Leitsatz (amtlich)

Die Neufassung des BVG § 30 Abs 1 S 1 Halbs 2 Fassung: 1950-12-20 durch das 5. ÄndG BVG (= BVG § 30 Abs 1 S 2) und durch das 1. NOG KOV (= BVG § 30 Abs 2) stellen, soweit es sich um den vor der Schädigung ausgeübten Beruf handelt, keine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62 Abs 1 dar.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Versorgungsbehörden haben auch während eines Rechtsstreits die Verpflichtung, ihre Verwaltungsmaßnahmen einer nach Erlaß des angefochtenen Verwaltungsakts zweifelsfrei veränderten Sach- und Rechtslage ggf durch Setzen eines neuen Verwaltungsakts anzupassen. Das gilt insbesondere für (streitbefangene) Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung, die entweder einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung betreffen (zB Rentenentziehung) oder den Erlaß eines solchen ablehnen (zB Rentenablehnung, Ablehnung einer Rentenerhöhung). Bei Unterlassung der Anpassung besteht die Möglichkeit einer Verpflichtungs- und Leistungsklage.

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 30 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1950-12-20, S. 2 Fassung: 1956-06-06, Abs. 2 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 3. April 1959 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger ist von Beruf Seemann und war in der Zeit von 1918 bis 1933 in der Binnen- und Küstenschiffahrt als Koch und Matrose tätig. Vom 4. September 1933 an war er bei der Marineausrüstungsstelle P... dienstverpflichtet und als Seemann, zeitweise auch als Bootsmann, beschäftigt. Im April 1945 wurde er bei einem Bombenangriff auf die Halbinsel Hela schwer verwundet, so daß ihm das linke Bein im Oberschenkel abgesetzt werden mußte. Die dafür von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Schleswig-Holstein festgestellte und gezahlte Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. wurde nach dem Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) durch Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA) Schleswig vom 26. Juni 1951 - unter gleichzeitiger Bewilligung eines Ersatzes für Mehrverschleiß an Kleidern und Wäsche in Höhe von DM 5,-- monatlich - nach demselben Grad der MdE weitergewährt (Schädigungsfolge: "Verlust des linken Oberschenkels").

Am 23. Mai 1952 beantragte der Kläger die Erhöhung seiner Versorgungsbezüge unter Berücksichtigung seines früheren Berufes als Seemann. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 23. Juli 1952 mit der Begründung abgelehnt, daß die MdE durch die als Schädigungsfolge nach § 1 BVG anerkannte Gesundheitsstörung "Verlust des linken Oberschenkels" auch unter Berücksichtigung des vor der Schädigung ausgeübten Berufes mit 70 v.H. zu bewerten sei. Der Einspruch des Klägers hiergegen wurde mit Einspruchsbescheid vom 21. April 1953 zurückgewiesen; die Klage wurde vom Sozialgericht (SG) Schleswig mit Urteil vom 29. März 1954 abgewiesen, weil der Kläger in seinem früheren Beruf nicht schwerer betroffen sei als die Mehrzahl der Amputierten, die bei körperlichen Arbeiten behindert seien. Dieses Urteil des SG ist rechtskräftig geworden. Nach dem Inkrafttreten des Fünften Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 6. Juni 1956 (BGBl I 463) und der damit verbundenen Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG beantragte der Kläger am 31. August 1956 unter Hinweis auf diese Neufassung erneut die Erhöhung seiner Rentenbezüge; ohne sein Kriegsleiden würde er seinen Beruf als Bootsmann und Koch noch ausüben und dabei monatlich etwa DM 600,-- verdienen können. Das VersorgA lehnte auch diesen Antrag ab (Bescheid vom 4. September 1956), weil die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG keine Handhabe für eine höhere Festsetzung der MdE biete. Der Einspruch, den der Kläger mit einer Adipositas als Folge des Beinverlustes, mit Bewegungsbehinderung, Fettherz, Atemnot, Neigung zu schwerer Kreislaufschwäche und asthmaähnlichen Zuständen begründete wurde durch Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 1957 zurückgewiesen: Die Fettleibigkeit sowie die Kreislaufinsuffizienz seien nach dem rechtskräftigen Urteil des SG Schleswig vom 29. März 1954 keine Schädigungsfolgen; ebenso sei durch dieses Urteil bereits rechtskräftig darüber entschieden, daß auch unter Berücksichtigung des früheren Berufes eine über das allgemeine Maß hinausgehende wirtschaftliche Schädigung des Klägers durch die anerkannte Gesundheitsstörung nicht eingetreten sei.

Das SG Schleswig hat mit Urteil vom 21. Oktober 1957 der Klage, mit der der Kläger u.a. die Gewährung einer Rente nach einer MdE um 80 v.H. beantragt, stattgegeben: Zunächst einmal seien - trotz des rechtskräftigen Urteils vom 29. März 1954 - die Voraussetzungen für eine Neufeststellung der Rente nach § 62 Abs. 1 BVG gegeben, weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne dieser Vorschrift durch die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG auf Grund des Fünften Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 6. Juni 1956 eingetreten sei. Denn diese Neufassung sei eine echte Änderung des Gesetzes, so daß die Rechtskraft des Urteils vom 29. März 1954 einer Neufeststellung nicht entgegenstehen könne. Der Anspruch auf Gewährung einer Rente nach einer MdE um 80 v.H. sei aber gerechtfertigt, weil der Kläger durch seine jahrelange, allein auf seine schwere Verwundung zurückzuführende Arbeitslosigkeit einen sozialen Abstieg erfahren habe, als Oberschenkelamputierter in keine Arbeitsstelle mehr vermittelt werden und seine seemännischen Kenntnisse auch nicht zu lande verwerten könne. Das SG hat die Berufung nach § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen.

Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Schleswig mit Urteil vom 3. April 1959 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat festgestellt, daß bei dem Kläger eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Befund der anerkannten Schädigungsfolge nicht vorliegt; der Gesundheitszustand sei seit Anerkennung der Schädigungsfolge unverändert. Zwar könne eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG auch durch Änderung der maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften eintreten, jedoch könne entgegen der Auffassung des SG und des Klägers in der durch das Fünfte Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG erfolgten Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG gegenüber dem Wortlaut der vorher geltenden Fassung dieser Vorschrift eine solche Gesetzesänderung nicht erblickt werden, jedenfalls nicht hinsichtlich der im vorliegenden Falle allein in Betracht kommenden Berücksichtigung des Berufs. Wenn nach dem ursprünglichen Wortlaut des § 30 Abs. 1 BVG (aF) bei der Einschätzung der MdE der Beruf habe berücksichtigt werden sollen, so könne dies nach dem Sinn der Vorschrift nur bedeutet haben, daß eine dem Einzelfall angepaßte höhere Einschätzung der MdE dann erfolgen sollte, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem Beruf stärker betroffen war, als dies bei einer in den Bereich des allgemeinen Erwerbslebens fallenden Tätigkeit der Fall sein würde. § 30 Abs. 1 BVG nF schreibe zwar ausdrücklich eine höhere Bewertung der MdE vor, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf besonders betroffen werde. Dieser Wortlaut des Gesetzes stelle aber keine Erweiterung der Anspruchs- und Bemessungsgrundlage dar, sondern hebe nur die dem Wortlaut und Sinn des § 30 Abs. 1 BVG aF entsprechenden, in den bisherigen Verwaltungsvorschriften zu dieser Vorschrift und überwiegend auch in der Rechtsprechung herausgestellten Voraussetzungen der Höherbewertung der MdE für den Fall stärker hervor, daß der Beschädigte durch die Folgen der Schädigung in der Berufsausübung besonders betroffen ist. Mangels einer durch die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG eingetretenen, als wesentliche Änderung im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG anzusehenden Gesetzesänderung und im Hinblick darauf, daß die tatsächlichen Verhältnisse unverändert seien, stehe einer erneuten Entscheidung (über denselben Sachverhalt) die Rechtskraft des Urteils des SG Schleswig vom 29. März 1954 entgegen, das bereits über die Berücksichtigung des früheren Berufes des Klägers (bei gleichen medizinischen Befunden) entschieden habe. Denn rechtskräftige Urteile seien nach § 141 SGG, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden sei, für die beteiligten (und ihre Rechtsnachfolger) bindend. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses am 5. Mai 1959 zugestellte Urteil richtet sich die mit Schriftsatz vom 20. Mai 1959 eingelegte, beim Bundessozialgericht (BSG) am 21. Mai 1959 eingegangene Revision des Klägers.

Mit seiner am 27. Mai 1959 eingegangenen Revisionsbegründung vom 25. Mai 1959 wendet er sich gegen die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, daß die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG durch das Fünfte Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG keine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG darstelle. Nach der alten Fassung des § 30 Abs. 1 BVG sei bei Beurteilung der MdE der Beruf lediglich zu berücksichtigen gewesen, nach der Neufassung sei die MdE "höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf besonders betroffen wird". Das gesetzliche Gebot, in bezug auf den Beruf die MdE höher zu bewerten, sei eine echte Änderung des Gesetzes gegenüber der früheren Vorschrift, bei der Beurteilung der MdE den Beruf zu berücksichtigen. Damit seien auch die Voraussetzungen zur Anwendung des § 62 Abs. 1 BVG wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse gegeben, so daß einer neuen Entscheidung die Rechtskraft des Urteils des SG Schleswig vom 29. März 1954 nicht entgegenstehe.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG Schleswig vom 3. April 1959 nach dem Klageantrag zu erkennen,

hilfsweise,

die Sache unter Aufhebung der Entscheidung des LSG Schleswig zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend, denn durch die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG im Fünften Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG sei nur eine Änderung des Wortlauts des § 30 Abs. 1 BVG aF erfolgt; der Gesetzgeber habe lediglich stärker hervorheben wollen, daß der bisher ausgeübte, begonnene oder angestrebte Beruf bei Beurteilung der MdE in Betracht zu ziehen sei. Die "Berücksichtigung des Berufs" (§ 30 Abs. 1 BVG aF) könne ohnehin nur in einer "höheren Bewertung der MdE" (§ 30 Abs. 1 BVG nF) ihren Ausdruck finden. Durch die Änderung des Wortlauts des Gesetzes sei deshalb eine wesentliche Änderung im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG bei dem Kläger nicht eingetreten.

Auf die Schriftsätze des Klägers vom 20. und 25. Mai 1959 und den des Beklagten vom 24. Juli 1959 wird verwiesen.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Klägers ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und deshalb zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Das LSG hat zu Recht auf die - durch Zulassung statthafte - Berufung (§ 150 Nr. 1 SGG) des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Wie bereits dargelegt, hat die Versorgungsbehörde den Antrag des Klägers, die Rente im Hinblick auf die Vorschrift des § 30 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz BVG aF zu erhöhen, abgelehnt, da seine MdE durch die als Schädigungsfolge nach § 1 BVG anerkannte Gesundheitsstörung "Verlust des linken Oberschenkels" auch unter Berücksichtigung des vor der Schädigung ausgeübten Berufes mit 70 v.H. zu bewerten sei; dieser Bescheid ist durch das rechtskräftige Urteil des SG Schleswig vom 29. März 1954 bestätigt worden. Eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge des Klägers ist deshalb nur möglich, wenn in den Verhältnissen, die für diese Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist (§ 62 Abs. 1 BVG). Das LSG hat eine solche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG zutreffend verneint.

Dabei hat die Revision Einwendungen gegen die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, daß der Gesundheitszustand des Klägers seit Anerkennung der Schädigungsfolge derselbe geblieben ist und im Befund der Schädigungsfolge deshalb eine wesentliche Änderung im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG nicht vorliegt, nicht erhoben; diese tatsächlichen Feststellungen binden deshalb das Revisionsgericht (§ 163 SGG). Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt somit allein von der Frage ab, ob des sich bei der Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG durch das Fünfte Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG um eine Änderung der Rechtslage gegenüber der bis dahin geltenden - nach der Vorschrift des § 30 Abs. 1 BVG aF - handelt oder nicht. Denn es trifft, wie das LSG ausgeführt hat, zu, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG auch dadurch eintreten kann, daß sich, ohne daß eine Änderung in den gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen des Berechtigten eingetreten ist, die maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften geändert haben; die Änderung der rechtlichen Grundlagen des Anspruchs durch Gesetz oder Rechtsverordnung lassen ohne weiteres die Anwendung des § 62 Abs. 1 BVG zu (BSG 10, 202, 203; vgl. auch BSG im SozR SGG § 145 Bl. Da 1 Nr. 1, RVO § 608 Bl. Aa 1 Nr. 2).

Das Berufungsgericht hat jedoch ohne Rechtsirrtum entschieden, daß in der Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG - "die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf besonders betroffen wird" - gegenüber der Fassung des § 30 Abs. 1 BVG aF - "der vor der Schädigung ausgeübte Beruf oder eine bereits begonnene oder nachweisbar angestrebte Berufsausbildung ist zu berücksichtigen" - keine Gesetzesänderung erblickt werden kann, die hinsichtlich des Berufes die rechtlichen Verhältnisse mit der Möglichkeit der Anwendung des § 62 Abs. 1 BVG wesentlich geändert hätte.

Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz BVG aF richtet sich die Beurteilung der MdE grundsätzlich nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben; dieser allgemeine Bewerbungsmaßstab für die Höhe der MdE ist ergänzt durch die zusätzliche Regelung des § 30 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz, nach dem der vor der Schädigung ausgeübte Beruf oder eine bereits begonnene oder nachweisbar angestrebte Berufsausbildung zu berücksichtigen ist. Mit dieser den allgemeinen Bewertungsmaßstab ergänzenden Regelung ist, anders als im Reichsversorgungsgesetz (RVG) und den bis zum Inkrafttreten des BVG geltenden Ländergesetzen, durch das BVG für das Recht der Kriegsopfer eine neue Gesetzeslage geschaffen worden, die die Versorgungsverwaltung für die Zeit vom 1. Oktober 1950 an verpflichtete, die Festsetzung der MdE zunächst nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben vorzunehmen und sodann zusätzlich das besondere Erwerbsleben des Beschädigten, seinen Beruf, von Amts wegen zu prüfen und zu berücksichtigen, d.h. gegebenenfalls die nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben festgesetzte MdE auf den Einzelfall angepaßt höher zu bewerten. Diese Auslegung ergibt sich zwanglos aus dem Wortlaut des Gesetzes und wird durch die Verwaltungsvorschrift (VerwV) Nr. 2 zu §§ 29, 30 BVG aF bestätigt, nach der "die MdE dann höher zu bewerten ist, wenn der Beschädigte durch die Art der Beschädigung in der Ausübung seines vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder angestrebten Berufes besonders betroffen wird". Dabei kann im vorliegenden Falle unerörtert bleiben, nach welchen Gesichtspunkten - wirtschaftlichen, sozialen oder ähnlichen - die Berücksichtigung des Berufes zu erfolgen hat.

Die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG durch das Fünfte Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG hat im Satz 1 den allgemeinen Bewertungsmaßstab beibehalten; Die Beurteilung der MdE richtet sich grundsätzlich weiter nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben, unter Berücksichtigung nun auch seelischer Begleiterscheinungen und Schmerzen in ihrer Auswirkung (vgl. dazu VerwV Nr. 5 zu §§ 29, 30 BVG aF). § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG nF enthält ebenso wie § 30 Abs. 1 BVG aF in bezug auf den Beruf des Beschädigten einen Zusatzmaßstab: "Die MdE ist höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweisbar angestrebten Beruf besonders betroffen wird". Diese Neufassung entspricht nahezu wörtlich der früheren VerwV Nr. 2 zu den §§ 29, 30 BVG aF. Mit ihr ist die erhebliche Bedeutung, die der Gesetzgeber der Berücksichtigung des Berufes bei der Festsetzung der MdE beigemessen hat und weiter beigemessen haben will, eindringlich bestätigt worden. Darin aber auch eine Änderung des Gesetzes, der Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Beschädigtenrente, und damit eine wesentliche Änderung im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG erblicken zu wollen, geht nicht an. Denn mit der Neufassung hat sich lediglich der Wortlaut, nicht aber auch der Inhalt der in Frage stehenden gesetzlichen Vorschrift geändert. Daran kann auch ein etwaiger Hinweis auf den allgemeinen Willen des Gesetzgebers, mit dem Fünften Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG die Lage der Opfer des Krieges weiter zu verbessern, nichts ändern. Die Frage, aus welchen Gründen der Gesetzgeber, ohne damit eine Änderung der Rechtslage zu wollen, die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG eingeführt hat, beantwortet sich schon aus dem schriftlichen Bericht des für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen zuständigen (29.) Ausschusses des Deutschen Bundestags (BT-Drucks. Nr. 2348) zum Fünften Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG: "Der Ausschuß ist der Auffassung, daß diese Dinge bisher von der Versorgungsverwaltung nicht genügend beachtet wurden. Insbesondere muß stärker als bisher geprüft und berücksichtigt werden, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder angestrebten Beruf besonders betroffen wird. Die bisher in einem solchen Fall leider nur vereinzelt zusätzlich zuerkannten Erwerbsminderungsgrade, die sich auch auf die Höhe der Rente auswirken, haben sich als nicht ausreichend erwiesen." Das besagt nichts anderes, als daß der 29. Ausschuß des Deutschen Bundestags lediglich eine für Verwaltung und Gerichte klare und den Bedürfnissen der Beschädigten entsprechende authentische Interpretation der Berufsberücksichtigung (§ 30 Abs. 1 BVG aF) für wünschenswert hielt, nicht aber den Inhalt der Vorschrift ändern wollte. Es besagt, daß trotz der, wenn auch knappen und unmißverständlichen Form des § 30 Abs. 1 BVG aF der zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzes in der Vergangenheit zum Nachteil der Beschädigten vielfach nicht oder nicht genügend beachtet worden ist. Im übrigen ist aus dem neuen Wortlaut nur zu entnehmen, daß deutlicher - auch für die Gerichte bindend - und Mißverständnisse ausschließend zum Ausdruck gebracht werden sollte, was der Gesetzgeber unter "Berücksichtigung des Berufes" im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aF verstanden wissen will, nämlich keine schematische Erhöhung der nach dem allgemeinen Bewertungsmaßstab festgestellten Vomhundertsätze, wenn der Beruf berücksichtigt werden muß, sondern eine höchst individuelle Behandlung des einzelnen Beschädigten hinsichtlich der Feststellung des Grades der MdE. Das aber galt auch schon bis zur Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG, so daß eine vom Inkrafttreten des BVG an richtige Auslegung und Anwendung die Neufassung überflüssig gemacht hätte. Letztlich findet diese Auffassung, worauf auch der beklagte zutreffend hinweist, eine gewisse Stütze durch Art. IV Abs. 2 des Fünften Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG: Hier werden die Vorschriften, die nicht nur redaktionell oder durch Legalinterpretation neu gefaßt worden sind, sondern einen neuen Inhalt und damit eine neue Rechtsgrundlage erhalten haben, hinsichtlich der Antragstellung, des Versorgungsbeginns oder des Inkrafttretens ausdrücklich aufgeführt; dazu hätte auch der § 30 Abs. 1 BVG gehören müssen, wenn seine Neufassung für den Gesetzgeber eine Änderung der Rechtsgrundlage gewesen wäre.

Danach hat das LSG die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG durch das Fünfte Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG zutreffend angewandt und die Änderung des Inhalts des § 30 Abs. 1 BVG aF durch sie mit Recht verneint (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 26. November 1959 - 8 RV 1305/57 - sowie BSG 13, 20, 22; so auch Wilke in "Die Kriegsopferversorgung" 1956 S. 1 und 83; 1957 S. 66; Vorberg in "Der Versorgungsbeamte" 1956 S. 87 und 97; Geede in "Die Fackel", Juli 1956 S. 6; BMA im GVBl 1956 S. 162, 1957 S. 34). Das durch Legalinterpretation ausgelegte Recht hat lediglich den seit dem Inkrafttreten des BVG bestehenden Rechtssatz des § 30 Abs. 1 BVG aF mit dem Inhalt erfüllt, den diese Vorschrift nach dem Willen des Gesetzgebers von Anfang an haben sollte (vgl. auch RVG Bd 5, 150). Das hat zur Folge, daß - mangels einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse - § 62 Abs. 1 BVG nicht angewendet werden kann, wenn, wie vorliegend, bereits ein Bescheid der Verwaltungsbehörde nach dem BVG ergangen ist, der die Entscheidung über die "Berücksichtung des Berufes" zum Inhalt hat. Das muß umsomehr gelten, wenn dieser Bescheid, wie im Falle des Klägers, durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bestätigt worden ist.

Nach dem Erlaß des angefochtenen Urteils (3. April 1959) ist das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (Erstes Neuordnungsgesetz) vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) in Kraft getreten. Mit ihm hat § 30 BVG eine erneute Änderung und Ergänzung erfahren: Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz in der Fassung der 5. Novelle zum BVG ist unter wörtlicher Übernahme - zum vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweisbar angestrebten Beruf ist lediglich noch der derzeitige Beruf hinzugetreten - zum Absatz 2 des § 30 BVG geworden; dabei sind die bisherigen Verwaltungsvorschriften Nr. 2 zu den §§ 29, 30 BVG, die, der Auslegung dienend, den Begriff des besonderen beruflichen Betroffenseins erläuterten, unter Abs. 2 Satz 2 a), b) und c) in das Gesetz übernommen worden. Der erkennende Senat hat geprüft, ob etwa diese Änderung und Ergänzung des § 30 BVG eine wesentliche Änderung im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes darstellt.

Zwar liegt dem angefochtenen Bescheid vom 4. September 1956 und den Urteilen des SG und des LSG nur die Beurteilung nach § 30 Abs. 1 BVG in der Fassung der 5. Novelle zum BVG zugrunde; das bedeutet jedoch nicht, daß das Revisionsgericht einer Prüfungspflicht des Streitfalles nach der Vorschrift des § 30 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes enthoben wäre. Die Sozialgerichtsbarkeit stellt eine richterliche Kontrolle dar und hat zunächst die Aufgabe zu prüfen, ob die Verwaltungsbehörde beim Erlaß eines Verwaltungsakts rechtmäßig gehandelt hat; daraus ergibt sich, daß maßgebend für die richterliche Prüfung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts zu sein hat (BSG 7, 8, 13). Die Versorgungsbehörden nehmen aber während eines anhängigen Rechtsstreits nicht nur eine reine Parteistellung ein, sondern sie hören auch während des Rechtsstreits - bis zum letzten Rechtszug - nicht auf, sozialfürsorgerisch tätig zu sein; sie haben dabei die Verpflichtung, auch während eines Rechtsstreits ihre Verwaltungsmaßnahmen einer nach Erlaß des angefochtenen Verwaltungsakts zweifelsfrei veränderten Sach- und Rechtslage gegebenenfalls durch Setzen eines neuen Verwaltungsakts anzupassen. Unterlassen sie dies, so verstoßen sie gegen eine Rechtsverpflichtung und unterlassen rechtswidrig einen Verwaltungsakt; damit aber ist die Möglichkeit zur Erhebung einer Verpflichtungs- und Leistungsklage gegeben, die entweder, wie vorliegend, aus dem Sachantrag gefolgert oder durch Ausübung des richterlichen Fragerechts erzielt werden kann (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 54 S. 154/155). Das gilt insbesondere für Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung, die entweder einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung betreffen (zB Rentenentziehung) oder den Erlaß eines solchen ablehnen (zB Rentenablehnung, Ablehnung einer Rentenerhöhung). In beiden Fällen sind die Verwaltungsakte (ohne Dauerwirkung) für die Zeit eines Streitverfahrens als nicht abgeschlossen anzusehen, weil die Bindungswirkung des § 77 SGG fehlt und sowohl die Entziehung der Leistung als auch der Leistungsantrag noch der richterlichen Entscheidung unterworfen sind (BSG 12, 127, 130).

Der Senat mußte jedoch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG auch durch die Neufassung des § 30 BVG im Ersten Neuordnungsgesetz verneinen, soweit es sich um den vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf handelt. Denn wenn auch Zweifel darüber bestehen konnten, ob die Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG durch die 5. Novelle zum BVG gegenüber dem § 30 Abs. 1 BVG aF eine Änderung der Rechtsgrundlage oder nur eine authentische Interpretation sein sollte, so muß ein solcher Zweifel im Falle der Änderung durch das Erste Neuordnungsgesetz als ausgeschlossen angesehen werden. Hier hat sich an dem Willen des Gesetzgebers, daß die MdE höher bewertet werden soll, wenn der Beschädigte in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweisbar angestrebten Beruf besonders betroffen ist, nichts geändert - es kann im vorliegenden Falle dahingestellt bleiben, ob dasselbe gilt, wenn es sich um den "derzeitigen" Beruf (§ 30 Abs. 2 Satz 1 BVG nF) handelt -, auch nicht dadurch, daß die den Begriff des besonderen beruflichen Betroffenseins erläuternden bisherigen VerwV in das Gesetz unmittelbar aufgenommen worden sind. Denn wie Wilke (Bundesversorgungsgesetz, Handkomm. 1960, § 30 Anm. III 1) zutreffend ausführt, handelt es sich hierbei um materiell-rechtliche Vorschriften, die, statt als auslegende und erläuternde Verwaltungsvorschriften erlassen zu werden, von vornherein in das Gesetz gehört hätten, um neben den Verwaltungsbehörden auch die Gerichte an die bereits vom Gesetzgeber der 5. Novelle zum BVG gewollte. Auslegung des Begriffs des besonderen beruflichen Betroffenseins zu binden.

Danach konnte die Revision des Klägers keinen Erfolg haben. Sie war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Vorschrift des § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 208

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