Leitsatz (amtlich)

Hat ein Rentenversicherungsträger einem Versicherten aus dem Tuberkuloseversorgungswerk Geldleistungen gewährt, so kann er diese Leistungen selbst durch eine bereits im voraus abgegebene Erklärung nicht für den Fall später rückwirkend gewährter Invalidenrente in Rentenvorschüsse umwandeln. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Versicherte einen Antrag auf Gewährung eines Rentenvorschusses nicht gestellt hat.

 

Normenkette

RVO § 1252 Fassung: 1957-02-23, § 1309 Fassung: 1957-07-27, § 1311 Fassung: 1934-05-17

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln, Zweigstelle Aachen, vom 20. Januar 1959 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der erste Satz des angefochtenen Urteils wie folgt gefaßt wird:

"Der Bescheid der Beklagten vom 2. April 1953 wird aufgehoben, soweit er die Einbehaltung des Restbetrages von 387,70 DM und dessen Verrechnung auf die Tuberkulosehilfe betrifft."

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der Kläger erhielt vom Gesundheitsamt A, welches auftragsweise die Tuberkulosehilfe (Tbc-Hilfe) sowohl für die Beklagte wie für den Landschaftsverband Rheinland durchführt, vom 1. Mai 1952 bis zum 30. April 1953 wirtschaftliche Tbc-Hilfe in Form einer monatlichen Unterstützung in Höhe von 47,25 DM. Am 4. September 1952 wurde ihm von diesem Amt ein Formular vorgelegt, in dem eingangs vermerkt ist, daß er ab 1. Mai 1952 diese wirtschaftliche Tbc-Hilfe erhält. Er unterschrieb die in diesem Formular weiterhin enthaltene vorgedruckte Erklärung folgenden Inhalts:

"Ich erkenne an, daß ich in der Zeit vom 1. Mai 1952 bis auf weiteres monatlich DM 47,25 Tbc-Hilfe-Unterstützung von der Tbc-Fürsorge A erhalten habe bzw. noch erhalte, und ich bin damit einverstanden, daß der genannte Fürsorgeverband Ersatz dafür aus der mir zustehenden Invalidenrente erhält."

Diese Erklärung übersandte das Gesundheitsamt A am 5. September 1952 der Beklagten unter Verwendung des weiterhin auf diesem Formular vorgedruckten Textes:

"... Mit Beziehung auf die Zustimmungserklärung des Unterstützten wird für den genannten Fürsorgeverband nach §§ 1531, 1536 b, 1536 - 1541 RVO Ersatz aus der Rente des Unterstützten beansprucht. ..."

Am 3. November 1952 ging dem Kläger darüber hinaus eine formularmäßige Erklärung der Beklagten folgenden Inhalts zu:

"Die beantragte wirtschaftliche Tbc-Hilfe wird Ihnen im Auftrage der LVA. gezahlt. Sie stellt eine freiwillige Leistung der LVA. dar, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Haben Sie bereits Antrag auf Invalidenrente gestellt oder wird später von Ihnen ein solcher Antrag gestellt, so ist die wirtschaftliche Hilfe als Vorschuß auf diejenigen Rentenansprüche anzusehen, die den gleichen Zeitraum umfassen, für den Ihnen wirtschaftliche Hilfe gezahlt wurde."

Er bestätigte den Empfang dieses Schreibens.

Auf Antrag des Klägers vom 14. Juli 1952 bewilligte ihm die Beklagte durch förmlichen Bescheid vom 17. März 1953 rückwirkend vom 1. August 1952 an Invalidenrente. Der für die Zeit vom 1. August 1952 bis zum 30. April 1953 fällige Rentenzahlbetrag wurde mit 675,70 DM festgestellt. In dem Bescheid ist vermerkt, daß dieser Betrag vorläufig einbehalten werde, da er möglicherweise mit dem Versorgungsamt Aachen verrechnet werden müsse. Hinsichtlich der gezahlten wirtschaftlichen Tbc-Hilfe enthält der Bescheid dagegen keine Einschränkung. Am 2. April 1953 teilte die Beklagte dem Kläger formlos mit:

