Entscheidungsstichwort (Thema)

Wettbewerbsfähigkeit für Einordnung in Mehrstufenschema

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage der "Wettbewerbsfähigkeit" bei der Beurteilung des bisherigen Berufs iS des § 1246 Abs 2 S 2 RVO.

2. Das Verfahren, mit dem Sozialleistungsträger oder Gerichte die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten eines Versicherten zwecks Beurteilung seiner "Wettbewerbsfähigkeit" ermitteln, muß in Art und Form des angewendeten Beweismittels dem Grundsatz des fairen Verfahrens genügen.

 

Orientierungssatz

1. Bei der für die Einordnung in das Mehrstufenschema maßgeblichen "Wettbewerbsfähigkeit" ist zu beachten, daß sich berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten mit der Fortentwicklung der konkreten menschlichen Persönlichkeit umschichten, aufbauen, verringern oder sogar ganz verlieren können. Die berufliche Qualifikation, die beispielsweise ein Facharbeiter kurz nach Abschluß der für ihn vorgeschriebenen Fachausbildung hat und die maßgebend von den Anforderungen der abgelegten Prüfung bestimmt ist, wird sich nicht selten merklich von dem Wissens- und Könnensstand unterscheiden, den ein Versicherter desselben Faches nach langjähriger Berufspraxis aus seiner täglichen Arbeitserfahrung heraus hat und der vor allem auch durch eine Spezialisierung innerhalb der jeweiligen die Facharbeitereigenschaft begründenden Berufssparte geprägt sein kann.

2. Entscheidend für die Gleichstellung im Mehrstufenschema als Facharbeiter ist stets das Gesamtbild der beruflichen Qualifikation, die ein Versicherter ohne abgeschlossene Ausbildung aufweist und die dem Leistungsstandard genügen muß, der für einen Facharbeiter der betreffenden Fachrichtung als Berufstyp allgemein verlangt wird. Qualifikationsschwächen können insoweit ebenso durch Qualifikationsstärken kompensiert wie zeitbedingter Verlust an theoretischem Wissen durch Ansammlung berufspraktischer Erfahrung ausgeglichen werden, wenn sie beide innerhalb der gegenständlichen "Bandbreite" des zugrundeliegenden berufskundlichen Anforderungsprofils liegen.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 S. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 24.10.1986; Aktenzeichen L 3 J 204/85)

SG Duisburg (Entscheidung vom 20.06.1985; Aktenzeichen S 9 J 368/82)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gemäß §§ 1246 Abs 1, 1247 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der 1945 geborene Kläger durchlief von April 1960 bis März 1963 eine Lehre als Maurer, ohne sie mit der Gesellenprüfung abzuschließen. Im Anschluß daran war er - mit einer Unterbrechung durch Wehrdienst - bis 1970 als Maurer versicherungspflichtig beschäftigt. Von Mai 1970 bis Mai 1971 arbeitete er als Kranführer und danach bis Juli 1972 als Kraftfahrer. Von Februar bis April 1973 war er wieder als Maurer beschäftigt. Seitdem ist er nicht mehr erwerbstätig. Er lebt von Sozialhilfe. Einen im August 1975 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom Dezember 1975 ab; die hiergegen erhobene Klage nahm der Kläger zurück. Im April 1982 stellte der Kläger erneut einen Rentenantrag. Vom 7. September bis 5. Oktober 1982 unterzog er sich einem Heilverfahren in einer Rehabilitationsklinik. Mit Bescheid vom 24. November 1982 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente erneut ab.

Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 20. Juni 1985 ab. Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers wies das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 24. Oktober 1986 zurück. Der Kläger sei nach seinem bisherigen Beruf iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO als angelernter Maurer einzustufen. Obwohl er wie ein geprüfter Maurergeselle entlohnt worden sei, könne er nicht qualitativ einem Maurergesellen gleichgestellt werden; er habe keine mit einer Prüfung abgeschlossene Ausbildung durchlaufen und die Tätigkeit einer geprüften Fachkraft nicht "vollwertig" iS der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ausgeübt. Einer Überprüfung seiner theoretischen Fachkenntnisse - durch die gerichtlich angeordnete Teilnahme an einer schriftlichen theoretischen Prüfung vor der Handwerkskammer im Rahmen einer Gesellenprüfung - habe sich der Kläger entzogen. Infolge davon könne er zumutbar auf die Gruppe der Ungelernten verwiesen werden, mit Ausnahme derjenigen Tätigkeiten, die nur einen ganz geringen Wert hätten; für ihn kämen Tätigkeiten als Nebeneingangspförtner, Sortierer, Montierer und Verpacker von Kleinteilen, als Bote und als Kleinteilmagaziner in Betracht.

