Leitsatz (amtlich)

Wird eine Hochschulausbildung weder mit einer Hochschul- oder Staatsprüfung noch mit einer Promotion beendet, so ist sie auch dann als abgeschlossen anzusehen, wenn in dem studierten Fachgebiet zur fraglichen Zeit ein gesondertes selbständiges Studium (hier: Theaterwissenschaft) möglich und als ordnungsgemäßes Studium anerkannt, eine Abschlußprüfung oder ein Abschlußzeugnis nicht vorgesehen, jedoch die für die Zeit und Ablauf des Studiums vorgeschriebenen Mindestbedingungen erfüllt waren.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Februar 1973 aufgehoben, soweit die Beklagte zur Berücksichtigung von Ausfallzeiten und zur teilweisen Erstattung der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge verurteilt worden ist.

Der Rechtsstreit wird insoweit zur neuen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch über die Erhöhung des Altersruhegeldes durch Anrechnung von Hochschulausbildungszeiten als Ausfallzeiten.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) studierte der 1905 geborene Kläger in der Zeit von April 1926 bis Juli 1929 an den Universitäten B und M sieben Semester Theaterwissenschaft; ein Examen legte er damals nicht ab. Anschließend war er als Regievolontär und ab September 1930 als Dramaturg, Spielleiter und Intendant tätig. Den ersten Pflichtbeitrag zur Angestelltenversicherung entrichtete er im September 1930. Im Mai 1947 promovierte er. Die Beklagte berücksichtigte bei Berechnung des ihm ab Januar 1971 gewährten Altersruhegeldes als Ausfallzeit lediglich seine nach Vollendung des 16. Lebensjahres durchlaufene weitere Schulausbildung. Die auf Anrechnung auch der bis 1929 absolvierten Hochschulausbildung und der Volontärzeit gerichtete Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen: Die Volontärzeit sei keine Lehrzeit, sein Studium aber habe der Kläger erst mit der Promotion abgeschlossen. Pflichtbeiträge habe er innerhalb der diesem Studienabschluß folgenden fünf Jahre nicht entrichtet. Die Berufung des Klägers hatte zum Teil Erfolg. Das LSG verurteilte die Beklagte, auch die Studienzeit als Ausfallzeit anzurechnen. Es meint, zum Abschluß eines Studiums der Theaterwissenschaften habe es keines "Examens oder einer gleichwertigen Prüfung" bedurft. Nach der vom Kläger vorgelegten Bescheinigung der Universität M vom 10. Mai 1972 hätten für "ein Vollstudium der Theaterwissenschaften" aber bereits sechs Semester ausgereicht. Auch gehe aus dem vom Kläger vorgelegten Zeugnis des Prof. Dr. vom 1. März 1930 hervor, daß er "speziell bei ihm mit Erfolg literatur- und theaterwissenschaftliche Vorlesungen und Übungen theoretischer und praktischer Art verbunden mit Auslandsreisen absolviert habe und insbesondere seit 1927 ordentliches Mitglied des theaterwissenschaftlichen Oberkurses gewesen sei". Selbst wenn man dieses Zeugnis nicht als solches über den erfolgreichen Abschluß des Studiums der Theaterwissenschaften ansehen wolle, ergebe sich jedenfalls, daß der Kläger sein Studium mit dem Sommerhalbjahr 1929 abgeschlossen habe und die erst im Mai 1947 erfolgte Promotion "für den beruflichen Ausbildungsgang ohne jede Bedeutung gewesen" sei. Da der Kläger seit September 1930, also innerhalb der insoweit in Betracht kommenden Fünfjahresfrist, Pflichtbeiträge nachweisen könne, müsse deshalb seine Hochschulausbildung von April 1926 bis Juli 1929 als Ausfallzeit angerechnet werden.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie rügt Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Für die Anrechnung als Ausfallzeit komme es darauf an, daß die Hochschulausbildung selbst abgeschlossen worden sei, nicht aber darauf, welche Bedeutung sie für die nachfolgende Berufstätigkeit gehabt habe; andernfalls müßten alle Studienzeiten auch ohne Abschlußprüfung als abgeschlossen gelten, weil sich letzten Endes auch ein abgebrochenes Studium positiv auf das Berufsleben auswirken werde. Der Kläger habe aber sein Studium regelrecht durch eine Promotion abgeschlossen. Deshalb könne nicht bereits ein früherer Zeitpunkt als Abschluß der Hochschulausbildung angesehen werden.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß.

Nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG in seiner hier maßgebenden, bis zum 18. Oktober 1972 gültig gewesenen Fassung (Art. 1 § 2 Nr. 19 d Rentenversicherungsänderungsgesetz - RVÄndG - vom 9.6.1965, BGBl I 476; Art. 1 § 2 Nr. 13 a, Art. 6 § 8 Abs. 2 Rentenreformgesetz - RRG - vom 16.10.1972, BGBl I 1965) sind Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung sowie einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung in gewissem Umfang unter anderem dann Ausfallzeiten, wenn im Anschluß daran innerhalb von fünf Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits wiederholt entschieden hat, ist hier der Begriff der Hochschulausbildung zwar gleichbedeutend mit dem des Hochschulstudiums; unter einer "abgeschlossenen Hochschulausbildung" ist insoweit jedoch nicht die lediglich zeitmäßige, sondern vielmehr eine qualitative, also erfolgreiche Beendigung des Studiums zu verstehen. Das Studium kann deshalb sowohl durch das Bestehen einer dafür vorgesehenen Hochschul- oder Staatsprüfung, als auch durch eine Promotion im Sinne dieser Vorschrift "abgeschlossen" werden; dabei beendet schon der erste dieser möglichen Studienabschlüsse den als Ausfallzeit in Betracht kommenden Zeitraum, so daß schon mit ihm die für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit maßgebende Fünfjahresfrist beginnt (BSG 20, 35 = SozR Nr. 9 zu § 1259 RVO sowie die Urteile vom 26.7.1967 - 1 RA 131/65 -, 27.8.1970 - 11 RA 109/68 -, 7.12.1972 - 1 RA 57/72 -, 15.11.1973 - 11 RA 240/72 -).

Um unbillige Härten auszuschließen, wird man allerdings eine Hochschulausbildung in Ausnahmefällen auch dann im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG als "abgeschlossen" ansehen können, wenn sie weder mit dem Bestehen einer Hochschul- oder Staatsprüfung, noch mit einer Promotion beendet wurde. Das wird jedoch nur geschehen können, wenn zur fraglichen Zeit auf dem in Betracht kommenden Fachgebiet ein gesondertes selbständiges Studium möglich und als ordnungsmäßiges Studium auch anerkannt war, wenn außerdem eine Abschlußprüfung oder auch nur die Erteilung eines Abschlußzeugnisses nicht vorgesehen waren, hinsichtlich des Studienablaufs und der Studienzeit aber gewisse Mindestbedingungen erfüllt werden mußten. Nicht von Bedeutung kann insoweit dagegen sein, ob das Studium für eine spätere berufliche Tätigkeit Voraussetzung oder auch nur vorteilhaft war; wie die Beklagte zutreffend hervorhebt, stellt § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG auf das Studium als solches ab, nicht aber auf seine Bedeutung für eine nachfolgende Berufstätigkeit. Auch kann es darauf, ob eine Promotionsmöglichkeit bestand, jedenfalls dann nicht entscheidend ankommen, wenn zur fraglichen Zeit auf dem in Betracht kommenden Fachgebiet üblicherweise nicht promoviert wurde.