"Im Nachgang zu unserem Rentenbescheid vom 17. März 1953 teilen wir Ihnen mit, daß das Versorgungsamt Aachen einen Ersatzanspruch von 288.- geltend macht. Dieser Betrag wurde heute dem Versorgungsamt überwiesen. Der Restbetrag von 387.70 DM wurde zum Ausgleich für die an Sie gezahlte Tuberkulosehilfe einbehalten und verrechnet, so daß an Sie nichts mehr nachzuzahlen bleibt."

Gegen den Bescheid der Beklagten vom 17. März 1953 legte der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt A ein. Diese ging am 1. Januar 1954 nach § 215 Abs. 2 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht Köln über. Der Kläger beantragte, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. März 1953 zu verurteilen, an den Kläger 387.50 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 15. April 1953 zu zahlen.

Das Sozialgericht hob durch Urteil vom 20. Januar 1959 den Bescheid der Beklagten vom 17. März 1953 auf und verurteilte die Beklagte, an den Kläger 387.50 DM zu zahlen. Soweit der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Zinsen verlangt hatte, wies es die Klage ab. Es ließ die Berufung zu.

Das Sozialgericht vertritt die Auffassung, daß der Kläger auch für die streitige Zeit Inhaber der geltend gemachten Rentenforderung geblieben sei; insbesondere sei sie weder durch Abtretung noch durch Verzicht oder Aufrechnung mit einer der Beklagten zustehenden Gegenforderung erloschen.

Gegen das ihr am 27. Februar 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 23. März 1959, eingegangen beim Bundessozialgericht am 24. März 1959, Sprungrevision eingelegt und diese, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 27. Mai 1959 verlängert worden war, mit Schriftsatz vom 14. Mai 1959 begründet. Der Revisionsschrift ist eine Erklärung des Klägers beigefügt, daß er mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden sei. Die Beklagte begründet ihre Revision wie folgt:

Anders als bei dem dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1957 zugrunde liegenden Fall, in welchem der Versicherungsträger eine Verrechnung der gezahlten Tbc-Hilfe mit einer Rentennachzahlungsforderung vorgenommen habe, ohne daß im Laufe des Rentenverfahrens eine Vorschußdeklarierung oder Forderungsabtretung erfolgt sei, liege in diesem Falle eine vom Kläger während des Rentenverfahrens unterschriebene Abtretungserklärung vor. Es handele sich zwar bei dieser Erklärung um eine Abtretung nach § 1531 RVO. Das für die Abgabe der Abtretungserklärung benutzte Formular sei im allgemeinen nur für die Abtretung von Rentenbeträgen an den Fürsorgeverband wegen gezahlter Fürsorgeleistungen gebräuchlich. Es komme jedoch wohl auf den Zeitpunkt und die Form der Erklärung der Abtretung und auf die Angabe falscher Rechtsgrundlagen nicht an. Entscheidend sei vielmehr, daß überhaupt eine Abtretungserklärung abgegeben worden sei.

Die Rechtsgrundsätze des vorerwähnten Urteils des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1957 seien nach ihrer Ansicht zudem nicht anwendbar auf solche Fälle, in denen der Rentenfestsetzungsbescheid bereits vor der Verkündung dieses Urteils ergangen sei und deshalb noch nach der Grundsatzentscheidung des früheren Reichsversicherungsamts verfahren worden sei oder in denen der Rentenfestsetzungsbescheid vor der Verkündung des Urteils ergangen und gegen ihn keine Klage erhoben worden sei.

Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 20. Januar 1959 aufzuheben und ihren Bescheid vom 17. März 1953 wiederherzustellen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens aufzuerlegen,

wobei er den Klageantrag dahin ergänzt,

auch den Bescheid der Beklagten vom 2. April 1953 insoweit aufzuheben, als mit ihm zum Ausgleich für die gezahlte Tbc-Hilfe 387.70 DM einbehalten worden sind.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der zulässigen Sprungrevision mußte der Erfolg versagt bleiben.

Der Klageantrag ist dahin zu verstehen, daß die Aufhebung des den Bescheid vom 17. März 1953 ergänzenden Bescheids vom 8. April 1953 und die Verurteilung der Beklagten zur Auszahlung von 387.70 DM restlicher Rente begehrt werden. Die Aufhebung des Bescheides vom 17. März 1953 kann der Kläger ernstlich nicht gewollt haben, da er durch ihn nicht beschwert ist: denn dieser sagt über eine Einbehaltung des aufgelaufenen Rentenbetrages wegen der gewährten wirtschaftlichen Tbc-Hilfe nichts aus. Erst durch den formlosen, den Rentenfeststellungsbescheid vom 17. März 1953 ergänzenden Bescheid vom 2. April 1953 wurde der für die zurückliegende Zeit fällige Rentenzahlbetrag für diesen Zweck einbehalten.

Wie das Sozialgericht im Ergebnis jedenfalls zu Recht entschieden hat, durfte die Beklagte die Auszahlung der rückständigen Rente in Höhe von 387.70 DM nicht verweigern. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte den förmlichen Rentenfeststellungsbescheid vom 17. März 1953 noch zu Ungunsten des Klägers ändern durfte; denn der Bescheid vom 2. April 1953 ist insoweit nichtig, als die gewährte wirtschaftliche Tbc-Hilfe in einen Rentenvorschuß umdeklariert wird, den der Kläger nicht beantragt hatte. In der Regel wird man zwar annehmen dürfen, daß der Rentenantrag stillschweigend den Antrag auf Gewährung eines Vorschusses für den Fall enthält, daß der Rentenantrag noch nicht alsbald bearbeitet werden kann. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Versicherte ausdrücklich erklärt, daß er keinen Vorschuß begehrt oder wenn aus den Umständen des Einzelfalles hierauf geschlossen werden muß. Das letztere ist hier der Fall. Da der Kläger bereits laufend Tbc-Hilfe erhielt, hatte er kein Interesse an der Gewährung eines Rentenvorschusses. Abgesehen davon, daß ihm schon infolge der Tbc-Hilfe die zum Leben notwendigen Mittel zur Verfügung standen, muß angenommen werden, daß ihm bekannt war, daß die Beklagte den Vorschuß auf die Tbc-Hilfe anrechnen konnte, daß sich durch einen solchen Antrag also seine wirtschaftliche Lage im Ergebnis nur verschlechtern konnte. Die Beklagte hätte daher davon ausgehen müssen, daß der Kläger keinen Rentenvorschuß begehrte. Ein Bescheid aber, durch welchen ein Rentenvorschuß gewährt wird, ohne daß der Versicherte dies beantragt hat, ist nichtig. Rentenleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung setzen einen Antrag voraus. Dasselbe gilt, wenn dies auch nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist, für Rentenvorschüsse, da auch sie Rentenleistungen sind, wenn auch mit der Verpflichtung behaftet, sie gegebenenfalls zurückzuzahlen. Es muß dem Versicherten überlassen bleiben, ob er Vorschüsse erhalten will; denn letztlich bieten Vorschüsse nicht nur einen Vorteil, sondern bürden dem Versicherten auch die Pflicht auf, sie zurückzuzahlen, falls dem Rentenantrag nicht stattgegeben wird, Dies aber kann ihn u.U. in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen, da die Vorschüsse in der Regel inzwischen verbraucht sind. Die Bescheide, durch welche Renten der gesetzlichen Rentenversicherung festgestellt oder Vorschüsse auf solche Renten gewährt werden, sind als mitwirkungsbedürftige Verwaltungsakte in der Regel nichtig, wenn es an der Mitwirkung des Versicherten, also an der Antragstellung mangelt. Der Grundsatz, daß mitwirkungsbedürftige Verwaltungsakte grundsätzlich nichtig sind, wenn sie ergehen, ohne daß im Einzelfall der erforderliche Antrag gestellt ist, ist im allgemeinen Verwaltungsrecht entwickelt worden (vgl. dazu Pr.OVG. Bd 67 S. 64; Jellinek, Verwaltungsrecht, 3.Aufl., S. 250; Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl., S. 204; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts I, 3.Aufl., S. 176). Es gilt z.B. bei Einbürgerungen, Beamtenernennungen, Genehmigungen, Konzessionen und sonstigen Gewährungen. Es bestehen aber keine Bedenken, ihn auch auf das Recht der Sozialversicherung anzuwenden, und zwar auch auf das Leistungsrecht, soweit die Leistungen nur auf Antrag gewährt werden; denn grundsätzliche Unterschiede zum allgemeinen Verwaltungsrecht bestehen insoweit nicht. Auch hier besteht ein Interesse des Versicherten, daß ihm die Leistungen nur dann gewährt werden, wenn er es wünscht, zumal die Leistungen vielfach auch Eingriffe in seine Rechtsstellung bringen (z.B. die Beendigung des Versicherungsverhältnisses herbeiführen und die Verpflichtung zur evtl. Rückzahlung von Vorschüssen begründen). Dieses Interesse aber verlangt ebenso, wie im allgemeinen Verwaltungsrecht, daß ein solcher Verwaltungsakt nicht nur anfechtbar, sondern daß er nichtig ist, daß es also nicht darauf ankommt, ob er rechtzeitig angefochten worden ist.

Die Beklagte meint weiter, daß sich der Kläger durch seine Erklärung vom 4. September 1952 mit der Anrechnung des Rentenvorschusses auf die gewährte Tbc-Hilfe einverstanden erklärt habe. Sie verkennt jedoch, daß diese Erklärung nicht geeignet ist, den Rentenanspruch des Klägers zu beeinflussen; sie richtet sich an das Gesundheitsamt der Stadt Aachen, das allerdings nur als Beauftragter des zuständigen Trägers der Tbc-Hilfe gehandelt hat. Wenn auch die Beklagte im vorliegenden Falle der zuständige Träger der Tbc-Hilfe ist, so ist doch die von dem Kläger abgegebene Erklärung nach dem eindeutigen Wortlaut dieses Formulars an den zuständigen Fürsorgeverband, d.h. also den Landschaftsverband Rheinprovinz und nicht an die Beklagte gerichtet. Die Eindeutigkeit dieses Formulars läßt entgegen der Ansicht der Beklagten für eine Auslegung, daß diese Erklärung als an sie gerichtet umgedeutet werden könne, keinen Raum.

Da der Kläger somit für die strittige Zeit wirtschaftliche Tbc-Hilfe und keinen Rentenvorschuß erhalten hat, dem Landschaftsverband Rheinland kein Ersatzanspruch zusteht, da er keine Tbc-Hilfe gewährt hat, der Kläger der Beklagten gegenüber nicht über diesen Anspruch verfügt hat, auch keine wirksame Aufrechnung erfolgt ist, da der Beklagten kein Anspruch auf Rückerstattung der Tbc-Hilfe zusteht, hat der Kläger Anspruch auf Auszahlung der festgestellten Invalidenrente auch für die strittige Zeit.

Der Verwaltungsakt der Beklagten vom 2. April 1953 ist daher rechtswidrig, soweit er die Einbehaltung der Rente wegen der gezahlten Tbc-Hilfe betrifft; er mußte somit aufgehoben werden. Das angefochtene Urteil war entsprechend zu berichtigen. Soweit der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung des einbehaltenen Betrages begehrt, bestand zur Verurteilung kein Rechtsschutzinteresse, da der Feststellungsbescheid vom 17. März 1953 bereits feststellt, daß die Beklagte zur Leistung der Invalidenrente auch für die strittige Zeit verpflichtet ist. Über den Zinsanspruch bedurfte es keiner Entscheidung, weil der Kläger keine Revision eingelegt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 265

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