Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit eines Kranführers

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Versicherter, der keine abgeschlossene Berufsausbildung eines Lehrberufes besitzt, sondern nur eine längere Anlernzeit durchlaufen hat, kann der Gruppe der Facharbeiter zuzuordnen sein, wenn seine bisherige Tätigkeit nach einer für Facharbeiter vorgesehenen Tarifgruppe entlohnt worden ist und sich durch qualitative Merkmale deutlich aus den angelernten Tätigkeiten herausgehoben hat.

 

Orientierungssatz

Auch ohne entsprechende Ausbildung ist ein Kranführer bei der Prüfung seiner zumutbaren Verweisbarkeit als Facharbeiter zu beurteilen, wenn die tarifliche Entlohnung und die qualitative Arbeitsleistung dies rechtfertigen.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 08.10.1981; Aktenzeichen L 1 J 4/81)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 01.12.1980; Aktenzeichen S 12 J 115/79)

 

Tatbestand

Der im Jahr 1928 geborene Kläger arbeitete von 1949 bis 1961 als gelernter Schuhmacher, danach bis Juni 1978 in der Dreherei der Stahlwerke R. als Kranfahrer. Wie das Landessozialgericht (LSG) festgestellt hat, trug er dabei Verantwortung für besondere hüttentechnische Vorgänge, seine Tätigkeit hatte im Betrieb eine hervorgehobene, verantwortungsvolle Bedeutung und hob sich aus der Gruppe der übrigen Kranfahrer heraus. Der Kläger bezog Lohn nach der Lohngruppe 5 des Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer in den Betrieben der eisenschaffenden Industrie des Saarlandes idF vom 10. Januar 1979. Während die Masse der Kranfahrer in Lohngruppe 4 eingestuft war, wurde der Kläger nach § 13 dieses Vertrages wegen der von ihm getragenen besonderen Verantwortung wie ein Facharbeiter eingestuft.

Im September 1978 beantragte der Kläger, weil er sich nach einer Erkrankung und einem Arbeitsunfall den Anforderungen der Arbeit nicht mehr gewachsen fühlte, Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. März 1979 den Antrag ab.

Das Sozialgericht (SG) für das Saarland hat mit Urteil vom 1. Dezember 1980 die Beklagte zur Rentengewährung verurteilt. Das LSG hat mit Urteil vom 8. Oktober 1981 die Berufung der beklagten Landesversicherungsanstalt als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kläger sei in die Gruppe der Facharbeiter einzuordnen. Zwar handele es sich bei dem Kranfahrer grundsätzlich um eine Tätigkeit angelernter Art und nicht um einen Ausbildungsberuf. Wegen seiner tariflichen Einstufung sei der Kläger aber als Facharbeiter anzusehen. Die Charakterisierung der Berufsgruppen durch Leitberufe schließe ein, daß alle Berufe dem Leitberuf als qualitativ gleichwertig zu erachten seien, die tariflich gleichwertig eingestuft würden. Dabei sei es ohne Belang, ob der Beruf im Vergleich zum anerkannten Ausbildungsberuf nur eine kürzere oder überhaupt keine Ausbildung voraussetze. Die tarifliche Einstufung habe auch der besonderen Verantwortung des Klägers entsprochen. Die Revision sei zuzulassen, weil es von allgemeinem Interesse sei, ob eine relativ hohe tarifliche Einstufung, die im wesentlichen auf der Qualität der Berufstätigkeit beruhe, eine Facharbeitergleichstellung selbst dann bewirke, wenn der ausgeübte Beruf überhaupt keine Ausbildung voraussetze.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt vor: Die tarifliche Einstufung in die Gruppe der Facharbeiter stelle zwar ein starkes Indiz für den Status des Facharbeiters dar, genüge aber für sich allein nicht, um diesen Status zu erwerben. Es müßten dazu Tätigkeiten verrichtet werden, die entsprechend einer Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren seien und eine gewisse, ins Gewicht fallende Funktionsbreite hätten. Der Kläger sei zwar wie ein Facharbeiter bezahlt worden, aber nur wegen der bei ihm vorhandenen besonderen Geschicklichkeit. Er sei als angelernter Arbeiter anzusehen und deshalb auf die Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Er habe keinen Anspruch auf Rente. Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Dem angefochtenen Urteil ist im Ergebnis zuzustimmen.

Rente wegen Berufsunfähigkeit erhält der Versicherte, der berufsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist (§ 1246 Abs 1 RVO). Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist; der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs 2 Sätze 1 und 2 RVO).

Das LSG hat den Kläger seiner bisherigen Tätigkeit nach dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet und ihn deshalb nur auf andere Lehrberufe, angelernte Tätigkeiten und diejenigen ungelernten Arbeiten als verweisbar angesehen, die wegen der ihnen anhaftenden Qualitätsmerkmale aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten herausragen und ebenso wie sonstige Ausbildungsberufe bewertet werden. Es hat weiter festgestellt, daß es solche Verweisungstätigkeiten nicht gibt, und deshalb dem Kläger die Rente zugesprochen.

Die Revision vertritt zu Recht die Auffassung, daß die tarifliche Einstufung nicht allein für die Zuordnung einer Tätigkeit zu einem bestimmten Leitberuf entscheidend sein kann. Im Hinblick auf das Kriterium der tariflichen Einstufung hat das BSG in mehreren Entscheidungen übereinstimmend ausgesprochen, daß es sich dabei um ein geeignetes und relativ zuverlässiges Hilfsmittel handele, das als wichtiges Indiz für die Zuordnung der bisherigen Tätigkeit eines Versicherten zu einer Gruppe des sog Mehrstufenschemas dienen könne (vgl BSG, Urteile vom 27. 1. 1981 - 5b/5 RJ 76/80 = BSGE 51, 135, 137; vom 9. 12. 1981 - 1 RJ 124/80 = SozR 2200, § 1246 Nr 86; vom 21. 4. 1982 - 4 RJ 27/81). Dem entspricht auch die Auffassung in der Literatur. Nach Rauscher (Die neuere Rechtsprechung des BSG zur Berufsunfähigkeit, Soziale Sicherheit 1981, 329) sind die Tarifverträge ein rechtlich zulässiges Hilfsmittel, jedoch sind andere Hilfsmittel, die im Vergleich zu den Tarifverträgen eine ebenso nützliche Funktion zur Realisierung des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO erfüllen können, nicht ausgeschlossen.

An der Rechtsprechung, daß die tarifliche Einstufung zwar ein wichtiges Indiz, - aber auch nur ein wichtiges Indiz - für die Zuordnung zu Leitberufen ist, hält der Senat fest, zumal gegen diese Auffassung, soweit ersichtlich, keine begründeten Bedenken erhoben worden sind. Dennoch geht die Revision fehl, weil das LSG die Zuordnung der Tätigkeit des Klägers zum Leitberuf Facharbeiter nicht nur aus der Beachtung der Tarifgruppe gefolgert und nur damit begründet hat; es hat vielmehr die Zuordnung aus einer Gesamtschau mehrerer Bewertungskriterien gewonnen und damit begründet.

Das Berufungsgericht hat zunächst die vom SG vorgenommene Zuordnung gebilligt. Das erstinstanzliche Gericht hatte neben der tariflichen Einstufung die große Verantwortung bei der Ausübung der einzelnen Arbeitsvorgänge zur Begründung herangezogen. Das LSG hat neben diesen Kriterien die Verantwortung des Klägers betont. An seine Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit und Umsicht sind besondere Anforderungen gestellt worden, es hat von seiner Arbeit abgehangen, Schäden persönlicher und sachlicher Art zu vermeiden, und seine Sorgfalt hat dazu geführt, Störungen des Arbeitsablaufs zu verhindern. Aufgrund dieser Umstände hat sich die Tätigkeit des Klägers, der längere Zeit als Kranfahrer angelernt worden ist, aus der der übrigen Kranfahrer herausgehoben. Daraus ergibt sich, daß das LSG seine Entscheidung nicht auf die tarifliche Einstufung allein, sondern auch auf mehrere andere Umstände gegründet hat. Es untersucht und billigt gleichzeitig die Richtigkeit der - verhältnismäßig hohen - tariflichen Einstufung des Klägers.

Bei seiner Wertung hat das LSG weder gegen allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe noch gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen. Diese Bewertung ist nicht zu beanstanden. Ein Versicherter, der keine abgeschlossene Berufsausbildung eines Lehrberufes besitzt, sondern nur eine längere Anlernzeit durchlaufen hat, kann der Gruppe der Facharbeiter zuzuordnen sein, wenn seine bisherige Tätigkeit nach einer für Facharbeiter vorgesehenen Tarifgruppe entlohnt worden ist und sich durch qualitative Merkmale deutlich aus den angelernten Tätigkeiten herausgehoben hat.

Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1983, 612

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