Entscheidungsstichwort (Thema)

Ursächlicher Zusammenhang. innere Ursache. auf der Betriebsstätte tot aufgefunden. unmittelbare Unfallursache. Unterbrechung des betrieblichen Zusammenhangs

 

Orientierungssatz

1. Es besteht keine Rechtsvermutung für das Vorliegen eines Arbeitsunfalles, wenn ein Versicherter tot auf der Betriebsstelle aufgefunden wird, sondern es ist darüber in freier Beweiswürdigung zu entscheiden (vgl BSG 29.3.1963 2 RU 75/61 = BSGE 19, 52).

2. Wenn ein Versicherter einen Unfall am Arbeitsplatz bei betriebsbezogener Tätigkeit erleidet, kann das Tatsachengericht verfahrensfehlerfrei einen Zusammenhang des Unfalls mit der versicherten Tätigkeit auch dann als bewiesen ansehen, wenn genaue Feststellungen über den unmittelbar den Unfall bewirkenden Umstand - Stolpern, Rutschen, Schreckreaktion - nicht getroffen werden können. Dies gilt jedenfalls, soweit keine Umstände vorliegen, die eine Unterbrechung des betrieblichen Zusammenhanges nahelegen. Das Gericht kann dann aus dem äußeren Zusammenhang der Arbeitsverrichtung mit dem Unfall die erforderliche Zurechenbarkeit des Unfalls zur versicherten Tätigkeit feststellen.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 23.08.1983; Aktenzeichen L 6 U 226/83)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 28.04.1983; Aktenzeichen S 7a U 8/82)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Ehemann der Klägerin - K.-H.M. (M.) -, der am 2. September 1981 verstorben ist, am 26. August 1981 einen Arbeitsunfall erlitten hat und der Klägerin die von ihr beantragten Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen.

M. war seit Januar 1981 bei der Firma K. AG in B. als Dekorateur beschäftigt. Am Unfalltag mußte er in den Verkaufsräumen Preis- bzw Reklameschilder aus Pappe oder Kunststoff auswechseln. Diese Schilder waren an Drähten aufgehängt, die mit Magneten an der Decke der 3,10 m bis 3,50 m hohen Verkaufsräume befestigt waren. Mit einer Stange, die bis zu einer Länge von 2,00 m ausgezogen werden konnte, mußte M. die Magnete von der Decke lösen, die alten Schilder abnehmen und die neuen anbringen sowie schließlich die Magnete wieder an der Decke befestigen. Diese Arbeiten verrichtete er am Unfalltag seit 7.40 Uhr mit einer Unterbrechung durch die Frühstückspause von 10.00 Uhr bis 10.20 Uhr. Etwa um 13.40 Uhr bemerkte ein namentlich nicht bekannter Kunde der Firma, daß M. beim Weggehen vom einen zum anderen Schild schwankte, fiel und dabei mit dem Hinterkopf auf den Fußboden aufschlug. Er blieb zunächst mit Bewußtseinsstörungen liegen und blutete aus Mund und Nase. Bei einer Computer-Tomographie wurde ein epidurales Hämatom festgestellt. Nach dessen Entfernung fiel M. zunächst in ein zunehmend tieferes Koma, das am 2. September 1981 zu seinem Tode führte. Der Bitte der Beklagten, der Exhumierung und Obduktion der Leiche des M. zuzustimmen, entsprach die Klägerin nicht.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 7. Dezember 1981 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil M. keinen Arbeitsunfall erlitten habe, sondern aus innerer Ursache gestürzt sei.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, der Klägerin Witwenrente, Überbrückungshilfe und Sterbegeld zu zahlen; es hat die Berufung zugelassen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 23. August 1983 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Der Tod des M. sei die Folge eines Arbeitsunfalles; M. habe am 26. August 1981 bei seiner beruflichen Beschäftigung im "Schilderdienst" einen Arbeitsunfall erlitten. Es lasse sich allerdings nicht feststellen, daß ein äußeres Hindernis im Bereich der Arbeitsstelle zum Sturz des M. geführt habe. Auszuschließen sei, daß M. auf einigen auf dem Boden liegenden Plastiktüten ausgeglitten sei. Es bestehe ferner kein Anlaß anzunehmen, M. sei bei dem Aufhängen der Schilder über einen auf dem Boden befindlichen Gegenstand gestolpert. Er sei auch nicht von einer Leiter herabgefallen. Die von M. durchgeführten Arbeiten - Überkopfarbeiten und Arbeiten im Stehen mit Blick nach oben - könnten keine wesentlich mitwirkende Ursache seines Sturzes gewesen sein. Dazu müßten noch andere - innerkörperliche oder äußere - Faktoren oder psychische Einflüsse hinzutreten, die hier nicht erkennbar seien. Des weiteren lasse sich nicht feststellen, daß eine Betriebseinrichtung als mitwirkende Ursache für die Schwere der Verletzung und für den Tod in Betracht komme. Es lasse sich somit nicht wahrscheinlich machen, daß ein betriebsbedingter Umstand im Sinne einer wesentlich mitwirkenden Ursache zum Sturz des M. und zu seinem Tode geführt habe.

Auf der anderen Seite lasse sich auch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, daß eine nicht betriebsbedingte krankhafte Erscheinung, also eine innere Ursache, die wesentlich mitwirkende Ursache seines Sturzes und des Todes gewesen sei. Da sonach der Unfall bei der betrieblichen Beschäftigung auf der Arbeitsstelle eingetreten sei, auf der anderen Seite aber eine innere Ursache des Sturzes nicht nachgewiesen sei, müsse es als wahrscheinlich angesehen werden, daß der ursächliche Zusammenhang des Unfalls des M. mit seiner betrieblichen Tätigkeit gegeben sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und rügt, das LSG habe die von ihm zitierten Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) unzutreffend gewürdigt. Die Wendung im Urteil, eine Beweislastfrage stelle sich nicht, sei unzutreffend, da hier weder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine äußere Ursache für den Unfall noch eine innere Ursache sich ausschließen lasse. Bisher sei die Rechtsprechung des BSG dahin gegangen, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen mit einem solchen Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt sein müßten, daß sich vernünftigerweise die richterliche Überzeugung hierauf gründen könne, und die Folgen des Unbewiesenbleibens einer Tatsache von demjenigen zu tragen seien, der aus dieser Tatsache Rechtsfolgen für sich ableiten wolle. In den vom LSG zitierten Urteilen des BSG sei diese Rechtslage nicht geändert worden. Dazu wäre erforderlich gewesen, daß das BSG die Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung deutlich gemacht hätte. Das sei aber nicht der Fall. Das LSG habe auch nicht berücksichtigt, daß die Klägerin ihre Zustimmung zu einer Obduktion verweigert habe. Das führe zwar nicht zu einer Umkehr der Beweislast; wenn jedoch eine weitere Feststellung am Verhalten der Klägerin gescheitert sei, dann müsse diese sich die fehlende Feststellbarkeit entgegenhalten lassen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Niedersachsen sowie das Urteil des SG Oldenburg vom 28. April 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Klägerin habe auch mit Recht der Meinung sein dürfen, daß drei Monate nach der Beerdigung keine besseren Erkenntnisse mehr gewonnen werden können als unmittelbar nach dem Unfall bei der Operation und der Computer-Tomographie.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig und insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über die Sache zu entscheiden.

Nach § 589 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sind die von der Klägerin geltend gemachten Leistungen - Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Rente an die Hinterbliebenen - bei Tod durch Arbeitsunfall zu gewähren.

