Leitsatz (amtlich)

1. Wird mit der Klage die Feststellung der Nichtigkeit oder die Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Aufhebung eines Erstattungsbescheides begehrt, so ist die Berufung nicht nach SGG § 144 Abs 1 Nr 1 ausgeschlossen.

2. Ein Bescheid, auf Grund dessen Beiträge erstattet worden sind (AVG § 82= RVO § 1303), ist nichtig, wenn ein Antrag des Versicherten auf Beitragserstattung fehlt.

3. Der Versicherungsträger ist zur Aufhebung (Rücknahme) eines rechtswidrigen Erstattungsbescheides auch dann nicht in entsprechender Anwendung des AVG § 79 (= RVO § 1300) verpflichtet, wenn der Versicherte die Aufhebung begehrt und zur Wiedereinzahlung des Erstattungsbetrages bereit ist.

 

Normenkette

AVG § 79 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; AVG § 82 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1303 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1744 Fassung: 1953-09-03; VwVfG § 44 Fassung: 1976-05-25; SGG § 144 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 22.03.1977; Aktenzeichen L 2 An 283/76)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 17.03.1976; Aktenzeichen S 17 An 1147/74)

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. März 1977 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beklagte hat den Kläger im Dezember 1957 nach Art 2 § 1 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) von der Versicherungspflicht befreit und die seit März 1957 entrichteten Beiträge zurückgezahlt. Im Januar 1958 beantragte der Kläger die Erstattung der von ihm für die Zeit von Januar 1953 bis Februar 1957 entrichteten Beiträge. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 5. September 1958 den Antrag ab, weil seit dem Entfallen der Versicherungspflicht noch nicht zwei Jahre verstrichen seien, erstattete die Beiträge aber dann mit Bescheid vom 2. Juli 1959 in Höhe von 1.299,17 DM.

Im Januar 1973 beantragte der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 2. Juli 1959 mit der Begründung, die Erstattung habe nicht erfolgen dürfen, weil er von 1946 bis 1952 Beitragszeiten in der DDR zurückgelegt habe und daher zur Weiterversicherung berechtigt gewesen sei. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Zur Begründung des Berufungsurteils hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, der Erstattungsbescheid sei nach § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend geworden; ob diesem Bescheid ein Antrag zugrunde gelegen habe, bedürfe keiner Prüfung, da sich auch aus einer Verneinung dieser Frage keine Nichtigkeit des Bescheides ergeben würde. Für eine Beseitigung der Bindungswirkung sei weder nach § 79 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung noch nach § 1744 Abs 1 Nr 6 Reichsversicherungsordnung (RVO) Raum. § 79 AVG betreffe nur Fälle, in denen der Versicherungsträger Belastungen der Versicherten rückgängig zu machen habe; an einer solchen Belastung fehle es bei der Beitragserstattung. Eine Anwendung von § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO scheide schon deshalb aus, weil der Kläger die Urkunden, aus denen sich seine Vorversicherung in der DDR ergebe, nicht erst nachträglich aufgefunden habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und beantragt,

das Berufungsurteil und den angefochtenen Bescheid aufzuheben.

Er hält den Erstattungsbescheid für nichtig, weil es an einem Antrag gefehlt habe; der Antrag vom Januar 1958 sei durch den Bescheid vom 5. September 1958 verbraucht gewesen, ein neuer Antrag sei nicht gestellt worden. Wegen des Fehlens eines Antrages müsse auch § 79 AVG Anwendung finden. Im übrigen sei er, wie er bereits in der Klageschrift vorgetragen habe, erst nach Zugang des Erstattungsbescheides in den Besitz der Urkunden gelangt, aus denen sich die Unzulässigkeit der Beitragserstattung ergebe.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.

Der Kläger erstrebt die Beseitigung der sich aus dem Erstattungsbescheid ergebenden Rechtsfolgen. Dazu macht er geltend, daß dieser Bescheid nichtig, jedenfalls aber aufzuheben sei. Das Revisionsbegehren ist damit ungeachtet der Fassung des Antrags (vgl § 123 SGG) auf die Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des angefochtenen Bescheides sowie die Feststellung der Nichtigkeit des Bescheides vom 2. Juli 1959 (§ 55 Abs 1 Nr 4 SGG), hilfsweise die Verurteilung der Beklagten zur Aufhebung (Rücknahme) dieses Bescheides gerichtet.

Das LSG hat die - vom Sozialgericht (SG) nicht zugelassene - Berufung zu Recht als zulässig angesehen. Soweit das LSG Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 23. Juni 1977 - L 5 A 80/76 - eine andere Ansicht vertreten hat, verkennt es, daß Streitgegenstand nicht die Durchführung der Erstattung, also eine einmalige Leistung im Sinne von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG, sondern die Nichtigkeit oder der Anspruch auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes ist (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 8. März 1972 - 11 RA 224/71 -). Hiervon sind auch - ohne Begründung - der erkennende Senat in seinem weiteren Urteil vom 30. August 1974 - 11 RA 69/73 - und der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 13.November 1974 - 12 RJ 334/72 - ausgegangen.

Ob der Bescheid vom 2. Juli 1959 nichtig ist, läßt sich den Feststellungen des LSG nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Ein Verwaltungsakt, der nur auf Antrag ergehen darf, ist - was das LSG verkannt hat - in der Regel nichtig, wenn es an dem Antrag fehlt (BSGE 12, 265, 268; vgl ferner Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts I, 10. Aufl S. 226; Wolff, Verwaltungsrecht I, 8. Aufl S. 373; Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl S. 204; Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl, S. 250). Das - für das Sozialversicherungsrecht nicht unmittelbar geltende und im übrigen erst am 1. Januar 1977 in Kraft getretene - Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) vom 25. Mai 1976 (BGBl I 1253) hat an diesem das allgemeine Verwaltungsrecht beherrschenden und damit auch für das Sozialversicherungsrecht bedeutsamen Grundsatz nichts geändert. Das Fehlen eines erforderlichen Antrags stellt in der Regel einen besonders schwerwiegenden und bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundigen Fehler (vgl BSGE 24, 162, 165) dar, der die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes zur Folge hat (vgl § 44 Abs 1 VwVfG). Das gilt insbesondere für die Beitragserstattung, die stets einen Antrag voraussetzt (§ 82 Abs 1 Satz 1 AVG). Sie ist zumeist mit schwerwiegenden Konsequenzen für den Versicherten verbunden (vgl § 82 Abs 7 AVG). Deshalb darf der mit der Rechtslage vielfach nicht vertraute Versicherte, dem Beiträge ohne oder gegen seinen Willen erstattet worden sind, mit diesen einer Korrektur nach § 79 AVG entzogenen (SozR 2200 § 1303 Nr 1, § 1744 Nr 1) Folgen auch dann nicht belastet bleiben, wenn er es versäumt hat, den Erstattungsbescheid rechtzeitig anzufechten.

Damit kommt es entgegen der Ansicht des LSG darauf an, ob dem Bescheid vom 2. Juli 1959 ein Antrag zugrunde lag. Ob das der Fall ist, hat das LSG offen gelassen; es hat jedenfalls keine Feststellungen getroffen, die eine abschließende Entscheidung gestatten. Der im Juni 1958 gestellte Antrag war durch den Bescheid vom 5. September 1958 verbraucht, wenn dieser bindend geworden ist; er hätte dann zwar in einem Verfahren nach § 79 AVG nochmals seine Wirkung entfalten können; der Erstattungsbescheid vom 2. Juli 1959 ist jedoch kein nach § 79 AVG ergangener Bescheid gewesen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift hatten damals nämlich weder vorgelegen noch hatte die Beklagte ihr Vorliegen angenommen; sie ist im Bescheid vom 2. Juli 1959 nicht von einer Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 5. September 1958 ausgegangen. Grundlage des Bescheides vom 2. Juli 1959 konnte somit nur ein nach dem Bescheid vom 5. September 1958 wegen nicht eingetretener Bindung fortdauernder oder ein erneut gestellter Antrag sein. In den Akten der Beklagten, auf die das LSG Bezug genommen hat, ist ein neuer Antrag, der Grundlage des Bescheides vom 2. Juli 1959 sein könnte, nicht zu finden; der Kläger hat jedoch in der Klageschrift angeführt, er habe gegen den Bescheid vom 5. September 1958 Widerspruch erhoben, und andererseits ist in der Schriftwechselkarte der Beklagten der Eingang eines die Beitragserstattung betreffenden Schreibens des Klägers vom 16. März 1959 vermerkt. Sowohl ein Widerspruch als auch das Schreiben des Klägers vom 16. März 1959 könnte - was Sache des Tatrichters ist - als ein sei es fortdauernder sei es erneut gestellter Antrag gewertet werden. Es bedarf daher noch der Aufklärung, wie sich der Kläger nach dem Bescheid vom 5. September 1958 verhalten hat; dafür kann mit bedeutsam sein, daß die Beklagte ihm im Bescheid vom 5. September 1958 anheimgestellt hatte, den Antrag auf Beitragserstattung zu gegebener Zeit zu wiederholen. Sollten nach der erforderlichen Aufklärung allerdings Zweifel verbleiben, ob dem Bescheid vom 5. September 1958 noch ein Erstattungsantrag des Klägers zugrunde lag, so würde das zu Lasten des Klägers gehen (vgl SozR Nrn 23, 48 zu § 128 SGG).

Für den Fall, daß eine Nichtigkeit des Bescheides vom 2. Juli 1959 wegen fehlenden Antrages nicht festgestellt werden kann, wäre aus den insoweit zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils auch für eine Aufhebung des genannten Bescheides kein Raum. Die Behauptung des Klägers, er sei erst nach dem 2.September 1959 in den Besitz von Versicherungsunterlagen aus der DDR gelangt, steht im Widerspruch zu den Feststellungen des LSG, gegen die zulässige Verfahrensrügen nicht erhoben sind; im übrigen hatte er in der Klageschrift nur behauptet, die Beklagte habe diese Urkunden erst nachträglich erlangt.

Die im Urteil des erkennenden Senats vom 30. September 1974 - 11 RA 69/73 - offen gelassene Frage, ob der Versicherungsträger unter den Voraussetzungen, unter denen er im Falle unrechtmäßiger Leistungsversagung nach § 79 AVG zur Neufeststellung verpflichtet ist, zu einer Aufhebung des Erstattungsbescheides im Einverständnis mit dem Versicherten und gegen Rückzahlung der erstatteten Summe verpflichtet sein kann, ist zu verneinen. § 79 AVG betrifft allein die unrechtmäßige Vorenthaltung von Leistungen, nicht aber Fälle rechtswidriger Leistungsgewährung; für solche bedarf es einer Eingriffsermächtigung, die in § 79 AVG nicht gefunden werden kann. Eine solche Ermächtigung kann durch ein Einverständnis des Versicherten und seine Bereitschaft zur Wiedereinzahlung jedenfalls nicht mit der Wirkung ersetzt werden, daß dann eine Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Aufhebung des Erstattungsbescheides bestünde. § 79 AVG räumt dem Versicherungsträger kein Ermessen ein, sondern verpflichtet ihn zur Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes in jedem Falle.

Das müßte, wollte man dem Grundgedanken dieser Vorschrift Rechnung tragen, auch hier gelten. Eine Verpflichtung des Versicherungsträgers könnte also insbesondere nicht davon abhängig sein, daß der Versicherte zur Wiedereinzahlung bereit ist und sich auf die Rechtswidrigkeit beruft. Ein anderes Ergebnis würde eine entsprechende Regelung der Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte voraussetzen.

Nach alledem war, da der Senat die noch fehlenden Feststellungen nicht selbst zu treffen vermag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2136112

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