Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsnatur von Verwaltungsbescheiden. Erstbescheid. Zugunstenbescheid

 

Orientierungssatz

Der Anspruch auf Berücksichtigung des besonderen beruflichen Betroffenseins ist sowohl nach der vor dem ersten Neuordnungsgesetz (KOVNOG 1) vom 1960-06-27 idF (BVG § 30 Abs 1 S 2 aF) wie auch danach (BVG § 30 Abs 2 nF) nicht als selbständiger Anspruch ausgestaltet worden. Das Gesetz behandelt das berufliche Betroffensein lediglich wie Umstände, die wie Bemessungsfaktoren für die MdE in Betracht kommen sollen. Dies gebietet, wie das BSG entschieden hat (vgl BSG vom 1960-04-28 8 RV 5/59 = BSGE 12, 134 und BSG vom 1964-11-05 10 RV 99/64 = BSGE 22, 82, 83), eine einheitliche Bewertung der MdE, wobei die schädigungsbedingten beruflichen Erschwernisse stets mit zu prüfen sind. Folglich handelt es sich bei den angefochtenen Verwaltungsbescheiden, mit denen die Versorgungsverwaltung die nachträgliche Anerkennung eines besonderen beruflichen Betroffenseins abgelehnt hat, nicht um Erstbescheide, sondern um (negative) Zugunstenbescheide (KOVVfG § 40 Abs 1).

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1956-06-06, Abs. 2; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.09.1977; Aktenzeichen L 7 V 132/76)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 11.05.1976; Aktenzeichen S 12 V 8/73)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. September 1977 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen einer besonderen Berufsbetroffenheit (§ 30 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -).

Die Versorgungsverwaltung hatte im Streitverfahren vor dem Oberversicherungsamt (OVA) Münster als Schädigungsfolgen "Durchfallneigung nach Ruhr und Verlust des rechten Hodens" mit einer MdE von 30 vH anerkannt. Sie war diesem Anerkenntnis vom 27. November 1953 mit Ausführungsbescheid vom 31. Juli 1954 nachgekommen.

Der Kläger begehrte im Jahre 1972 ein Karzinomleiden als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen, seine Versorgungsrente wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit zu erhöhen und ihm Berufsschadensausgleich zu gewähren. Die Versorgungsverwaltung lehnte dies ab (Bescheid vom 17. Juli 1972; Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 1973). Die zunächst uneingeschränkt erhobene Klage verfolgte der Kläger späterhin nur noch mit dem Ziel der Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins. Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt und verurteilte den Beklagten antragsgemäß, die MdE um 10 vH auf 40 vH anzuheben. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Beklagten zurück. Es meinte zur Rechtsnatur der angefochtenen Verwaltungsbescheide, sie seien als "echte Erstbescheide" und nicht als Zugunstenbescheide (§ 40 Abs 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes in der Kriegsopferversorgung - KOVVfG -) oder als Abänderungsbescheide (§ 62 Abs 1 BVG) einzuordnen. Über denselben Streitgegenstand sei nämlich, wie dies die §§ 40 KOVVfG, 62 BVG voraussetzten, nicht entschieden worden. Die seinerzeitige Berufsstellung des Klägers habe bei der Bemessung der MdE keine Rolle gespielt. Vielmehr sei, wie aus dem Inhalt der Akten zweifelsfrei ersichtlich, die aus "rein medizinischer Sicht" resultierende medizinisch-anatomische MdE im allgemeinen Erwerbsleben streitig gewesen. Nur darauf habe sich das Anerkenntnis bei der Festsetzung der MdE um 30 vH bezogen. Des weiteren führt das LSG aus, es habe nach Zeugeneinvernahmen und Anhörung ärztlicher Sachverständiger die Überzeugung gewonnen, die Berufsaufgabe des Klägers als Landwirt im Jahre 1950 sei aus im wesentlichen schädigungsbedingten Gründen erfolgt. Diesen Beruf habe der Kläger nach dem Besuch der Volksschule erlernt und bis zu seiner Einberufung im Jahre 1939 ausgeübt. Der Kläger habe vor der Schädigung den Beruf eines selbständigen Landwirts oder verantwortlichen landwirtschaftlichen Verwalters angestrebt. Dieses Ziel habe er nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1948 weiterverfolgt und durch Einheirat verwirklichen wollen. Durch die anerkannte Schädigungsfolgen sei er den körperlichen Anforderungen einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nicht gewachsen gewesen. Aus diesem Grunde sei auch die Einheirat in eine Landwirtschaft gescheitert.