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 1246, 1247 RVO und Verfahrensmängel.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 1986 sowie das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 20. Juni 1985 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 24. November 1982 zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab 1. Mai 1982 zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die kraft Zulassung durch das Revisionsgericht statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreites an das LSG begründet. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung des Rechtsstreites nicht aus. Das LSG wird unter Beachtung der Rechtsauffassung des Revisionsgerichts noch weitere Ermittlungen zum "bisherigen Beruf" des Klägers iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO anzustellen haben.

Nach § 1246 Abs 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung (aF) erhält Rente wegen Berufsunfähigkeit der Versicherte, der berufsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Nach Abs 2 des § 1246 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Die Feststellungen des LSG zum "bisherigen Beruf" des Klägers iS dieser Vorschrift greift der Kläger zu Recht mit Verfahrensrügen an. Das LSG wird die Ermittlungen zu der Frage, ob der Kläger innerhalb des vom BSG in ständiger Rechtsprechung entwickelten und aufrechterhaltenen Mehrstufenschemas (vgl dazu aus letzter Zeit BSG SozR 2200 § 1246 Nr 151 mwN) in die Gruppe der Facharbeiter oder der Erwerbstätigen mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufes bzw des Angelernten einzuordnen ist, nochmals aufzunehmen und in einer Weise durchzuführen haben, die auch im Hinblick auf die fachtheoretischen Kenntnisse des Klägers dem allgemeinen prozeßrechtlichen Grundsatz des fairen Verfahrens genügt.

Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und daher für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Kläger keine Gesellenprüfung abgelegt, ist allerdings wie ein geprüfter Maurergeselle entlohnt worden. Wenn das LSG aus der letzten Tatsache allein noch nicht den Schluß gezogen hat, daß der Kläger im Mehrstufenschema in die Gruppe der Facharbeiter einzuordnen ist, so ist dies für sich genommen nicht zu beanstanden. In ständiger Rechtsprechung hat das BSG die tarifliche Einstufung der "bisherigen Berufstätigkeit" eines Versicherten als zuverlässiges Indiz für die Qualität der ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung angesehen (vgl Urteile des erkennenden Senats vom 11. Juli 1985 - 5b RJ 88/84 - und 9. September 1986 - 5b RJ 82/85 - in BSG SozR 2200 § 1246 Nr 129 = BSGE 58, 239 und Nr 140, jeweils mwN). Es hat dabei aber zugleich deutlich gemacht, daß sich die Qualität und betriebliche Bedeutung einer Tätigkeit nicht einfach aus der Entlohnung als Einzeltatsache ableiten lassen. Maßgebend ist vielmehr das aus den tariflichen Tätigkeitsmerkmalen und dem Gesamtzusammenhang des Tarifvertrags zu entnehmende berufskundliche Anforderungsprofil einer Beschäftigung. Die zunächst zu vermutende Richtigkeit der tariflichen Einstufung eines Beschäftigten kann also durchaus widerlegt werden (vgl Urteile des erkennenden Senats vom 27. Januar 1981 - 5b/5 RJ 76/80 -, 10. Februar 1983 - 5b RJ 8/82 - und 11. Juli 1985 - 5b RJ 88/84 - in SozR 2200 § 1246 Nrn 77, 106, 129).

Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung für Fälle, in denen der Versicherte die für einen Facharbeiterberuf vorgesehene berufliche Ausbildung nicht durchlaufen hat, die berufliche Tätigkeit gleichwohl dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet, sofern sie ihrer Qualität nach dem Berufsbild des Facharbeiters entsprochen hat und nicht nur vorübergehend "vollwertig" ausgeübt worden ist. Hierbei ist es im Interesse einer klaren und sachgerechten Abgrenzung geboten, eingehend zu prüfen, ob die abweichend vom "normalen" Ausbildungsweg erlangte berufliche Position tatsächlich "in voller Breite" derjenigen des Facharbeiters entspricht. Neben der gleichen tariflichen Einstufung und Entlohnung ist zu verlangen, daß der Versicherte nicht nur eine seinem individuellen Arbeitsplatz entsprechende Leistung erbracht, sondern auch über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten verfügt hat, die von einem Facharbeiter "gemeinhin" erwartet werden. In diesem Sinne muß eine "Wettbewerbsfähigkeit" im Verhältnis zu voll ausgebildeten Facharbeitern bestanden haben (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 53, 55, 62, 68, 70, 126, 131, 138, 150).

Diese Rechtsprechung, an deren grundsätzlicher Aussage festzuhalten ist, darf freilich in ihrer praktischen Umsetzung und Anwendung auf die Wirklichkeit des allgemeinen Berufslebens nicht mißverstanden werden. Bei der für die Einordnung in das Mehrstufenschema maßgeblichen "Wettbewerbsfähigkeit" ist vielmehr zu beachten, daß sich berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten mit der Fortentwicklung der konkreten menschlichen Persönlichkeit umschichten, aufbauen, verringern oder sogar ganz verlieren können. Die berufliche Qualifikation, die beispielsweise ein Facharbeiter kurz nach Abschluß der für ihn vorgeschriebenen Fachausbildung hat und die maßgebend von den Anforderungen der abgelegten Prüfung bestimmt ist, wird sich nicht selten merklich von dem Wissens- und Könnensstand unterscheiden, den ein Versicherter desselben Faches nach langjähriger Berufspraxis aus seiner täglichen Arbeitserfahrung heraus hat und der vor allem auch durch eine Spezialisierung innerhalb der jeweiligen die Facharbeitereigenschaft begründenden Berufssparte geprägt sein kann. Entscheidend für die Gleichstellung im Mehrstufenschema als Facharbeiter ist daher stets nur das Gesamtbild der beruflichen Qualifikation, die ein Versicherter ohne abgeschlossene Ausbildung aufweist und die dem Leistungsstandard genügen muß, der für einen Facharbeiter der betreffenden Fachrichtung als Berufstyp allgemein verlangt wird. Qualifikationsschwächen können insoweit ebenso durch Qualifikationsstärken kompensiert wie zeitbedingter Verlust an theoretischem Wissen durch Ansammlung berufspraktischer Erfahrung ausgeglichen werden, wenn sie beide innerhalb der gegenständlichen "Bandbreite" des zugrundeliegenden berufskundlichen Anforderungsprofils liegen.

Für die Beantwortung der Frage, ob ein Versicherter ohne oder mit nur teilweiser Ausbildung, der Facharbeiten ausführt, im Verhältnis zu einem Facharbeiter "wettbewerbsfähig" im oben genannten Sinn ist und diesem im Rahmen des Mehrstufenschemas gleichgestellt werden kann, folgt hieraus, daß als Vergleichsbasis nicht stets nur der Stand an fachlichen Kenntnissen und Fertigkeiten herangezogen werden darf, den ein Facharbeiter bei oder kurz nach seiner Abschlußprüfung hat und der sich für immer mehr Berufe unmittelbar aus der jeweiligen Berufsausbildungsordnung ablesen läßt. Zugrunde gelegt werden muß vielmehr das Gesamtbild beruflicher Qualifikation, das ein Facharbeiter bietet, der dem Probanden nach Lebensalter, Berufsverlauf und zuletzt ausgeübter Tätigkeit - die Aspekte einer förmlichen Ausbildung selbstverständlich ausgenommen - entspricht. Eine derartige angepaßte, die faktische Entwicklung der Persönlichkeit fortschreibende Betrachtungsweise ist insbesondere für das Maß an theoretischem Fachwissen erforderlich, das zur Annahme der "Wettbewerbsfähigkeit" des Betreffenden allein vertretbar vorausgesetzt werden kann. Bereits in seinem Urteil vom 20. September 1988 - 5/5b RJ 32/87 - hat der erkennende Senat betont, daß die Anforderungen insofern nicht überspannt werden dürfen. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, daß auch gelernte, ausgebildete Facharbeiter nach langjähriger Berufstätigkeit einen Teil insbesondere ihres theoretischen Fachwissens verloren haben. Bei der Prüfung der "Wettbewerbsfähigkeit" kann deshalb von einem Facharbeiten aus­führenden Versicherten ohne oder mit nur teilweiser Ausbildung nicht mehr an theoretischen Kenntnissen verlangt werden, als von einem langjährig tätigen gelernten Versicherten in seiner Berufsgruppe im allgemeinen erwartet wird. Diesem Grundsatz widerspricht es aber, wenn das LSG hier vom Kläger offen­bar das theoretische Wissen eines kurz vor der Gesellenprüfung stehenden und entsprechend vorbereiteten "jungen" Versicherten verlangt, wie seine Auf­forderung zur Teilnahme an einer schriftlichen - theoretischen - Gesellen­prüfung zeigt.

Ein derartiges Verfahren zwecks Beurteilung der "Wettbewerbsfähigkeit" ist in Art und Form des angewendeten Beweismittels nicht der spezifischen Ver­gleichsbasis angemessen, die nach dem oben Ausgeführten allein Ansatz für die Beurteilung des Einzelfalles sein darf. Nur ein solches gehaltliches Zusammenpassen genügt dem vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in ständiger Rechtsprechung vertretenen Prinzip des fairen Verfahrens (s BVerfGE 9, 89, 95; 26, 66, 71; 38, 105, 111; 40, 95, 99; 43, 154; 46, 202, 210; 57, 250, 274; 69, 1, 91, 70, 297, 308/309; 75, 183, 191). Wie das BVerfG dar­getan hat, zählt zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Ver­fahrens das Recht auf ein faires Verfahren. Es erschöpft sich nicht in der Selbstbeschränkung staatlicher Mittel gegenüber den beschränkten Möglich­keiten des einzelnen, die sich in der Verpflichtung niederschlägt, daß staatliche Organe korrekt und fair zu verfahren haben. Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit gewährleistet es dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrnehmen und Übergriffe der im vorstehenden Sinn rechtsstaatlichen begrenzten Rechts­ausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (BVerfGE 38, 105, 111). Der einzelne darf nicht nur Objekt des Verfahrens sein, ihm muß vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Ver­fahrens Einfluß zu nehmen (BVerfGE 9, 89, 95; 26, 66, 71). Allerdings enthält das Recht auf ein faires Verfahren keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote; es bedarf vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dabei ist im Blick auf die Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips mit Behutsamkeit vorzugehen. Erst wenn sich unzweideutig ergibt, daß rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Prinzip selbst konkrete Folgerungen für die Verfahrensgestaltung gezogen werden; diese haben sich tunlichst im Rahmen der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens zu halten (BVerfGE 70, 297, 308 f).

Auf die Einzelausgestaltung des Verfahrens in Fällen wie dem vorliegenden übertragen bedeutet der Grundsatz des fairen Verfahrens im besonderen für die Ermittlung des theoretischen Fachwissens, daß eine darauf abzielende Prüfung von vornherein als nach Ablauf und Inhalt unangemessen ausscheidet, die sich in einer dieser Beziehungen mit dem Typ von Prüfung, wie sie nach der ein­schlägigen Berufsausbildungsordnung zum Schluß der Ausbildung abzulegen ist, deckt oder ihm doch stark annähert. Die Auswahl der jeweils anzu­wendenden Feststellungsmethode und des dazu passenden Feststellungs­mittels wird vielmehr danach vorzunehmen sein, welcher Prüfungsumfang und -stil einem Versicherten entsprechend seinem Alter und nach seiner speziellen beruflichen Situation im ausgeführten Sinn physisch und psychisch zugemutet werden kann. Genügt eine konkret angeordnete Prüfung diesem Maßstab nicht, so kann dem Versicherten, wenn er der Prüfung fernbleibt, daraus kein beweismäßiger Nachteil entstehen. Vielmehr hat dann die anordnende Stelle ihrer Pflicht zur Amtsermittlung nicht ausreichend Rechnung getragen und muß die Ermittlung nochmals in veränderter Art und Zielrichtung aufnehmen.

Die vom LSG dem berufskundlichen Sachverständigen vorgeschlagene und von diesem auch übernommene Art der Prüfung des Klägers - Teilnahme des Klägers "an der nächsten schriftlichen - theoretischen - Gesellenprüfung" durch die Handwerkskammer - stellte an den Kläger unzumutbare Anforderungen in der genannten Bedeutung. Da das Gericht einen zusätzlichen anderen Weg zur Ermittlung des theoretischen Wissens des Klägers nicht gegangen ist, hat es den Sachverhalt nicht ausreichend iS von § 103 Satz 1 SGG erforscht. Da seine Entscheidung inhaltlich auch auf dieser Unterlassung beruht, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Ent­scheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 169

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