Leitsatz (amtlich)

Schließt ein Studium mit der Promotion ab, dann beginnt die 5-Jahresfrist für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit mit dem Tag des Bestehens der mündlichen Doktorprüfung.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. September 1972 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Februar 1970 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Erhöhung des Altersruhegeldes durch Anrechnung von Schul- und Hochschulausbildungszeiten als Ausfallzeiten.

Der 1902 geborene Kläger war als Student der Chemie bis zum Ende des Sommersemesters 1927 an der Universität J immatrikuliert. Während dieser Zeit fertigte er auch seine Dr.-Arbeit (Dissertation) an. Ein die Hochschulausbildung abschließendes Staatsexamen legte er nicht ab. Seine mündliche Dr.-Prüfung (Rigorosum) bestand er am 21. November 1927. Danach war er bis 1931 als wissenschaftlicher Hochschulassistent tätig. Sein Dr.-Diplom erhielt er erst am 21. November 1929, weil die Veröffentlichung seiner Dissertation in einer Fachzeitschrift sich bis Herbst 1929 verzögert hatte. Seine erste versicherungspflichtige Tätigkeit nahm er am 1. Dezember 1933 auf. Bei der Berechnung des ihm mit Bescheid vom 20. November 1967 ab 1. Oktober 1967 gewährten Altersruhegeldes berücksichtigte die Beklagte lediglich eine Ausfallzeitpauschale; Zeiten seiner Schul- und Hochschulausbildung seien keine Ausfallzeiten, weil er nicht innerhalb von fünf Jahren nach dem Bestehen der mündlichen Dr.-Prüfung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen habe. Die hiergegen gerichtete Klage hatte in zweiter Instanz Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hält die Fünfjahresfrist für gewahrt, weil die Hochschulausbildung des Klägers erst mit der durch die Aushändigung des Dr.-Diploms erfolgten Verleihung der Doktorwürde (Promotion) abgeschlossen gewesen sei; erst diese habe dem Kläger den ungehinderten Weg in das Berufsleben freigemacht.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) zurückzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); die Hochschulausbildung des Klägers habe bereits mit dem Bestehen der mündlichen Dr.-Prüfung ihren Abschluß gefunden.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 b AVG in seiner hier maßgebenden, bis zum 18. Oktober 1972 gültig gewesenen Fassung (Art. 1 § 2 Nr. 19 d Rentenversicherungs-Änderungsgesetz - RVÄndG - vom 9. Juni 1965, BGBl I 476; Art 1 § 2 Nr. 13 a, Art. 6 § 8 Abs. 2 Rentenreformgesetz - RRG - vom 16. Oktober 1972, BGBl I 1965) sind Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung sowie einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung in gewissem Umfang u. a. dann Ausfallzeiten, wenn im Anschluß daran innerhalb von fünf Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits wiederholt entschieden hat, ist hier der Begriff der Hochschulausbildung gleichbedeutend mit dem des Hochschulstudiums. Dieses kann sowohl durch das Bestehen einer dafür vorgesehenen Hochschul- oder Staatsprüfung, als auch durch die Promotion im Sinne dieser Vorschrift "abgeschlossen" werden; schon der erste dieser möglichen Studienabschlüsse beendet den als Ausfallzeit in Betracht kommenden Zeitraum, schon mit ihm beginnt die für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit maßgebende Fünfjahresfrist (BSG 20, 35 = SozR Nr. 9 zu § 1259 der Reichsversicherungsordnung - RVO - sowie Urteile vom 26. Juli 1967 - 1 RA 131/65 -, 27. August 1970 - 11 RA 109/68 -, 7. Dezember 1972 - 1 RA 57/72 -).