Der Beklagte rügt mit der zugelassenen Revision, das LSG sei von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (ua BSG in BVBl 1966, 7; BSG in Breithaupt 1969, 867; BSGE 22, 83; 29, 139; 40, 170 f) abgewichen. Danach sei der Anspruch auf Berücksichtigung einer besonderen Berufsbetroffenheit im Sinne des § 30 Abs 1 BVG aF und des § 30 Abs 2 BVG nF nicht als selbständiger Anspruch ausgestaltet worden. Bei dem besonderen beruflichen Betroffensein handele es sich lediglich um einen von mehreren Faktoren, die für die einheitlich festzusetzende MdE maßgebend seien. Demgemäß hätte sich das LSG nicht über die Bindungswirkung des im OVA-Verfahren abgegebenen Anerkenntnisses hinwegsetzen dürfen. Der angefochtene Bescheid vom 17. Juli 1972 sei kein Erstbescheid, sondern ein Zugunstenbescheid im Sinne des § 40 Abs 1 KOVVfG. Das LSG habe über die Unrichtigkeit des seinerzeitigen Anerkenntnisses keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Zudem ergebe sich aus dem Akteninhalt entgegen der Auffassung des LSG nicht, daß der Kläger bis zu seiner Einberufung im Jahre 1939 die Tätigkeit eines Landwirts ausgeübt habe. Der Kläger habe verschiedentlich den Beruf eines Kaufmanns bzw Eierhändlers angegeben. Deshalb hätte sich das LSG zu einer weiteren Beweiserhebung gedrängt fühlen müssen. Die §§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 und 128 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) seien verletzt. Dieser Verfahrensverstoß sei aber wesentlich, da das LSG dann, wenn der Kläger vor der Schädigung nicht mehr in der Landwirtschaft tätig gewesen wäre, möglicherweise anders entschieden hätte. Dies insbesondere bei einer längerdauernden Tätigkeit als Kaufmann. Vom letzteren Beruf ausgehend, hätte der Kläger diesen auch nach der Schädigung noch ausüben können.

Der Beklagte beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen;

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Kläger meint, die Heraushebung der besonderen Berufsbetroffenheit in einem gesonderten Absatz des § 30 BVG und die Tatsache, daß der Beruf eines Landwirts in der MdE-Bewertung bisher keine Berücksichtigung gefunden habe, erfordere eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BSG. Das LSG habe die angefochtenen Bescheide zutreffend als Erstbescheide gewertet. Selbst wenn man hiervon nicht auszugehen hätte, sei das LSG von der Unrichtigkeit des ursprünglichen Bescheides ausgegangen. Es habe nämlich festgestellt, daß der Kläger den angestrebten und ausgeübten Beruf eines Landwirts aus schädigungsbedingten Gründen habe aufgeben müssen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist.

Das SG hat bei der Verurteilung des Beklagten, dem Kläger eine um 10 vH höhere Versorgungsrente - nunmehr insgesamt um 40 vH - zu gewähren, die Rechtsnatur der angefochtenen Verwaltungsbescheide verkannt. Gleiches gilt auch für das LSG. Es ist von der gewonnenen Überzeugung ausgegangen, der Kläger sei als Landwirt besonders beruflich betroffen. Die Versorgungsverwaltung habe über diesen Streitgegenstand bisher nicht entschieden. Die im Streitverfahren vor dem OVA durch Anerkenntnis zugebilligte Versorgungsrente nach einer MdE um 30 vH habe ausschließlich die aus rein medizinisch-anatomischer Sicht resultierende MdE und nicht auch ein besonderes berufliches Betroffensein umfaßt. Daraus schließt das LSG, bei den angefochtenen Bescheiden handele es sich soweit über den Antrag des Klägers im Jahre 1972 auf Gewährung einer höheren Rente wegen einer besonderen Berufsbetroffenheit nach § 30 Abs 2 BVG entschieden worden sei, um sogenannte Erstbescheide.

