatigen Ausbildung mit dem jährlichen Neuerwerb der Prüfungsbescheinigung nach DIN 8560 und der seit 1967 ständigen Tätigkeit ausschließlich als Elektroschweißer handele es sich lediglich um eine Anlerntätigkeit. Selbst wenn der Kläger tariflich wie ein Schmelzschweißer eingestuft gewesen sein sollte, sei er angesichts des qualitativen Wertes seiner Tätigkeit nur der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zuzuordnen. Ihm seien deshalb auch Beschäftigungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumutbar, mit Ausnahme der Tätigkeiten, die nur einen geringen qualitativen Wert hätten. Gut geeignet seien bei dieser Sachlage einfache Montagetätigkeiten für Kleinteile oder die eines Revisors für Kleinteile im Betrieb oder in der Wareneingangskontrolle in der metallverarbeitenden Industrie. Angesichts des nicht ungewöhnlich eingeschränkten Leistungsvermögens des Klägers und seiner Verweisbarkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt bedürfe es hierzu keiner weiteren Ermittlungen. Es sei deshalb auch kein Anlaß gegeben, dem vom Kläger schriftsätzlich gestellten Vertagungsantrag zu folgen; der Sachverhalt sei berufskundlich aufgeklärt.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger unzureichende Sachaufklärung und die Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 1985 und das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. September 1986 sowie den Bescheid der Beklagten vom 31. August 1984 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Mai 1984 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,

hilfsweise, wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die berufliche Eingruppierung des Klägers durch das LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die kraft Zulassung durch den Senat statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Zwar hat das LSG aufgrund seiner nicht angegriffenen Feststellungen über das Leistungsvermögen des Klägers die Erwerbsunfähigkeit des Klägers gemäß § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO zutreffend verneint. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen indes zu einer abschließenden Entscheidung über die streitige Berufsunfähigkeit iS des § 1246 Abs 2 RVO nicht aus.

Zu der beruflichen Eingruppierung des Klägers hat das LSG festgestellt, die vom Kläger zuletzt langjährig ausgeübte Arbeit sei mit Rücksicht auf Ausbildung, jährlich wiederholte Prüfungen und qualitativen Wert der Tätigkeit lediglich als Anlerntätigkeit anzusehen. Einen Facharbeiterstatus als Schmelzschweißer habe der Kläger nicht erworben. Es fehlten ihm dazu die theoretischen und praktischen Kenntnisse eines gelernten Schmelzschweißers. An diese Feststellungen ist das Revisionsgericht nicht gebunden, weil in bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 des SozialgerichtsgesetzesSGG –).

Der Kläger hat im Berufungsverfahren beantragt, eine Auskunft der schweißtechnischen Lehr- und Versuchsanstalt darüber einzuholen, daß es in den 70er Jahren zwischen der Tätigkeit eines Schmelzschweißers und eines E-Schweißers keine signifikanten Unterschiede in Ausbildung und Anforderungen gegeben habe, und daß das Wissen der DVS-Richtlinienprüfung in den 70er Jahren von den Schmelzschweißern nicht verlangt worden sei. Darüber hinaus hat der Kläger die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens über seine Einsetzbarkeit in den vom LSG genannten Verweisungstätigkeiten beantragt. Diesen Beweisanträgen ist das LSG nicht gefolgt. Damit hat es seine Pflicht, den Sachverhalt aufzuklären (§ 103 SGG), verletzt und gestellte Beweisanträge rechtswidrig übergangen, weil die unter Beweis gestellten Tatsachen für den geltend gemachten Rentenanspruch rechtserheblich sein konnten und vom LSG auch nicht als wahr unterstellt worden sind.

Für die Frage, ob das LSG seine Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen, nicht erfüllt und dadurch § 103 SGG verletzt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem LSG zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte, oder ob er das LSG zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen. Hinsichtlich der Frage, ob die umstrittenen Tatsachen rechtserheblich sind, kommt es auf den sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG an (BSG SozR Nr 7 zu § 103 SGG; SozR 1500 § 160a Nr 34). Das LSG hat auf der Grundlage des vom Bundessozialgericht (BSG) für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit iS des § 1246 Abs 2 RVO entwickelten Mehrstufenschemas sein Urteil darauf gegründet, daß die vom Kläger ausgeübte bisherige berufliche Tätigkeit der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zuzuordnen sei. Es hat sich hierfür auf die nur dreimonatige Ausbildung mit dem jährlichen Neuerwerb der Prüfungsbescheinigung nach DIN 8560 sowie auf die in einem anderen Rechtsstreit eingeholte Auskunft der schweißtechnischen Lehr- und Versuchsanstalt Berlin vom 12. Mai 1980 gestützt. Diese Auskunft geht aber zum einen, soweit erkennbar, von einer anderen beruflichen Ausbildung und Tätigkeit als im hier anhängigen Verfahren aus und trägt damit zur notwendigen konkreten Feststellung des qualitativen Werts der beruflichen Tätigkeit des Klägers jetzt nichts bei. Zum anderen ist in der Auskunft auch nichts über die vom Kläger als Beweisthema genannten Fragen ausgesagt. Hätte das LSG die vom Kläger beantragten Beweise erhoben, hätten die entsprechenden Auskünfte ergeben können, daß die in neuerer Zeit zwischen Schmelzschweißern und E-Schweißern gemachten Unterschiede früher nicht bestanden und die jetzt gestellten Anforderungen an theoretische und praktische Kenntnisse nicht erhoben wurden, der Kläger also möglicherweise – infolge einer Gleichsetzung von Tätigkeiten als E- und Schmelzschweißer – mit seiner konkret vorhandenen Ausbildung und Arbeitsqualität als Facharbeiter einzustufen wäre. Dies hätte zur Folge, daß er auf die im angefochtenen Urteil genannten beruflichen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nach der ständigen Rechtsprechung nicht zumutbar iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO verwiesen werden könnte.

Zwar kommt es bei der entsprechenden Beurteilung als Ausgangspunkt grundsätzlich auf die heutigen Berufsanforderungen und -verhältnisse an. Da aber für eine früher ausgeübte Tätigkeit nicht die förmliche Erfüllung von Qualifikationsmerkmalen verlangt werden kann, die sich für die Ausübung der gleichen Tätigkeit erst in späterer Zeit herausgebildet haben oder sogar in spezifischen Rechtsvorschriften über den jeweiligen Ausbildungsweg und -umfang niedergelegt finden, ist stets – sofern nicht der Betreffende die neuen Voraussetzungen ohnehin erfüllt – ergänzend zu prüfen, welcher Berufsgruppe des Stufenschemas nach gegenwärtigem Verständnis der Anspruchsteller mit seiner früheren Beschäftigung qualitativ gleichzustellen ist. Das BSG hat die Möglichkeit und zugleich Notwendigkeit einer solchen Orientierung an der Qualität der vom Versicherten tatsächlich verrichteten bisherigen Berufstätigkeit schon wiederholt für Fälle, in denen ein Kraftfahrer keine förmliche Ausbildung nach der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung vom 26. Oktober 1973 durchlaufen hatte, bejaht (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 68, 94). Entsprechendes gilt für vergleichbare andere berufliche Tätigkeiten.

Für die Zuordnung zur Gruppe mit dem bisherigen Beruf des Facharbeiters verlangt die Rechtsprechung des BSG allerdings in derartigen Fällen nicht nur die tarifliche Einstufung als Facharbeiter, sondern auch die „vollwertige” Ausübung des jeweiligen Fachberufs, was die einem ausgebildeten Facharbeiter entsprechenden praktischen Fertigkeiten und theoretischen Kenntnisse voraussetze (vgl BSG-Urteil vom 12. November 1980 in SozR 2200 § 1246 Nr 68 mwN). Diese Anforderungen dürfen indes nicht überspannt werden. Sie sind – wie im Urteil des BSG vom 12. November 1980 aaO betont wird – im Sinne einer erforderlichen „Wettbewerbsfähigkeit” im Verhältnis zu anderen Versicherten derselben Berufsgruppe zu verstehen. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, daß auch gelernte, ausgebildete Facharbeiter nach langjähriger Berufstätigkeit einen Teil insbesondere ihres theoretischen Fachwissens verloren haben. Bei der Prüfung der „Wettbewerbsfähigkeit” kann deshalb von einem Facharbeiten ausführenden Versicherten ohne oder mit nur teilweiser Ausbildung nicht mehr verlangt werden, als von einem langjährig tätigen gelernten Facharbeiter in seiner Berufsgruppe im allgemeinen erwartet wird.

Bei dieser Ausgangssituation mußte sich das LSG gedrängt fühlen, die beantragten Beweise zu erheben. Da nicht auszuschließen ist, daß das LSG aufgrund der fehlenden gutachtlichen Stellungnahmen zu einer anderen Eingruppierung der beruflichen Tätigkeit des Klägers gekommen wäre, beruht sein Urteil auch auf dem gerügten Verfahrensmangel.

Da das angefochtene Urteil bereits wegen unzureichender Sachaufklärung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), kann dahinstehen, ob das Urteil auch auf der gerügten Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör in dem Sinn beruht, daß das LSG dem Antrag des Klägers zur Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung zu Unrecht nicht gefolgt ist. Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173983

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