Falls es sich bei der vom Kläger in den Jahren 1926 bis 1929 durchlaufenen Hochschulausbildung um einen solchen Ausnahmefall gehandelt haben sollte, hatte seine 1947 erfolgte Promotion für die Frage nach der Anrechnung von Hochschulausbildungszeiten als Ausfallzeiten keine Bedeutung; es handelte sich bei dieser Promotion dann ebenso um einen zweiten Studienabschluß, wie bei einer Promotion, der eine Hochschul- oder Staatsprüfung vorausgegangen ist. Ob aber diese Hochschulausbildungszeit des Klägers einen derartigen Ausnahmefall darstellt, das läßt sich allein aufgrund der bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht entscheiden. Die vom LSG herangezogene Bescheinigung der Universität M vom 10. Mai 1972 gibt insoweit ebensowenig her, wie das Zeugnis des Prof. Dr. ... vom 1. März 1930. Nach den Feststellungen des LSG belegt dieses Zeugnis lediglich, daß der Kläger bei diesem Hochschullehrer an Vorlesungen und an mit Auslandsreisen verbundenen Übungen erfolgreich teilgenommen sowie mehrere Jahre einem sogenannten Oberkurs angehört hat. Es besagt jedoch nichts darüber, ob das Studium des Klägers in den Jahren 1926 bis 1929 die Erfordernisse erfüllte, die zur Anerkennung einer abgeschlossenen Hochschulausbildung auch ohne Prüfung und Promotion führen könnten. Auch die Bescheinigung der Universität M vom 10. Mai 1972 sagt darüber nichts aus; in ihr kommt das Wort "Theaterwissenschaften" überhaupt nicht vor. Weshalb es schließlich, wie das LSG meint, zum Abschluß eines Studiums der Theaterwissenschaften seinerzeit "keines Examens oder einer gleichwertigen Prüfung" bedurft haben soll, läßt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen; tatsächliche Feststellungen irgendwelcher Art hat das LSG auch insoweit nicht getroffen. Die von ihm getroffenen Feststellungen aber lassen nicht einmal erkennen, ob der Kläger damals überhaupt ein gesondertes, selbständiges Studium der Theaterwissenschaften absolviert hat. Auf eingehende tatsächliche Feststellungen kann insoweit jedoch um so weniger verzichtet werden, als der Kläger selbst ursprünglich ein derartiges Studium überhaupt nicht erwähnt, unter Vorlage seiner Studienbücher vielmehr angegeben hat, er habe Germanistik, Philosophie, Kunst- und Musikwissenschaften studiert. Später hat er dann vorgetragen, er habe einen "abgeschlossenen Studiengang der Theaterwissenschaft sowie der Musik-, Literatur- und Kunstwissenschaften" absolviert, und hat das als "einen der im Rahmen der philosophischen Fakultät vertretenen Studiengänge" bezeichnet. Schließlich hat er insoweit von einer "Fachkombination" mit dem "Hauptfach Theaterwissenschaft" gesprochen. Auch hat er vorgetragen, es sei ihm 1929 wegen der damaligen Weltwirtschaftskrise "aus rein finanziellen Gründen" unmöglich gewesen, "den Plan einer Promotion zu realisieren"; er habe deshalb die geplante Promotion "hinausschieben" müssen. Von vornherein aber hat er wiederholt darauf hingewiesen, er habe in den Jahren 1937 bis 1943 und 1946/47 sein Studium neben seiner damaligen Berufstätigkeit fortgesetzt. Nach dem gesamten Vorbringen des Klägers ist es deshalb sehr wohl möglich, daß es sich bei der von ihm in den Jahren 1926 bis 1929 durchlaufenen Hochschulausbildung nicht um ein als ordnungsmäßiges Studium anerkanntes, gesondertes und auch selbständiges Studium der Theaterwissenschaften, sondern vielmehr - wovon die Beklagte auszugehen scheint - lediglich um den ersten Teil eines einheitlichen, aber in mehreren zeitlich voneinander getrennten Abschnitten durchlaufenen, verschiedene zur philosophischen Fakultät gehörige wissenschaftliche Fachgebiete umfassenden Studiums gehandelt hat, das schließlich am Ende seines letzten 1946/47 absolvierten Abschnitts mit der Promotion abgeschlossen worden ist. In diesem Fall aber würde die für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit maßgebende Fünfjahresfrist des § 36 Abs. 1 AVG mit dem Tag beginnen, an dem der Kläger seine mündliche Dr.-Prüfung (Rigorosum) bestanden hat; auch das hat das BSG bereits wiederholt entschieden (Urteile vom 7.12.1972 - 1 RA 57/72 - und 15.11.1973 - 11 RA 240/72 -).

Zur Klärung dieser bisher offen gebliebenen Fragen bedarf es einer Reihe weiterer tatsächlicher Feststellungen, die der Senat als Revisionsgericht nicht selbst treffen kann. Deshalb muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 172 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Dabei mag noch darauf hingewiesen werden, daß der Kläger sich nicht darauf berufen kann, daß das RRG die Fünfjahresfrist des § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG ersatzlos gestrichen hat (Art. 1 § 2 Nr. 13 a RRG); diese Gesetzesänderung gilt nur für nach dem 18. Oktober 1972 eingetretene Versicherungsfälle (Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG).

Bei der neuen Entscheidung hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646546

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