Da der Kläger andere als Studienabschluß zu wertende Prüfungen nicht abgelegt hat, kann für den Beginn dieser Fünfjahresfrist nur auf seine Promotion abgestellt werden. Bei diesem Studienabschluß beginnt die Frist entgegen der Auffassung des LSG nicht erst mit der Aushändigung des Dr.-Diploms. Zwar erfolgt die Verleihung der Dr.-Würde, also die Promotion erst mit dieser Urkundenübergabe; erst sie bildet den Abschluß des Promotionsverfahrens. Dieses Verfahren kann hier zeitmäßig der Hochschulausbildung jedoch nur insoweit zugerechnet werden, als es dem Doktoranden die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung unmöglich macht; nach dem Sinn und Zweck der Anrechnung von Ausfallzeiten ist nur insoweit ein Ausgleich beitragsloser Zeiten gerechtfertigt. Wie bereits der 1. Senat des BSG in einem bisher nicht veröffentlichten Urteil vom 7. Dezember 1972 (- 1 RA 57/72 -) entschieden hat, kann deshalb für den Beginn der Fünfjahresfrist nur der Tag der mündlichen Dr.-Prüfung maßgebend sein, denn bis zu diesem Zeitpunkt ist der Doktorand gezwungen, sich auf diese Prüfung vorzubereiten, und deshalb im allgemeinen außerstande, einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen. Mit der erfolgreichen Ablegung der mündlichen Dr.-Prüfung dagegen ist die von dem Doktoranden für die Erlangung der Dr.-Würde zu leistende, seine Arbeitskraft und -zeit im allgemeinen voll beanspruchende und ihn deshalb an der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung hindernde Vorbereitung abgeschlossen. Andererseits können die der mündlichen Dr.-Prüfung folgenden weiteren Abschnitte des Promotionsverfahrens zeitmäßig sehr unterschiedlich sein; das ergibt sich sowohl aus den unterschiedlichen Verhältnissen, unter denen nach den jeweils geltenden Promotionsordnungen an den einzelnen Hochschulen promoviert wird, als auch aus den ebenso unterschiedlichen persönlichen Verhältnissen der Doktoranden. Die Berücksichtigung hierdurch bedingter besonderer Umstände, wie sie auch vom Kläger geltend gemacht werden, würde nicht nur zu einer umfangreichen Kasuistik führen; sie entbehrte auch jeder Berechtigung, weil der Doktorand während dieser dem Bestehen der mündlichen Dr.-Prüfung folgenden Abschnitte des Promotionsverfahrens im allgemeinen nicht gehindert ist, eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben. Mitunter tut er das allerdings deshalb nicht, weil er seine durch das Studium erworbenen Kenntnisse noch vervollkommnen und damit seine berufliche Ausbildung erweitern möchte. In solchen Fällen ermöglicht es die durch das RVÄndG (Art. 1 § 2 Nr. 19 d) auf fünf Jahre ausgedehnte Frist für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, auch derartige Zeiten eines eine akademische Vorbildung voraussetzenden beruflichen Werdeganges in angemessenem Umfang versicherungsrechtlich aufzufangen (vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen, BT-Drucks. Nr. IV/2572 S. 26 zu Art. 1 § 1 Nr. 13 c, und die Niederschrift über die 176. Sitzung des BT vom 1. April 1965 S. 8864 C).

Nach alledem ist entgegen der Auffassung des LSG hier die Fünfjahresfrist nicht gewahrt, denn der Kläger hat die mündliche Dr.-Prüfung am 21.11.1927 bestanden, seine erste rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aber erst am 1.12.1933 aufgenommen. Schul- und Hochschulausbildungszeiten können deshalb bei der Berechnung seines Altersruhegeldes nicht als Ausfallzeiten berücksichtigt werden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß das RRG die Fünfjahresfrist ersatzlos gestrichen hat (Art. 1 § 2 Nr. 13 a); diese Gesetzesänderung gilt nur für nach dem 18. Oktober 1972 eingetretene Versicherungsfälle (Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG). Auf die Revision der Beklagten sind deshalb das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669138

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