Für diese Rechtsansicht könnte das LSG den Wortlaut des § 30 Abs 3 BVG anführen, der Berufsschadensausgleich "nach Anwendung des Abs 2" vorsieht. Nachdem der Kläger seinen Antrag auf Berufsschadensausgleich - wenn auch erst im Klageverfahren - nicht mehr aufrechterhalten hat, kann dahinstehen, ob dieser Antrag ohne Ausnahme der Versorgungsverwaltung die weitere Verpflichtung auferlegt, sachlich über das besondere berufliche Betroffensein zu entscheiden (vgl hierzu BSG SozR § 30 BVG Nr 36; § 40 KOVVfG Nr 14). Jedenfalls erfaßt in einem Fall wie diesem, der dadurch gekennzeichnet ist, daß nurmehr die besondere berufliche Betroffenheit streitig ist, die bindend gewordene Festsetzung der MdE auch dann das besondere berufliche Betroffensein, wenn es von Anfang an zu beachten gewesen wäre, aber nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt worden ist (BSG BVBl 1966, 6 und 7 = Breithaupt 1965, 1257; BSG in Breithaupt 1969, 866, 867; vgl auch BSGE 29, 139; 40, 120 f). Das BSG hat sich von dem Gedanken leiten lassen, daß die Versorgungsverwaltung über den - materiellen - Versorgungsanspruch verbindlich entschieden hatte. Der Anspruch auf Berücksichtigung des besonderen beruflichen Betroffenseins ist sowohl nach dem vor dem ersten Neuordnungsgesetz (NOG) vom 27. Juli 1960 geltenden Fassung (§ 30 Abs 1 Satz 2 BVG aF) wie auch danach (§ 30 Abs 2 BVG nF) nicht als selbständiger Anspruch ausgestaltet worden. Das Gesetz behandelt das berufliche Betroffensein lediglich wie Umstände, die wie Bemessungsfaktoren für die MdE in Betracht kommen sollen. Dies gebietet, wie das BSG entschieden hat (BSGE 12, 134; 22, 82, 83), eine einheitliche Bewertung der MdE, wobei die schädigungsbedingten beruflichen Erschwernisse stets mit zu prüfen waren. Dieser Maßstab galt schon, als das OVA-Streitverfahren anhängig war (BSGE 15, 208, 209). Folglich handelt es sich bei den angefochtenen Verwaltungsbescheiden nicht um Erstbescheide, sondern um Zugunstenbescheide (§ 40 Abs 1 KOVVfG).

Nach § 40 Abs 1 KOVVfG kann die Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Die Voraussetzung für die Ausübung des der Verwaltungsbehörde eingeräumten Handlungsermessens kommt im Wortlaut der Vorschrift nicht zum Ausdruck. Dennoch geht man allgemein davon aus, daß eine Zugunstenregelung die Unrichtigkeit des früheren Bescheides voraussetzt. Dies ist der Überschrift des Abschnittes IX vor § 40 KOVVfG "Berichtigung von Bescheiden" zu entnehmen. Zugunsten des Berechtigten können nämlich nur solche Bescheide durch Erteilung eines neuen Bescheids berichtigt werden, die selbst unrichtig sind. Die VV Nr 2 zu § 40 KOVVfG bestätigt diese Auffassung. Danach wird gefordert, daß die frühere Entscheidung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unrichtig ist (BSG SozR § 40 KOVVfG Nr 12). Mithin setzt das Handlungsermessen der Verwaltungsbehörde dann ein, "wenn die frühere Entscheidung tatsächlich oder rechtlich unrichtig gewesen ist". Die Rechtsnatur eines solchen Bescheides wird auch dann nicht verändert, wenn dem Begehren nach Erteilung eines Zugunstenbescheides nicht stattgegeben wird. Dann handelt es sich um einen sogenannten negativen Zugunstenbescheid (BSGE 29, 278, 280).

Die Neufassung des § 30 BVG idF des 1. NOG gebietet entgegen der Meinung des Klägers nicht eine Abkehr von der Rechtsprechung des BSG. Dadurch wurde nicht etwa erstmalig eine gesonderte MdE-Festsetzung wegen eines beruflichen Betroffenseins eingeführt. Richtig ist lediglich, daß ab diesem Zeitpunkt die Behinderung im allgemeinen Erwerbsleben und im Beruf in unterschiedlichen Absätzen geregelt ist. Diese Aufspaltung und in gewisser Weise auch Verselbständigung (BSGE 36, 285, 289) führte zwangsläufig zu einer Betonung des beruflichen Betroffenseins sowie zu einer gegenüber bisher größeren Beachtung. Dadurch ist der früher uneingeschränkt geltende Leitgedanke der Einheitlichkeit des Rentenanspruchs (BSGE 11, 28; Krebs SGb 1959, 75) im Hinblick auf die Rechtsentwicklung beim besonderen Berufsbetroffensein modifiziert worden. Dennoch geht auch die neure Betrachtungsweise davon aus, daß die MdE im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs 1 BVG) und das berufliche Betroffensein bei aller Verselbständigung immer noch als Teilfaktor des einheitlichen Rentenanspruches anzusehen ist (BSGE 36, 285, 290; 37, 80, 84; SozR 1500 § 99 Nr 2). Mit der Aufteilung der Bewertung in zwei Absätzen ist eine sachliche Änderung nicht eingetreten (BSGE 22, 82, 84; 36, 285, 288).

Bis zum Inkrafttreten des 1. NOG war die Beurteilung der MdE allein in Absatz 1 des § 30 BVG geregelt. Dieser Absatz enthielt alle Faktoren, die auch nach dem derzeitigen Recht für die Beurteilung der MdE maßgebend sind, nämlich die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben, die seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen und auch das berufliche Betroffensein. Eine solche Berücksichtigung des Berufes im Versorgungsrecht ist nicht neu. Schon § 4 des Mannschaftsversorgungsgesetzes vom 31. Mai 1906 (Reichsgesetzblatt I S 593) und § 25 des Reichsversorgungsgesetzes sahen dies vor. § 30 Abs 1 Satz 1, 2. Halbsatz BVG idF vom 20. Dezember 1950 (BGBl I S 791) übernahm diesen Grundgedanken, wenn darin bestimmt ist "Der vor der Schädigung ausgeübte Beruf oder eine bereits begonnene oder nachweisbar angestrebte Berufsausbildung ist zu berücksichtigen". Bemerkenswert ist, daß die hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften (VV Nr 1 Abs 2) eine Erhöhung der MdE geboten, "wenn der Beschädigte durch die Art der Beschädigung in der Ausübung seines vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder angestrebten Berufes besonders betroffen wird". Das 5. Änderungsgesetz zum BVG vom 6. Juli 1956 (BGBl I S 463) änderte § 30 Abs 1 BVG, indem es die genannte VV nahezu wörtlich in Satz 2 übernahm. Durch diese unterschiedliche Fassung des Gesetzes blieb die nach der Rechtsprechung des BSG maßgebliche Interpretation, von der das LSG abgewichen ist, unberührt.

Wohl beinhalten die zunächst in ihrer Gesamtheit angefochtenen Verwaltungsbescheide auch eine Sachentscheidung, soweit über den Versorgungsantrag des Klägers auf Zuerkennung weiterer Schädigungsfolgen und Gewährung eines Berufsschadensausgleichs entschieden worden ist. Dieser Bescheidteil steht nicht in einem solch untrennbaren Zusammenhang, daß damit auch der übrige Teil des Bescheides hinsichtlich des besonderen Berufsbetroffenseins seine Rechtsnatur verändert hätte. Die Voraussetzungen des § 30 Abs 2 und § 30 Abs 4 BVG sind unterschiedlich. Während Abs 2 die Beeinträchtigung im Beruf beinhaltet, stellt Abs 4 auf den wirtschaftlichen Schaden ab, der nach der in der Kriegsopferversorgung herrschenden Kausalitätsnorm zu ermitteln ist. Demzufolge ist nicht zwangsläufig bei der Bejahung der in § 30 Abs 2 BVG enthaltenen Tatbestandsvoraussetzungen gleichzeitig auch ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich gegeben oder umgekehrt (BSG SozR § 30 BVG Nr 36). Folglich war die Versorgungsverwaltung befugt, über das besondere berufliche Betroffensein gesondert zu befinden. Die in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid ua enthaltene Feststellung "Die anerkannten Schädigungsfolgen sind mit einer MdE um 30 vH zutreffend bewertet" verdeutlicht, daß die Versorgungsverwaltung an der ursprünglich durch Anerkenntnis im Streitverfahren vor dem OVA zugebilligten Höhe der MdE festhalten wollte. Bedeutsam ist dabei, daß die Versorgungsverwaltung auf dieser Bestimmung der ursprünglich festgesetzten MdE beharrte, obwohl der Kläger eine besondere berufliche Betroffenheit als Landwirt geltend machte und damit deutlich zu verstehen gab, daß die MdE-Festsetzung von Anfang an zu niedrig war. Wenn in dem Widerspruchsbescheid dennoch die genannte Feststellung enthalten ist, so ist dies - wenigstens in diesem Teilbereich - als negativer Zugunstenbescheid zu werten. Nur insoweit hat der Kläger die Klage auch aufrecht erhalten.

Bei der nunmehr zu treffenden Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Zugunstenbescheides wird das LSG zunächst zu prüfen haben, inwieweit gegebenenfalls der ergangene Erstbescheid unrichtig ist (BSGE 29, 278). Das Tatbestandsmerkmal der "Unrichtigkeit des Erstbescheides" unterliegt dabei im Streifall wie jedes Tatbestandsmerkmal der vollen richterlichen Nachprüfung (BSGE 29, 278, 284; BSG SozR 3100 § 35 Nr 8). Da das LSG nicht auf einen Zugunstenbescheid abstellte, fehlen insoweit tatsächliche Feststellungen in seinem Urteil. Bei der Prüfung der Unrichtigkeit wird ua zu beachten sein, daß von der ursprünglichen Fassung vom 20. Dezember 1950 an bis zum 5. Änderungsgesetz nach § 30 Abs 1 BVG aF nur der vor der Schädigung ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte Beruf maßgebend war. Durch das 1. und 2. NOG, letzteres vom 21. Februar 1964 (BGBl I S 85), fand auch der "derzeitige" Beruf entsprechende Berücksichtigung. Erst durch das 3. NOG vom 28. Dezember 1966 (BGBl I S 750) ist neben dem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen und dem nachweisbar angestrebten Beruf auch der Beruf maßgebend, den der Beschädigte nach Eintritt der Schädigung ausgeübt hat oder noch ausübt. Dies veranlaßte das BSG, insoweit eine Rechtsänderung anzunehmen (BSG SozR § 30 BVG Nr 48). Demzufolge ist auf die berufliche Situation des Klägers vor und nach der Schädigung abzustellen. Insoweit ist wichtig, daß der Beklagte gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG ordnungsgemäß und zutreffend Verfahrensrügen erhoben hat. Das LSG hat seine Sachaufklärungspflicht verletzt (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG), indem es von dem bis zur Einberufung im Jahre 1939 ausgeübten Beruf eines Landwirts ausgegangen ist. Tatsächlich hat der Kläger seine landwirtschaftliche Tätigkeit von 1934 an im Gegensatz zu der Zeit davor nicht belegt. Zudem ergeben sich, wie seitens des Beklagten im einzelnen dargetan, aus den Berufsangaben "Kaufmann" - so etwa in dem am 21. Februar 1948 ausgestellten Entlassungsschein, dem Krankenblatt des französischen Hospitals in Rennes von 1948 und im Versorgungsantrag vom 4. Januar 1950 - oder "Eierhändler" in dem vermutlich im Jahre 1939 ausgestellten G-Buch Zweifel über die berufliche Einordnung. Sonach hätten selbst nach der rechtlichen Beurteilung des LSG die bisherigen Ermittlungen nicht ausgereicht, um darauf die Überzeugungsbildung zu stützen. Infolgedessen greift auch die auf § 128 Abs 1 SGG gestützte Verfahrensrüge durch. Wenn insoweit der Kläger einwendet, das Gericht müsse nicht alle von den Beteiligten übereinstimmend vorgetragenen Tatsachen anzweifeln und überprüfen, ist dies zutreffend (vgl Meyer-Ladewig, SGG, Anm 7 zu § 103). Jedoch sind Nachforschungen erforderlich, soweit sie der Sachverhalt nahelegt (BSG SozR § 103 SGG Nr 3). Da der Sachverhalt auch den Inhalt der Verwaltungsakten umfaßt, hätte das LSG die Widersprüche zwischen dem übereinstimmenden Sachvortrag der Beteiligten, der Kläger sei bis 1939 in der Landwirtschaft beruflich tätig gewesen, und dem Akteninhalt erkennen sowie dann auf eine entsprechende Aufklärung hinwirken bzw entsprechende Ermittlungen anstellen müssen. Schließlich hängt die Unrichtigkeit der angefochtenen Bescheide auch davon ab, ob und gegebenenfalls inwieweit eine Verweisung auf einen sozial gleichwertigen Beruf, den der Kläger auch mit den Schädigungsfolgen hätte ausüben können, geboten gewesen wäre. Auch insoweit fehlen entsprechende Feststellungen des LSG.

Nachdem die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG zu einer abschließenden Entscheidung nicht ausreichen, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653939

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