Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisung eines angelernten Arbeiters im oberen Bereich

 

Orientierungssatz

Ein in die Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters in deren Bereich (hier: Beamtendiensttuer) einzuordnender Versicherter kann) nicht mehr auf alle ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden; vielmehr müssen sich die zumutbaren Verweisungstätigkeiten durch Qualitätsmerkmale, zB durch das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung, oder die Notwendigkeit beruflicher oder betrieblicher Vorkenntnisse auszeichnen. Wegen dieser eingeschränkten Verweisungsmöglichkeit muß mindestens eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret bezeichnet werden.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.12.1985; Aktenzeichen L 2 J 1662/82)

SG Mannheim (Entscheidung vom 17.08.1982; Aktenzeichen S 9 J 2304/81)

 

Tatbestand

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Der im Jahre 1927 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Seit 27. Oktober 1955 arbeitete er bei der Deutschen Bundesbahn, zunächst als Rangierarbeiter und nach einer Ausbildung von insgesamt 7 Wochen und formloser mündlicher Prüfung als Rangierleiter. Im August 1962 legte er die Prüfung als "Wärter Stw Gruppe K" ab. Ab 1. April 1968 wurde er im Wege des Bewährungsaufstieges tariflich als Facharbeiter eingestuft. Am 30. Mai 1974 bestand der Kläger die formlose mündliche Prüfung als "Bediener von Kleinlokomotiven". Die hierfür erforderlichen praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten hatte er in seiner Tätigkeit als Rangierleiter erworben. Im übrigen erfolgte eine zweiwöchige theoretische Ausbildung. Weiterhin wurden dem Kläger Kenntnisse und Fertigkeiten im praktischen Eisenbahndienst vermittelt. Ab 1. Juni 1975 nahm der Kläger zeitweise Beamtentätigkeiten als Kleinlokomotivbediener wahr. Hierfür erhielt er eine Funktionszulage. Ab 1. März 1976 erfolgte eine ständige Beschäftigung des Klägers als qualifizierter Bundesbahnfacharbeiter der Lohngruppe IV. In der Tätigkeit als Kleinlokomotivbediener als ständige Beschäftigung erfolgte zum 1. März 1977 die Einstufung des Klägers in die Lohngruppe CB II a 4 als "Hilfskraft im Beamtendienst".

Von September 1979 an war der Kläger arbeitsunfähig krank. Seit August 1985 arbeitet er als Materialherausgeber im Bahnhof M. . Im Wege der Lohnsicherung bezieht er die frühere Entlohnung nach der Lohngruppe CB II a.

Seinen im September 1980 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 8. Januar 1981 ab. Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 31. August 1981, Urteil des Sozialgerichts -SG Mannheim vom 17. August 1982, Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Baden-Württemberg vom 18. Dezember 1985). Zur Begründung führt das LSG unter anderem aus, der Kläger sei noch in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig leichte körperliche Arbeiten zu verrichten. Hierauf sei er zu verweisen, weil er in seiner früheren Berufstätigkeit als Kleinlokbediener wegen der Dauer der Ausbildung nicht einem Facharbeiter, sondern nur einem angelernten Arbeiter gleichzustellen sei. Als solcher könne er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden, ohne daß es der Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe. Es brauche nicht darüber befunden zu werden, ob dem Kläger seine derzeitige Tätigkeit als Materialausgeber zuzumuten sei.

Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich der Kläger mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung der §§ 1246, 1276 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Er trägt vor, die rechtliche Gleichstellung von Berufen, die keine staatlich anerkannten Ausbildungsberufe seien, mit dem Leitberuf des Facharbeiters sei nicht von der Dauer und dem Umfang einer Ausbildung abhängig. Abzustellen sei vielmehr auf die besonderen Anforderungen (Arbeitsinhalt, Aufgabenbereich, Bedeutung für den Betrieb) der bisherigen Berufstätigkeit. Hierzu sei die tarifliche Einstufung, im vorliegenden Fall als Facharbeiter, ein wichtiges Indiz. Diese Gesichtspunkte habe das LSG völlig außer acht gelassen. Insbesondere habe es sich mit den besonderen beruflichen Anforderungen eines Bedieners von Kleinlokomotiven nicht befaßt. Hierbei handele es sich um eine für die Deutsche Bundesbahn wichtige Tätigkeit. Das Fahren von Lokomotiven sei die eigentlich produktive Tätigkeit des Monopolbetriebes Bundesbahn. Deshalb sei die Fähigkeit hierzu mindestens der eines Kranfahrers im Stahlwerk oder der eines Baumaschinenführers gleichzuachten. Hier sei der Berufsschutz eines Facharbeiters zugebilligt worden, ohne daß hierfür eine mindestens zweijährige Berufsausbildung absolviert werden mußte. Auch das Fahren von Kleinlokomotiven erfordere große Verantwortung, Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Umsicht und Sorgfalt. Zu Unrecht und mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Einklang stehend habe das LSG den Berufsschutz als Facharbeiter abgelehnt.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Mannheim vom 17.8.1982 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8.1.1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.8.1981 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1.10.1980 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Baden-Württemberg zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist teilweise iS der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfaßt nach Satz 2 aaO "der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist", alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit "zugemutet werden können". Das bedeutet, daß der Gesetzgeber dem Versicherten einen Anspruch auf Rente wegen BU nicht schon dann einräumt, wenn er seinen - versicherungspflichtig ausgeübten - "bisherigen Beruf" (= "bisherige Berufstätigkeit") aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auszuüben in der Lage ist. Vielmehr verlangt das Gesetz von dem Versicherten, daß er, immer bezogen auf seinen "bisherigen Beruf", einen "zumutbaren" beruflichen Abstieg in Kauf nimmt und sich vor Inanspruchnahme einer Rente mit einer geringerwertigen Erwerbstätigkeit zufrieden gibt (BSGE 41, 129, 131). Erst wenn der Versicherte in diesem Sinn nicht auf einen zumutbaren anderen Beruf "verwiesen" werden kann, ist er berufsunfähig iS des Gesetzes. "Zugemutet werden" iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO können dem Versicherten alle von ihm - nach seinen gesundheitlichen Kräften und seinen beruflichen Kenntnissen und Fertigkeiten - ausführbaren, auch "berufsfremden" Tätigkeiten, die nach ihrer im Gesetz angeführten positiven Kennzeichnung - Ausbildung und deren Dauer, besondere Anforderungen, Bedeutung des Berufs im Betrieb -, also nach ihrer Qualität dem bisherigen Beruf nicht zu fern stehen (vgl zB BSG in SozR Nr 22 zu § 45 des Reichsknappschaftsgesetzes -RKG-; BSGE 38, 153 = SozR 2200 § 1246 Nr 4; BSGE 41, 129, 132 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; SozR § 1246 Nr 27, 29 und ständige Rechtsprechung). Zur praktischen Ausführung dieser Rechtssätze ist das Bundessozialgericht (BSG) aufgrund einer Beobachtung der tatsächlichen Gegebenheiten der Arbeits- und Berufswelt zu der generellen Feststellung gelangt, daß sich die Arbeiterberufe in drei nach ihrer Leistungsqualität - nicht nach Entlohnung oder nach Prestige - hierarchisch geordnete Gruppen aufgliedern: Die unterste Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten, die mittlere Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (= mit "sonstiger", dh nicht dem Facharbeiter entsprechender Ausbildung) und die Gruppe mit dem Leitberuf des Gelernten (Facharbeiter). Darüber steht die zahlenmäßig kleine Gruppe mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion, dem der besonders qualifizierte Facharbeiter gleichzubehandeln ist ("Vierstufen-Schema", vgl zB BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSGE 45, 276, 278 = SozR 2200 § 1246 Nr 27, 29, 51, 85, 86 und 95 sowie in ständiger Rechtsprechung, vgl etwa SozR 2200 § 1246 Nr 126). Als iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbaren beruflichen Abstieg hat die angeführte Rechtsprechung des BSG jeweils den Abstieg zur nächstniedrigeren Gruppe angenommen. Hiernach kann zB ein Versicherter, der nach seinem bisherigen Beruf in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters fällt, auf Tätigkeiten in die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (sonstigen Ausbildungsberuf) verwiesen werden, nicht aber auf die Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten (BSGE 43, 243, 246 = SozR 2200 § 1246 Nr 16 und 21 und fortan in ständiger Rechtsprechung, vgl zB BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr 107 mit zahlreichen Nachweisen).

Hiervon ausgehend ist dem LSG darin zu folgen, daß es den Kläger ungeachtet der tariflichen Einstufung seiner früheren Tätigkeit nicht als Facharbeiter angesehen hat. Da der Kläger keinen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von mehr als 2 Jahren erlernt hat, kann er nur dann der Gruppe der Facharbeiter zugeordnet werden, wenn seine bisherige Berufstätigkeit von ihrem qualitativen Arbeitswert her, dh in ihrer Breite von Kenntnissen und Erfahrungen einem Ausbildungsberuf entspricht. Unter diesen Voraussetzungen hat die Rechtsprechung den Kranfahrer im Stahlwerk und den Baumaschinenführer einem Facharbeiter gleichgestellt (Urteile vom 7. Oktober 1982 - 4 RJ 99/81 - und vom 8. September 1982 - 5b RJ 88/81 -). Im vorliegenden Fall hat das LSG festgestellt, daß der vom Kläger durch Ausbildung und Berufserfahrung erworbene Wissens- und Könnensstand nicht der Breite einer Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von mindestens 2 Jahren entspricht. An diese auf tatsächlichem Gebiet liegende Feststellung ist der Senat nach § 163 SGG gebunden, nachdem der Kläger hiergegen keine begründeten Verfahrensrügen erhoben hat, sondern lediglich seine auf tatsächlichem Gebiet liegende Bewertung seiner früheren Berufstätigkeit dem LSG gegenüberstellt. Von seiner Bewertung der Tätigkeit des Klägers aus konnte das LSG im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil vom 28. November 1985 - 4a RJ 51/84 = SozR 2200 § 1246 Nr 132) die Eigenschaft als Facharbeiter verneinen.

Im Ergebnis ist dem LSG auch darin zu folgen, daß es die BU ab August 1985 - Aufnahme einer Tätigkeit als Materialausgeber - verneint hat. Wenn das LSG auch aus seiner Sicht eine Prüfung der Zumutbarkeit dieser Tätigkeit nicht für erforderlich hielt, so reichen seine nicht angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) aus, den Kläger auf diese Tätigkeit zu verweisen. Der Kläger bezieht seinen früheren Facharbeiterlohn im Wege der Lohnsicherung weiter. Diese Tatsache begründet grundsätzlich die Zumutbarkeit (vgl BSG Urteil vom 19. März 1980 - 4 RJ 13/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 60). Umstände, die im Falle des Klägers die Zumutbarkeit ausschließen können (vgl SozR aa0 S 181, BSG Urteile vom 11. September 1979 - 5 RJ 136/78 = BSGE 49, 34 = SozR 2200 § 1246 Nr 49, vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 = SozR aa0 Nr 69 und vom 29. November 1984 - 5b RJ 46/84 = SozR aa0 Nr 124), sind weder vorgetragen noch vom LSG festgestellt. Im übrigen spricht auch die vom LSG angegebene tarifliche Einstufung der Tätigkeit für die Zumutbarkeit, so daß sich die Revision des Klägers insoweit als unbegründet erweist.

Nicht zu folgen hingegen ist dem LSG darin, daß es den Kläger als angelernten Arbeiter auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen hat, ohne eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen. Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger mehrere, wenn auch teilweise formlose Prüfungen abgelegt und war auf Beamtendienstposten eingesetzt. Diese Tatsachen rechtfertigen die Einordnung des Klägers in die Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten im oberen Bereich (BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 132 S 425 f). In diesem Fall aber kann der Kläger nicht mehr auf alle ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden; vielmehr müssen sich die zumutbaren Verweisungstätigkeiten durch Qualitätsmerkmale, zB durch das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung, oder die Notwendigkeit beruflicher oder betrieblicher Vorkenntnisse auszeichnen. Wegen dieser eingeschränkten Verweisungsmöglichkeit muß mindestens eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret bezeichnet werden. Insoweit hat das LSG keine Feststellungen getroffen.

Aus dieser Sicht liegt es nahe, zunächst zu untersuchen, ob der Kläger schon vor August 1985 in der Lage war, als Materialausgeber tätig zu sein. Bejahendenfalls bedarf es dann noch der Feststellung, ob es hierfür Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gibt (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 25. Juni 1986 - 4a RJ 55/84), auch unter dem Gesichtspunkt, daß dem Kläger aufgrund seiner früheren Tätigkeit bei der DB diese Arbeitsplätze leichter zugänglich sind. Das LSG wird ggf auch zu prüfen haben, ob der Kläger seit Rentenantragstellung eine realisierbare Chance hatte, eine andere zumutbare Tätigkeit bei der DB im Wege der innerbetrieblichen Umsetzung bzw Versetzung zu erlangen, oder ob außerhalb der DB für ihn eine zumutbare Tätigkeit vorhanden war. Insoweit erweist sich die Revision des Klägers als begründet.

Nach allem war auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664458

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