Leitsatz (amtlich)

Anspruch auf die Pflegezulage nach BVG § 35 Abs 1 S 4 hat auch derjenige erwerbsunfähige Hirnbeschädigte, dessen Erwerbsfähigkeit lediglich im Hinblick auf ein besonderes berufliches Betroffensein iS des BVG § 30 Abs 2 um mehr als 90% beeinträchtigt ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Das BVG hat dann, wenn es mit dem Wort "erwerbsunfähig" einen anderen Begriff verbinden will, als wie er in BVG § 31 Abs 3 bestimmt ist, dies stets besonders hervorgehoben.

So ist in BVG § 41 Abs 1 Buchst a und Abs 2 aF bei der Witwenausgleichsrente und in BVG § 50 Abs 3 idF des 1. NOG KOV und § 50 idF des 2. NOG KOV bei der Elternrente der Begriff "erwerbsunfähig" abweichend von BVG § 31 Abs 3 geregelt.

Auch dann wenn das BVG die Minderung der Erwerbsfähigkeit nur in einer Wertung, bei der die Berufsbetroffenheit nicht berücksichtigt ist, zum Gegenstand einer Regelung gemacht hat, ist dies besonders hervorgehoben (vgl BVG § 30 Abs 4 S 5 idF des 1. NOG KOV und DV § 31 Abs 5 BVG § 1 vom 1964-04-17).

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 S. 4 Fassung: 1960-06-27, § 30 Abs. 2 Fassung: 1960-06-27, § 31 Abs. 3 Fassung: 1960-06-27, § 41 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1956-06-06, Abs. 2 Fassung: 1956-06-06, § 50 Abs. 3 Fassung: 1960-06-27, § 50 Fassung: 1964-02-21, § 30 Abs. 4 S. 5 Fassung: 1960-06-27; BVG§31Abs5DV § 1 Fassung: 1964-04-17

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts in Berlin vom 22. November 1963 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der in Jahre 1907 geborene Kläger, von Beruf Diplom-Volkswirt, war im zweiten Weltkrieg Soldat, geriet in sowjetrussische Gefangenschaft und kam, nachdem er zunächst in die sowjetisch besetzte Zone entlassen worden war, im Jahre 1950 nach West-Berlin. Er erhält seit dem 1. Oktober 1957 Rente aus der Arbeiterrentenversicherung.

Auf einen Versorgungsantrag des Klägers erkannte das Versorgungsamt (VersorgA) mit Bescheid vom 23. März 1956 nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) als Schädigungsfolgen "1. Organische Hirnschädigung mit zentralen Regulationsstörungen, vasomotorischen Anfällen, Wesensveränderung und Hirnleistungsschwäche, 2. Sehnervenschwund mit geringer Herabsetzung des Sehvermögens und geringer konzentrischer Einschränkung des Gesichtsfeldes rechts, 3. funktionell bedeutungslose Narben am linken äußeren Knöchel, am linken Oberarm und an der linken Hand sowie winziger Stecksplitter unter der Haut im Bereich des zweiten Fingers der linken Hand" an und gewährte Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. Im Dezember 1958 legte der Kläger eine ärztliche Bescheinigung von Dr. I. vor. Das VersorgA sah darin einen Antrag auf Neufeststellung wegen Verschlimmerung und auf Gewährung einer Pflegezulage. Nach Untersuchung und Begutachtung durch Frau Dr. T. erließ das VersorgA den Neufeststellungsbescheid vom 23. Oktober 1959, in dem es dem Kläger für die anerkannten Schädigungsfolgen Rente nach einer HdE um 80 v.H. ab 1. Dezember 1958 gewährte, jedoch die Gewährung einer Pflegezulage ablehnte. Auf den Widerspruch des Klägers, in dem er auf seine durch die Schädigungsfolgen bedingte besondere berufliche Betroffenheit hinwies, änderte das LandesversorgA den angefochtenen Bescheid mit Widerspruchsbescheid vom 15. September 1960 dahin ab, daß dem Kläger eine Rente nach einer MdE um 90 v.H. für die Seit ab 1. Dezember 1958 gewährt wurde, lehnte jedoch eine höhere Rente und die Gewährung der Pflegezulage ab.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) weitere fachärztliche Gutachten eingeholt. Mit Urteil vom 4. Oktober 1962 hat es unter Abänderung des Bescheides vom 23. Oktober 1959 und des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1960 den Beklagten verurteilt, dem Kläger wegen der anerkannten Schädigungsfolgen ab 1. Dezember 1958 Rente eines Erwerbsunfähigen sowie eine Pflegezulage der Stufe I (als erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten) zu gewähren. Der Beklagte hat wegen der Zuerkennung der Pflegezulage Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat diese Berufung mit Urteil vom 22. November 1963 zurückgewiesen. Es hat in der Begründung ausgeführt, die Berufung sei, da es sich um die erstmalige Gewährung der Pflegezulage handele, nicht nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Dem Kläger stehe die obligatorische Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG aF bzw. § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG nF zu, wenn seine Erwerbsunfähigkeit allein auf der Hirnverletzung beruhe. Für die Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit eines Hirnbeschädigten komme es nicht allein auf die MdE an, die durch die körperliche Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben gemäß § 30 Abs. 1 BVG verursacht werde. Vielmehr sei ebenso zu berücksichtigen, ob und inwieweit der Beschädigte aufgrund seiner Hirnverletzung in seinem Beruf besonders betroffen sei. Ergebe sich hieraus, wie im vorliegenden Fall, eine MdE von mehr als 90 v.H., so gelte der Beschädigte nach § 31 Abs. 3 BVG als erwerbsunfähig. Die in dieser Vorschrift getroffene Regelung sei auch für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit in § 35 BVG maßgebend. Die Begriffe "Erwerbsunfähigkeit" in § 31 Abs. 3 BVG und "erwerbsunfähige Hirnbeschädigte" in § 35 BVG seien so eng miteinander verknüpft, daß eine Aufspaltung in medizinische und wirtschaftliche MdE nicht erfolgen könne. Auch die Sonderregelung des § 1 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs. 5 BVG vom 17. April 1961 könne die entgegengesetzte Auffassung des Beklagten nicht stützen, weil es sich hier um eine besondere Regelung für die Schwerstbeschädigtenzulage handele.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses ihm am 10. Januar 1964 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 23. Januar 1964, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 29. Januar 1964, Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 10. April 1964 mit einem am 22. Februar 1964 beim BSG eingegangenen Schriftsatz vom 17. Februar 1964 begründet.

Er beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des SG und des LSG die Klage abzuweisen, insoweit als Pflegezulage beansprucht wird.

Er rügt eine Verletzung des § 35 BVG durch das LSG und trägt dazu, vor, der Kläger sei allein wegen seiner als Versorgungsleiden anerkannten Hirnbeschädigung in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Die Höhe der MdE sei durch das insoweit rechtskräftige Urteil des SG auf über 90 v.H. festgesetzt, und zwar mit 80 v.H. wegen der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben nach § 30 Abs. 1 BVG und weiteren 20 v.H. wegen der besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers nach § 30 Abs. 2 BVG. Der Hinweis des LSG auf die Entscheidung des BSG in Band 8 S. 69 ff sei rechtlich fehlerhaft, weil das BSG in dieser Entscheidung von einem nicht vergleichbaren Sachverhalt ausgegangen sei. Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit in § 35 BVG habe in dieser Entscheidung der gerichtlichen Klärung nur in der Hinsicht bedurft, ob ein um 90 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit geminderter Hirnverletzter als erwerbsunfähiger Hirnbeschädigter im Sinne des § 35 BVG angesehen werden könne. Das BSG habe in dieser Entscheidung daher nur ausgesprochen, daß derjenige erwerbsunfähig sei, der um mehr als 90 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei. § 31 Abs. 3 BVG könne nur insoweit auf § 35 BVG Anwendung finden, als darin bestimmt ist, daß derjenige, der in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v.H. gemindert sei, als erwerbsunfähig gelte. Die Ermittlung des Grades der MdE müsse dagegen unter Berücksichtigung des Zweckes der Pflegezulage erfolgen. Zwar werde die Höhe der MdE allgemein nach § 30 Abs. 1 und 2 BVG bestimmt, jedoch seien keine Gründe ersichtlich, an dieser allgemeinen Ermittlungsweise auch dann festzuhalten, wenn dies im Einzelfall dem Sinn und Zweck eines Gesetzes widerspreche. Das zeige sich z.B. bei der Gewährung der Schwerstbeschädigtenzulage gemäß § 31 Abs. 5 BVG. Hier werde aufgrund des § 1 Abs. 2 der Durchführungsverordnung (DVO) zu § 31 Abs. 3 BVG die Erwerbsunfähigkeit nur nach § 30 Abs. 1 BVG, nicht auch nach Abs. 2 dieser Vorschrift bemessen. Sinn und Zweck der Pflegezulage nach § 35 BVG sei es, demjenigen Beschädigten eine Pflegezulage zu gewähren, der hilflos sei. Hilflos sei aber nur derjenige, der infolge der Schädigung die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Vorrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens nicht selbst vorzunehmen vermöge. Demnach komme es bei der Beurteilung der Hilflosigkeit allein auf die gesundheitliche Betroffenheit durch die anerkannten Schädigungsfolgen an, während wirtschaftliche Gesichtspunkte auszuscheiden hätten. Zwar habe der erwerbsunfähige Hirnbeschädigte nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG Anspruch auf die Pflegezulage nach Stufe I, ohne daß Hilflosigkeit vorzuliegen brauche. Diese Regelung widerspreche aber nicht den Grundsatz, nur Pflegezulage bei Hilflosigkeit zu gewähren. Der Hirnbeschädigte gelte vielmehr aufgrund der Eigenart seiner Leiden als hilflos, wenn er allein infolge dieser Schädigung erwerbsunfähig geworden sei. Die Hilflosigkeit werde demnach unterstellt, sic brauche nicht besonders nachgewiesen zu werden. Ähnliches gelte für die Gewährung der Pflegezulage an Kriegsblinde (§ 35 Abs. 1 Satz 3 BVG). Der Begriff "erwerbsunfähig" in § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG müsse im Zusammenhang mit dem Begriff Hilflosigkeit verstanden werden. Da wirtschaftliche Erwägungen keine Rolle spielten, sei somit der Begriff "erwerbsunfähig" in dieser Vorschrift allein nach § 30 Abs. 1 BVG zu beurteilen. Im übrigen wird auf die Revisionsbegründung verwiesen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, daß eine Verletzung des § 35 BVG durch das LSG nicht vorliegt.

Die durch Zulassung nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 164, 166 SGG) und auch rechtzeitig begründet worden. Die somit zulässige Revision konnte jedoch keinen Erfolg haben.

Das LSG ist zutreffend zunächst davon ausgegangen, daß die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 4. Oktober 1962 wegen der Gewährung der Pflegezulage zulässig war. Der Streit ging nicht etwa um eine Neufeststellung der Pflegezulage wegen Änderung der Verhältnisse (§ 148 Nr. 3 SGG), sondern um die erstmalige Bewilligung der Pflegezulage. Vor dem angefochtenen Bescheid vom 23. Oktober 1959 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1960 war nämlich durch die Versorgungsbehörde über die Gewährung der Pflegezulage noch nicht entschieden worden (BSG 3, 271, 274; 8, 97; BSG in SozR SGG § 148 Bl. Da 5 Nr. 13 und Bl. Da 6 Nr. 17).

Das LSG hat auch zu Recht angenommen, daß dem Kläger als erwerbsunfähigem Hirnbeschädigten kraft Gesetzes die Pflegezulage zusteht. Nach Satz 3 des § 35 Abs. 1 BVG aF, der als Satz 4 des § 35 Abs. 1 BVG nF, d.h. in der Fassung des Ersten und Zweiten Neuordnungsgesetzes, inhaltlich keine Änderung erfahren hat, erhalten erwerbsunfähige Hirnbeschädigte eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I. Dabei ist Voraussetzung, daß die Erwerbsunfähigkeit allein auf der Hirnbeschädigung beruht (BSG 1, 56). Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger allein wegen der Hirnbeschädigung erwerbsunfähig. Der Beklagte meint jedoch, daß nur demjenigen erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten die Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 3 bzw. Satz 4 BVG zustände, der allein wegen seiner Beeinträchtigung in allgemeinen Erwerbsleben sowie der seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen gemäß § 30 Abs. 1 BVG erwerbsunfähig ist, nicht aber demjenigen, der nur wegen besonderer Berufsbetroffenheit gemäß § 30 Abs. 2 BVG als erwerbsunfähig anzusehen ist. Diese Auffassung geht fehl. Als "erwerbsunfähig" bezeichnet das BVG im § 31 Abs. 3 denjenigen Beschädigten, der in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v.H. beeinträchtigt ist. Diese Begriffsbestimmung hat das Gesetz zwar im Rahmen der Vorschrift über die Höhe der Grundrente getroffen. Da die Pflegezulage aber ebenso wie die Beschädigtenrente zu den Versorgungsleistungen (§ 9 Nr. 3 BVG) zählt, muß geschlossen werden, daß der Begriff "erwerbsunfähig" in § 35 BVG so gebraucht ist, wie er vorher in § 31 Abs. 5 BVG definiert wurde (so im Ergebnis auch BSG 8, 69, 71). Diese Folgerung wird durch die Tatsache bestätigt, daß das BVG dann, wenn es mit dem Wort "erwerbsunfähig" einen anderen Begriff verbinden will, als wie er in § 31 Abs. 3 BVG bestimmt ist, dies stets besonders hervorgehoben hat. So ist in § 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 BVG aF bei der Witwenausgleichsrente und in § 50 Abs. 3 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes und § 50 in der Fassung des Zweiten Neuordnungsgesetzes bei der Elternrente der Begriff "erwerbsunfähig" abweichend von § 31 Abs. 5 BVG geregelt. Auch dann, wenn das BVG die MdE nur in einer Wertung, bei der die Berufsbetroffenheit nicht berücksichtigt ist, zum Gegenstand einer Regelung gemacht hat, ist dies besonders hervorgehoben (vgl. § 30 Abs. 4 Satz 5 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes und § 1 der Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs. 5 BVG vom 17. April 1964, - wobei in diesem Zusammenhang dahinstehen kann, ob der § 1 der Verordnung überhaupt rechtsgültig ist, soweit er den in § 31 Abs. 5 BVG gebrauchten Begriff des "erwerbsunfähigen" Beschäftigten einschränkt). Derartige Einschränkungen zum Begriff "erwerbsunfähig" hat das BVG bei § 35 nicht vorgesehen.

Ist demnach in § 35 BVG der in § 31 Abs. 3 BVG definierte Begriff "erwerbsunfähig" verwendet worden und ist nach diesem Begriff erwerbsunfähig derjenige Beschäftigte, der in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v.H. beeinträchtigt ist, so kann als Minderung der Erwerbsfähigkeit in dieser Höhe nur diejenige gemeint sein, die nach den Vorschriften über die Minderung der Erwerbsfähigkeit, nämlich gemäß § 30 Abs. 1 und Abs. 2 BVG festzusetzen ist. Diese Vorschriften kennen aber nicht zwei oder mehrere unterschiedliche Minderungen der Erwerbsfähigkeit, sondern nur eine einheitliche. Bei ihrer Festsetzung ist von der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben auszugehen, gegebenenfalls sind aber auch seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen (Abs. 1) sowie der angestrebte, begonnene oder derzeitige Beruf (Abs. 2) zu berücksichtigen. Es handelt sich bei diesen Umständen demnach nur um Faktoren, die bei der Festsetzung der MdE mitwirken können, ohne daß jedoch diese Faktoren einzeln in ihrer Höhe festzusetzen wären. Dies ist weder vom Gesetz verlangt noch in der Praxis der Verwaltungsbehörden in Bescheiden über die Festsetzung der MdE geschehen. Wenn bei der Berufsbetroffenheit in Abs. 2 von einer "höheren Bewertung" gesprochen ist, so kann daraus nicht gefolgert werden, daß die höhere Bewertung bei der Festsetzung der MdE ihren besonderen Ausdruck finden müsse. Auch wegen der nach Abs. 1 zu berücksichtigenden seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen ist die MdE "höher zu bewerten", als wenn sie nur für die körperliche Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben festzusetzen wäre. Aus dem Gebrauch der Worte "zu berücksichtigen" in Abs. 1 und "höher zu bewerten" in Abs. 2 kann daher nicht gefolgert werden, es handele sich um verschiedene und gesondert festzusetzende Minderungen der Erwerbsfähigkeit. Schließlich ist auch nicht etwa durch das Erste Neuordnungsgesetz, das die Fassung des bisherigen § 30 BVG geändert und erstmals das berufliche Betroffensein in einem besonderen Abs. 2 geregelt hat, die Aufteilung der MdE in eine allgemeine und eine besondere bestimmt und gefordert worden. Bis zum Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes war die Beurteilung der MdE allein in Abs. 1 des § 30 BVG geregelt. Dieser Absatz, der zwar seit dem Inkrafttreten des BVG verschiedentlich geändert worden ist, enthielt jedoch schon in der vor dem Neuordnungsgesetz geltenden Fassung alle Faktoren, die auch nach derzeitigem Recht für die Beurteilung der MdE maßgebend sind, also die körperliche Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben, die seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen sowie insbesondere das berufliche Betroffensein. Mit der Aufteilung der Vorschriften über die Bewertung der MdE in zwei Absätze des § 30 BVG ist - von der Erwähnung des "derzeitigen" Berufs bei der Berufsbetroffenheit abgesehen - eine sachliche Änderung nicht eingetreten (siehe dazu BSG 15, 208, 210). Mithin kann aus der mit dem Ersten Neuordnungsgesetz getroffenen Aufteilung der Vorschriften über die Bewertung der MdE keinesfalls geschlossen werden, dass von jetzt an stets zwei Wertungen festzusetzen wären, eine nach Abs. 1 und eine nach Abs. 2. Abgesehen davon, daß bei der Einführung einer derart wichtigen Neuerung darüber in den Materialien zum Neuordnungsgesetz etwas gesagt worden wäre, hätte eine bewußt eingeführte Doppelbewertung nunmehr auch Bestimmungen darüber erfordert, in welchem Sinne die bisher getroffenen Festsetzungen der MdE zu gelten haben und wie die von Gesetz gebrauchten Gradbestimmungen in jeden einzelnen Fall zu verstehen sind, ob im Sinne des Abs. 1 oder des Abs. 2. Das ist aber nicht geschehen. Aus all den erwähnten Umständen kann nur der Schluß gezogen werden, daß das BVG grundsätzlich nur eine einheitliche Wertung der MdE nach Abs. 1 und Abs. 2 des § 30 BVG kennt, so daß es dann, wenn es eine Unterscheidung der Wertung unter Einbeziehung oder Ausschließung einer Berufsbetroffenheit treffen wollte, dies ausdrücklich sagen mußte und tatsächlich auch in bestimmten Vorschriften gesagt hat. Mithin ist als erwerbsunfähiger Hirnverletzter im Sinne des § 35 BVG, der keine nähere Bestimmung über die Wertung der Erwerbstätigkeit enthält, auch derjenige Beschädigte anzusehen, dessen Erwerbsunfähigkeit, also dessen MdE mit mehr als 90 v.H. nur deshalb so bewertet worden ist, weil bei der Bewertung eine Berufsbetroffenheit gemäß Abs. 2 des § 30 BVG berücksichtigt wurde.

Der Einbeziehung der nur wegen ihres beruflichen Betroffenseins als erwerbsunfähig anzusehende Hirnverletzten in den Kreis der berechtigten Pflegezulagenempfänger steht nicht - wie der Beklagte unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG meint - der Umstand entgegen, daß wirtschaftliche Erwägungen bei der Gewährung der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG außer Betracht bleiben müssen (BSG 8, 69 ff. und 97 ff.). Der Beklagte übersieht hierbei, daß nach der angeführten Rechtsprechung des ESG wirtschaftliche Erwägungen bei der Beurteilung der Hilflosigkeit keine Rolle spielen dürfen. Im übrigen ist die Gewährung der Pflegezulage selbst weder dem Gesetz noch der Rechtsprechung nach von wirtschaftlichen Verhältnissen abhängig. Soweit die Berücksichtigung der besonderen Berufsbetroffenheit bei der Bewertung der MdE und damit auch bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit dazu dient, um für die "wirtschaftlichen Folgen der Schädigung" (§ 1 Abs. 1 BVG) Versorgung zu gewähren, besteht gegenüber der Berücksichtigung der körperlichen Beeinträchtigung bei der Beurteilung der MdE kein Unterschied, denn auch insoweit dient diese Beurteilung nur dazu, um nach diesem Maß die wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auszugleichen. Aus dem Gebrauch des Begriffs "erwerbsunfähig" in § 35 BVG kann daher nicht geschlossen werden, bei dieser Erwerbsunfähigkeit müsse es sich um eine allein nach § 30 Abs. 1 BVG beurteilte handeln, weil andernfalls mittelbar wirtschaftliche Verhältnisse für die Gewährung der Pflegezulage mitbestimmend wären. Ob für die Gewährung der Pflegezulage an erwerbsunfähige Hirnverletzte von dem Erfordernis der Hilflosigkeit Abstand genommen und allein die Schwere der Verletzung als Maßstab festgesetzt worden ist oder ob das Vorliegen der Hilflosigkeit bei einer so schweren Verletzung fingiert worden ist, kann dahinstehen; denn für die Annahme, daß die Schwere der Verletzung oder die Fiktion nur auf diejenigen erwerbsunfähigen Hirnverletzten beschränkt bleiben solle, die bei einer Beurteilung allein nach § 30 Abs. 1 BVG erwerbsunfähig zu gelten haben, sind Anhaltspunkte nicht vorhanden.

Der Beklagte kann seine Rechtsauffassung auch nicht auf die Protokolle des Ausschusses für Kriegsopfer und Kriegsgefangenenfragen (26. Ausschuß des 1. Deutschen Bundestages) stützen. Entgegen seiner Auffassung läßt sich aus den Beratungen dieses Ausschusses zu § 35 BVG nicht entnehmen, daß nur solche Hirnbeschädigte die Pflegezulage erhalten sollen, die infolge der körperlichen Beeinträchtigung (§ 30 Abs. 1 BVG) erwerbsunfähig geworden sind. Abgesehen davon, daß diese von Beklagten dem Ausschuß unterstellte Absicht in Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag gefunden hat, so daß sie eine den Wortlaut des Gesetzes einengende Auslegung nicht rechtfertigen könnte, betreffen die Erörterungen des Ausschusses allein die Frage, ob neben den Blinden auch erwerbsunfähige Hirnbeschädigte als besondere Gruppe von Beschädigten in das Gesetz aufgenommen werden sollten, ohne daß zu der hier streitigen Frage wie der Begriff "erwerbsunfähig" auszulegen ist, Stellung genommen worden ist (siehe dazu BT-Drucks. Nr. 1333 I. Wahlperiode 1949, Protokoll der 30. Sitzung von 26. September 1950 S. 38 D und 38. Sitzung vom 12. Oktober 1950 S. 139 D). Schließlich geht auch die Meinung des Beklagten fehl, daß bei der von LSG vertretenen Auffassung der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) verletzt werde, weil dann die Hirnverletzten gegenüber anderen Beschädigtengruppen mit gleicher körperlicher Beeinträchtigung bevorzugt würden. Der Gleichheitsgrundsatz verbietet zwar. Gleiches ungleich zu behandeln, jedoch sind zwei Gesundheitsstörungen - wie hier die Hirnverletzung einerseits und der Verlust von Gliedmaßen oder Erkrankungen andererseits - noch nicht deshalb gleich, weil für sie eine MdE gleichen Grades festgesetzt worden ist. Die Eigenart und die unterschiedlichen Auswirkungen verschiedener Gesundheitsstörungen lassen es nicht nur zu, sondern erfordern es häufig naturgemäß, daß unterschiedliche Versorgungsleistungen für sie trotz gleichen Grades der MdE gewährt werden. Ganz augenfällig tritt dies bei der Versorgung durch Heil- und Krankenbehandlung in Erscheinung. Aber auch bei der Gewährung der Pflegezulage lassen die Eigenart der Hirnverletzung und deren besondere Auswirkungen es zu - entsprechendes gilt für den Verlust der Sehkraft den erwerbsunfähigen Hirnverletzten im Unterschied zu den erwerbsunfähigen Beschädigten mit anderen Vernetzungen oder Erkrankungen die Pflegezulage zu gewähren. In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, ob die Pflegezulage auch ohne Hilflosigkeit allein wegen der Art und Schwere der Verletzung gewährt wird oder ob wegen der Art und Schwere der Verletzung eine Hilflosigkeit bei erwerbsunfähigen Hirnverletzten fingiert und aus diesem Grunde die Pflegezulage gewährt wird. Die ungleichen Lebenslagen und sachlichen Unterschiede bei der Auswirkung von Hirnverletzungen einerseits und Gesundheitsstörungen anderer Art andererseits lassen es deshalb zu erwerbsunfähigen Hirnverletzten im Unterschied zu erwerbsunfähigen Beschädigten mit anderen Gesundheitsstörungen ohne weiteres gemäß § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG die Pflegezulage zu gewähren, ohne daß dadurch der im Art. 3 GG verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt ist.

Danach steht einem erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten - wie hier dem Kläger - die Pflegezulage der Stufe I nach § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG aF und Satz 4 nF zu. Das LSG hat somit § 35 BVG nicht verletzt, so daß die Revision des Beklagten unbegründet ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 192 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 82

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge