Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenentzug wegen Änderung der Verhältnisse

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Berufsunfähigkeitsrente ist zu entziehen, wenn der Rentenempfänger aufgrund einer tariflichen Höherstufung eine seinem früheren Beruf gleichwertige Tätigkeit ausübt. Die Frage der Gleichwertigkeit ist grundsätzlich nach den Merkmalen der Tarifgruppe zu beurteilen, in die er eingestuft ist (Anschluß an BSG 1978-02-28 4 RJ 43/77 = SozR 2200 § 1286 Nr 5).

 

Orientierungssatz

Der Übergang von einer unzumutbaren in eine zumutbare Verweisungstätigkeit ist eine die Rentenentziehung rechtfertigende wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Versicherten.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1286 Abs 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.02.1981; Aktenzeichen L 16 Ar 126/79)

SG Landshut (Entscheidung vom 21.11.1978; Aktenzeichen S 5 Ar 486/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Entziehung einer Berufsunfähigkeitsrente.

Der im Jahre 1939 geborene Kläger hat den Beruf eines Installateurs und Heizungsmonteurs erlernt. Er arbeitet seit dem 1. Oktober 1971 als Verwaltungsangestellter bei der AOK L.. Dort war er ursprünglich in die Vergütungsgruppe IX des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) eingestuft. Durch Bescheid vom 4. Juli 1972 gewährte ihm die Beklagte Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Januar 1971. Nach der am 1. Januar 1973 durchgeführten Höhergruppierung des Klägers in die Vergütungsgruppe VIII BAT entzog die Beklagte die Berufsunfähigkeitsrente durch Bescheid vom 4. September 1973 mit der Begründung, der Kläger könne als Verwaltungsangestellter mindestens die Hälfte des Lohnes eines vergleichbaren Versicherten erzielen. Auf die hiergegen erhobene Klage erkannte die Beklagte das Fortbestehen von Berufsunfähigkeit an und gewährte die Rente weiter.

Mit Wirkung vom 1. Januar 1977 wurde der Kläger für seine Tätigkeit bei der AOK L. in die Vergütungsgruppe VII BAT eingestuft. Hierauf entzog die Beklagte die Rente durch Bescheid vom 18. Oktober 1977 mit Ablauf des Monats November 1977. Diesen Bescheid hat das Sozialgericht (SG) Landshut aufgehoben (Urteil vom 21. November 1978); die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil des Bayerischen LSG vom 17. Februar 1981). In seinem Urteil führt das LSG ua aus, im Gesundheitszustand des Klägers sei eine wesentliche Änderung nicht eingetreten. Dies gelte auch für seine beruflichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Trotz der Höhergruppierung des Klägers in die Gruppe VII BAT hätten sich weder sein Aufgabenbereich noch die Qualifikation geändert. Es habe sich auch nicht um eine Höhergruppierung im Wege des Bewährungsaufstiegs gehandelt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor, in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers sei insofern eine Änderung eingetreten, als er nunmehr in finanzieller Hinsicht keine Einbuße gegenüber seinem früheren Beruf als Installateur/Heizungsmonteur mehr erleide. Insoweit fehle es an einem sozialen Betroffensein des Klägers.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Bayerischen LSG vom 17. Februar 1981 und das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 21. November 1978 aufzuheben und die Klage gegen den Rentenentziehungsbescheid vom 18. Oktober 1977 abzuweisen. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Die Entziehung der Berufsunfähigkeitsrente findet im § 1286 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ihre ausreichende gesetzliche Stütze. Diese Vorschrift ist erst mit Wirkung vom 1.1.1981 gestrichen worden (Art II § 4 Nr 1 iVm Art II § 40 Abs 1 Satz 1 SGB X) und die neue Entziehungsregelung nach § 48 SGB X ist gemäß Art II § 40 Abs 2 SGB X nur anwendbar, wenn der Entziehungsbescheid nach dem 31.12.1980 ergangen ist. Das ist hier nicht der Fall. Nach § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO ist eine Berufsunfähigkeitsrente zu entziehen, wenn in den für die Rentenbewilligung maßgebenden Verhältnissen eine Änderung eintritt, die den Wegfall der Berufsunfähigkeit zur Folge hat. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 28. Februar 1978 - 4 RJ 43/77 - SozR 2200 § 1286 Nr 5), kann eine Änderung in den Verhältnissen auch darin liegen, daß der Empfänger einer Berufsunfähigkeitsrente nach der Bewilligung der Rente eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit erlange. Der Begriff "Änderung der Verhältnisse" beschränkt sich nicht auf eine Besserung des Gesundheitszustandes oder den Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten. Dies ergibt sich daraus, daß die Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs 2 RVO) als Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht abstrakt, dh ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit des Leistungsvermögens eines Versicherten im Arbeitsleben, sondern konkret danach zu bestimmen ist, welche - zumutbaren - Tätigkeiten ein Versicherter noch ausüben und auf diese Weise Arbeitseinkommen erzielen kann. Übt ein Versicherter eine ihm nach den Grundsätzen des § 1246 Abs 2 RVO zumutbare Erwerbstätigkeit aus, so ist er in den Arbeitsprozeß eingegliedert mit der Folge, daß eine gesundheitliche Erwerbsminderung zwar weiterbestehen mag, aber nicht mehr durch die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente auszugleichen ist.

Für die Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 RVO ist ihre tarifliche Einstufung ein wichtiges Indiz, weil in ihr am zuverlässigsten zum Ausdruck kommt, welchen Wert die am Berufsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise über die Tarifparteien einer bestimmten Berufstätigkeit zumessen (so ua Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 - SozR 2200 § 1246 Nr 73 S 231). Die tarifliche Einstufung einer Tätigkeit eignet sich dann als Maßstab für ihre Zumutbarkeit, wenn der Tarifvertrag sich am qualitativen Inhalt dieser Tätigkeit orientiert, dh die an einen Versicherten gestellten Anforderungen an fachlichen Kenntnissen und Fertigkeiten sowie den mit einer Tätigkeit verbundenen Verantwortungsbereich bewertet. Andere Kriterien wie zB erschwerende Umstände bei der Arbeitsausführung können sich zwar ebenfalls auf die tarifliche Einstufung auswirken, haben indessen im allgemeinen keinen Einfluß bei der Bestimmung der Zumutbarkeit iS des § 1246 Abs 2 RVO (vgl BSG Urteile vom 12.11.1980 - 1 RJ 24/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 68 S 211f und vom 31.3.1981 - 5b/5 RJ 68/79 = SozR aaO Nr 79). Ist ein Versicherter aufgrund eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses tariflich eingestuft, so ist rentenrechtlich lediglich zu prüfen, ob diese Einstufung auf dem qualitativen Wert der an den Versicherten gestellten Arbeitsanforderungen beruht und dadurch für die Bestimmung der Zumutbarkeit dieser Tätigkeit relevant ist. Dagegen ist es für die Prüfung eines Rentenanspruches nicht Aufgabe der Rentenversicherungsträger oder der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, die tarifliche Einstufung auf ihre (arbeitsrechtliche) Richtigkeit hin zu überprüfen. Die tarifliche Einstufung wird zwischen dem Versicherten und seinem Arbeitgeber unter Beteiligung der Betriebsvertretung festgelegt; die damit verbundene Bewertung der vom Versicherten zu leistenden Arbeit ist für den Rentenanspruch als Ausdruck der im Arbeitsleben herrschenden Wertvorstellungen vorgegeben.

Die in einer tariflichen Einstufung zum Ausdruck kommenden Wertvorstellungen sind auch für die Anwendung des § 1286 RVO von Bedeutung. Eine Berufsunfähigkeit ist zu bejahen, wenn der Versicherte auf eine von ihm ausgeübte Erwerbstätigkeit wegen ihrer tariflichen Einstufung nicht verwiesen werden kann und eine andere zumutbare Tätigkeit nicht zur Verfügung steht. Hierbei kann sich die Unzumutbarkeit der ausgeübten Tätigkeit schon ohne weiteres aus der tariflichen Bewertung der Arbeitsanforderungen ergeben. Damit ist die tarifliche Einstufung der Tätigkeit eines Versicherten ein wesentlicher Grund für die Bewilligung oder Ablehnung der Berufsunfähigkeitsrente.

Im vorliegenden Fall beruhte die Rentenbewilligung darauf, daß dem Kläger die von ihm ausgeübte Tätigkeit der Vergütungsgruppe IX BAT nicht zugemutet werden konnte. In diesen für die Rentenversicherung maßgebenden Verhältnissen ist insofern eine Änderung eingetreten, als der Kläger später eine Tätigkeit ausgeübt hat, die in die Vergütungsgruppe VII BAT eingestuft worden ist. Hierbei handelte es sich nicht um einen Bewährungsaufstieg aufgrund mehrjähriger Tätigkeit, sondern um eine (neue) Bewertung nach den Tätigkeitsmerkmalen des BAT. Den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, daß die Höhergruppierung des Klägers deshalb vorgenommen wurde, weil der Arbeitgeber der Auffassung war, daß die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit nach ihren Merkmalen der Vergütungsgruppe VII BAT zuzuordnen sei. Diese tarifliche Einstufung beruht nicht darauf, daß mit den Anforderungen und Kenntnissen und Fähigkeiten nicht im Zusammenhang stehende Umstände eingetreten wären. Daß eine Tätigkeit nach den Merkmalen der Vergütungsgruppe VII BAT dem Kläger als ehemaligem Facharbeiter zumutbar ist, ergibt sich schon allein daraus, daß in dieser Vergütungsgruppe durchweg Angestellte mit abgeschlossener Berufsausbildung oder gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten aufgeführt sind, während die nächsthöhere Vergütungsgruppe VIb BAT im handwerklichen Bereich schon den Meistern vorbehalten bleibt. Unter diesem Gesichtspunkt arbeitet der Kläger in einer Tarifgruppe, die einem Facharbeiter adäquat ist. Der Kläger ist im Ergebnis seinem früheren Beruf tariflich gleichgestellt. Die Ausübung einer zumutbaren Tätigkeit bewirkt den Wegfall der Berufsunfähigkeit.

Nach alldem waren auf die Revision der Beklagten die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen den Entziehungsbescheid abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 221

Breith. 1983, 241

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