Die Beteiligten gehen zu Recht gemeinsam davon aus, daß M. einen Unfall erlitten hat. Der Begriff des Unfalls wird in der RVO nicht bestimmt. Nach der in Rechtsprechung und Schrifttum seit langem im wesentlichen einhellig vertretenen Auffassung ist Unfall ein körperlich schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis. Soweit daneben zum Teil auch gefordert wird, das Ereignis müsse "von außen" auf den Menschen einwirken, soll damit lediglich ausgedrückt werden, daß ein aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes Ereignis nicht als ein Unfall anzusehen ist. Dazu reicht es aus, wenn der Körper des Versicherten beim Auffallen gegen den Boden stößt (vgl BSG SozR 2200 § 550 Nr 35 mwN). Die Beteiligten streiten jedoch darüber, ob dieser Unfall auch ein Arbeitsunfall ist. Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten erleidet. Das LSG hat nicht mit der erforderlichen Klarheit festgestellt, ob nach seiner Überzeugung der Unfall des M. bei einer betrieblichen Tätigkeit und durch sie eingetreten ist. Es hat angenommen, daß die von ihm erörterten Umstände trotz erschöpfender Aufklärung des Sachverhalts nicht die positive Feststellung zulassen, daß ein besonderer betriebsbedingter Umstand zum Sturz des M. und zu seinem Tode geführt habe. Es hält die Klage aber dennoch für begründet, weil nach seiner Auffassung und der Rechtsprechung des BSG ein ursächlicher Zusammenhang des Unfalls mit der versicherten Tätigkeit nur dann zu verneinen sei, wenn festgestellt werden könne, daß der Unfall aus innerer Ursache eingetreten sei; diese Feststellung sei hier nicht möglich. Das LSG führt zur Begründung Urteile des BSG an; es interpretiert diese allerdings unrichtig. Zwar sagt der 2. Senat des BSG in seinem Urteil vom 22. März 1983 - 2 RU 14/82 -, daß "ein ursächlicher Zusammenhang des Unfalls mit der versicherten Tätigkeit ua verneint werden (kann), wenn festgestellt wird, daß er infolge ... innerer Ursache eingetreten ist ...". Ähnliche Wendungen finden sich in den Urteilen vom 26. Januar 1982 - 2 RU 45/81 - in USK 8215 und Urteil vom 29. März 1984 - 2 RU 21/83 -. Das LSG wähnte sich deshalb in der Lage, über die Klage zu entscheiden, und war der Ansicht, eine Beweislastfrage stelle sich nicht. Bevor die Frage nach der Verteilung der Beweislast gestellt werden kann, muß die Erhebung der Beweise und deren Würdigung vorausgehen. Das LSG war offenbar - darauf deutet jedenfalls seine abrupte Aussage hin, daß der ursächliche Zusammenhang des Unfalls des Klägers mit einer betrieblichen Tätigkeit wegen der Rechtsprechung des BSG gegeben sei - der Ansicht, hier müsse von einer "Rechtsvermutung" oder einer "Beweisregel" ausgegangen werden, daß ein Versicherter, der auf der Betriebsstätte tot aufgefunden wird, einem Arbeitsunfall erlegen sei. Das wurde jedoch in den zitierten Urteilen nicht gesagt. Das BSG ist vielmehr jeweils im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände zu dem Ergebnis gekommen, daß der betriebsbezogene Zusammenhang anzunehmen sei, wenn innere Ursachen auszuschließen seien. Dies ist lediglich die Überprüfung der Beweiswürdigung. Das BSG hat bereits in der Entscheidung vom 29. März 1963 - BSGE 19, 52 - ausgeführt, daß keine Rechtsvermutung für das Vorliegen eines Arbeitsunfalles besteht, wenn ein Versicherter tot auf der Betriebsstelle aufgefunden wird, sondern darüber in freier Beweiswürdigung zu entscheiden ist.

Das LSG wird also die Beweiswürdigung nachzuholen haben. Dazu gehört die Prüfung, ob die betriebsbezogenen oder die "inneren" Umstände für Entstehung und Folgen des Unfalls ursächlich sind. Dazu gehört möglicherweise auch die Nachholung von Fragen an den Gutachter (ist der Tod Folge des Sturzes oder einer inneren Ursache?). Wenn ein Versicherter einen Unfall am Arbeitsplatz bei betriebsbezogener Tätigkeit erleidet, kann das Tatsachengericht verfahrensfehlerfrei einen Zusammenhang des Unfalls mit der versicherten Tätigkeit auch dann als bewiesen ansehen, wenn genaue Feststellungen über den unmittelbar den Unfall bewirkenden Umstand - Stolpern, Rutschen, Schreckreaktion - nicht getroffen werden können. Dies gilt jedenfalls, soweit keine Umstände vorliegen, die eine Unterbrechung des betrieblichen Zusammenhanges nahelegen. Das LSG kann dann aus dem äußeren Zusammenhang der Arbeitsverrichtung mit dem Unfall die erforderliche Zurechenbarkeit des Unfalls zur versicherten Tätigkeit feststellen. Auch daß die Klägerin die Exhumierung nicht gestattet hat, nötigt zu keiner anderen Entscheidung.

Die Sache ist an das LSG zurückzuverweisen, weil das Revisionsgericht die Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellung nicht selbst vornehmen kann.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664510

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge