Verfahrensgang

SG Stuttgart (Urteil vom 24.06.1992)

 

Tenor

Auf die Revision der Beigeladenen zu 1) wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Juni 1992 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Rechtmäßigkeit von Honorarkürzungen.

Der Kläger ist seit 1978 als praktischer Arzt zur kassenärztlichen (nunmehr: vertragsärztlichen) Versorgung zugelassen. Er behandelte im Quartal IV/89 im Primärkassenbereich 1029 und im Quartal I/90 1075 Patienten (Fachgruppe: 808 und 839 Patienten), wobei sein Rentneranteil um 24 bzw 22 % höher als der der Fachgruppe lag. Sein Gesamtfallwert belief sich im Quartal IV/89 auf 1.103,9 Punkte (Fachgruppendurchschnitt: 816,7 Punkte; Standardabweichung – S –: 1,6) bzw 1.171,7 Punkte (Fachgruppe: 835,6 Punkte; S: 1,8). Bei der Leistungsgruppe 01 betrug seine durchschnittliche Punktzahl pro Fall 476,9 bzw 520 Punkte gegenüber einem Fachgruppendurchschnitt von 280,1 bzw 284,5 Punkten (Abweichung: 2,5 bzw 3,1 S). Bei der Leistung Nr 825 BMÄ überschritt seine Honoraranforderung den Fachgruppendurchschnitt um 356,5 bzw 287,2 % und im Quartal I/90 bei der Leistung Nr 851 BMÄ den Fachgruppendurchschnitt um 196,3 %.

Der Prüfungsausschuß kürzte für das Quartal IV/89 den Ansatz der Leistungsgruppe 01 auf 1,5 S Überschreitung (= 79.953,3 Punkte) und den der Nr 825 auf 100 % Überschreitung (= 30.250 Punkte) sowie im Quartal I/90 den Ansatz der Nrn 8, 825 und 851 auf jeweils 100 % Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts (Kürzung der Leistungsansätze um 99.000, 23.750 und 8.400 Punkte). Der beklagte Beschwerdeausschuß gab dem Widerspruch des Klägers für das Quartal IV/89 teilweise statt. Er kürzte die Honoraranforderungen bei den Leistungen Nrn 1 und 8 auf 50 % und bei den Nrn 11 und 825 auf 100 % Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts. Unter Berücksichtigung eines von dem Beklagten anerkannten Minderaufwandes bei der Leistung Nr 4 (= 57.600 Punkte) und bei der Leistungsgruppe 03 (= 29.120 Punkte) ergab das eine Gesamtkürzung von 75.700 Punkten. Den Widerspruch für das Quartal I/90 wies der Beklagte zurück. Zur Begründung führte er aus, nach Abzug des Aufwandes für die vom Kläger abgehaltene Samstagsprechstunde, die als Praxisbesonderheit berücksichtigt werde, verbleibe in der Leistungsgruppe 01 noch ein durchschnittlicher Aufwand in Höhe von 438,5 Punkten je Behandlungsfall (Überschreitung des Vergleichswerts der Fachgruppe um 2,0 S). Dennoch sei von einer pauschalen Kürzung der Leistungsgruppe 01 abgesehen und diese Maßnahme auf die Nrn 1, 8 und 11 beschränkt worden, wobei der Minderaufwand bei der Nr 4 und bei der Leistungsgruppe 03 berücksichtigt worden sei. Bei der Festlegung des Grenzwertes für die Überschreitung bei der Nr 11 sei sowohl dem Rentneranteil, der sich mit 7,2 % auswirke, als auch der geringen Häufigkeit dieser Leistung Rechnung getragen worden. Bei den Nrn 1 und 8 ergebe der erhöhte Rentneranteil einen berechtigten Mehraufwand von 3,7 bzw 0,5 %, der in der belassenen Überschreitung enthalten sei. Bei der Leistung Nr 825 BMÄ käme zu der zugestandenen Überschreitung von 50 % noch der Mehraufwand von 11,6 % für den erhöhten Rentneranteil hinzu. Danach wären lediglich 77 Ansätze der Nr 825 BMÄ anzuerkennen gewesen; dem Kläger seien aber 95 Ansätze belassen worden. Im Quartal I/90 wären an sich Kürzungen bei den Nrn 1 und 8 BMÄ auf jeweils 50 % Überschreitung, bei der Nr 11 auf 100 % Überschreitung erforderlich gewesen. Hiervon sei zugunsten des Klägers der Minderaufwand bei der Nr 4 abzuziehen gewesen. Die danach an sich zu kürzende Punktzahl läge jedoch um 20.330 Punkte über der vom Prüfungsausschuß vorgenommenen Kürzung. Wegen des Verbotes der Verböserung im Widerspruchsverfahren habe eine Erhöhung des Kürzungsbetrages nicht vorgenommen werden können (Bescheid des Beklagten vom 24. Mai 1991).

Das hiergegen angerufene Sozialgericht (SG) hat die Bescheide des Prüfungsausschusses in der Gestalt des Bescheides des Beklagten aufgehoben (Urteil vom 24. Juni 1992). Zur Begründung hat es im einzelnen dargelegt, Gegenstand des Klageverfahrens wegen einer Honorarkürzung nach einer Wirtschaftlichkeitsprüfung sei gemäß § 95 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm § 106 Abs 5 Satz 5 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) der Bescheid des Prüfungsausschusses in der Gestalt des Bescheides des Beschwerdeausschusses, so daß – entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) – bei Rechtswidrigkeit beide Bescheide aufzuheben seien. Einzig zulässige Klageart sei die Anfechtungsklage, die auch begründet sei. Die angefochtenen Bescheide erwiesen sich als rechtswidrig, weil sie nicht ordnungsgemäß begründet worden seien. Der Beklagte habe bei den einzelnen Kürzungen zum einen den Grenzwert zum offensichtlichen Mißverhältnis nicht nachvollziehbar bestimmt, insbesondere keine hinreichende Begründung für dessen Festlegung gegeben. Zum anderen sei zwar der zu belassende Mehraufwand für die Praxisbesonderheit „erhöhter Rentneranteil” festgelegt, dabei aber nicht angegeben worden, wie diese Bewertung errechnet werde. Unabhängig davon sei die Kürzung bei den Leistungen Nrn 1, 8 und 825 auch deshalb rechtswidrig, weil die Prüfgremien hinsichtlich dieser Leistungen erst mit Bescheid vom 9. Januar 1990 bezüglich des Quartals II/89 einen Hinweis erteilt hätten. Dieser entfalte eine Sperrwirkung insofern, als eine Kürzung in den Quartalen, in denen der geprüfte Arzt einen Hinweis noch nicht hätte berücksichtigen können, nicht vorgenommen werde dürfe. Dies treffe für das Quartal IV/89 zu. Für das Quartal I/90 hätten die Prüfgremien im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Umfang der Kürzung berücksichtigen müssen, daß sich der Hinweis nur noch zum Teil auf das Quartal I/90 habe auswirken können.

Die zu 1) beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) hat die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 106 SGB V, des § 35 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sowie der §§ 95, 70 Nr 4 und § 51 Abs 2 Satz 1 SGG. Das angefochtene Urteil überspanne die an einen Honorarkürzungsbescheid zu stellenden Begründungsanforderungen. Zu diesen gehöre nicht, daß der von den Prüfgremien angenommene Grenzwert für das offensichtliche Mißverhältnis ausdrücklich genannt werde; es reiche aus, wenn er sich anhand der vorgenommenen Kürzungen und der dazu im Bescheid angestellten Erwägungen bestimmen lasse. Die Grenzziehung bedürfe auch keiner ins einzelne gehenden Begründung, wenn sie sich in dem von der Rechtsprechung anerkannten Rahmen bewege und Praxisbesonderheiten nicht erkennbar seien. Eine ausreichende Homogenität der Vergleichsgruppe sei dadurch gewährleistet, daß in sie nur diejenigen Ärzte einbezogen würden, welche die betreffenden Leistungen ebenfalls abgerechnet hätten. Es stelle sich als überspitzte Anforderung dar, das Anführen der Berechnungsformel für die Gewichtung des rentnerbedingten Mehraufwandes in den Gründen des Bescheides zu verlangen, wenn sich aus ihm ergebe, daß der Rentneranteil berücksichtigt worden sei. Auch soweit das angefochtene Urteil dem fehlenden Hinweis eine Sperrwirkung zuerkenne, könne ihm nicht gefolgt werden. Der betreffende Arzt habe keinen Anspruch auf Vergütung derjenigen Leistungen, die er unter Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot erbracht habe, so daß es insoweit eines vorherigen Hinweises nicht bedurft habe.

Die Beigeladene zu 1) beantragt,

die Klage unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Juni 1992 abzuweisen,

hilfsweise, unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Juni 1992 den Bescheid des beklagten Beschwerdeausschusses vom 24. Mai 1991 aufzuheben und den Beschwerdeausschuß – nicht auch den Prüfungsausschuß – zu verurteilen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu entscheiden weiter hilfsweise, den Rechtsstreit an das Sozialgericht Stuttgart zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene zu 2) stellt dieselben Anträge wie die Beigeladene zu 1).

Der Beigeladene zu 3) beantragt,

die Klage unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Juni 1992 abzuweisen,

hilfsweise, den Bescheid des Beklagten vom 24. Mai 1991 unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Juni 1992 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu entscheiden.

Die Beigeladenen zu 2) und 3) beziehen sich zur Begründung auf das Vorbringen der Beigeladenen zu 1).

Der Beklagte und der Beigeladene zu 4) schließen sich der Revisionsbegründung der Beigeladenen zu 1) an. Die Beigeladene zu 5) hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist zulässig und begründet.

Gegenstand der vom Kläger erhobenen Anfechtungsklage ist entgegen der Auffassung des SG allein der Bescheid des beklagten Beschwerdeausschusses vom 24. Mai 1991. Eine gerichtliche Anfechtung der im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung vom Prüfungsausschuß erlassenen Bescheide scheidet – von bestimmten, hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen – aus Rechtsgründen aus; eine darauf gerichtete Klage ist unzulässig (vgl BSGE 72, 214, 219 f = SozR 3-1300 § 35 Nr 5 sowie das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 9. März 1994 – 6 RKa 5/92 –, jeweils mwN).

In der Sache führt die Revision zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage. Die rechtlichen Erwägungen, aus denen das SG die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Kürzungsentscheidung herleitet, sind nicht stichhaltig.

Rechtsgrundlage für die von den Prüfgremien praktizierte Form der arztbezogenen Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten ist § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V in der hier maßgebenden Fassung des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477). Mit dieser seit 1. Januar 1989 geltenden Bestimmung hat der Gesetzgeber die in der Praxis seit langem angewandte, bislang aber im Gesetz nicht verankerte und lediglich durch Richterrecht sanktionierte Methode des statistischen Kostenvergleichs als Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Tätigkeit anerkannt und als Regelprüfmethode übernommen. Er hat damit zugleich die zur Legitimation einer statistischen Vergleichsprüfung unerläßliche Annahme gebilligt, daß die Gesamtheit aller Ärzte im Durchschnitt gesehen wirtschaftlich behandelt, jedenfalls das Maß des Notwendigen und Zweckmäßigen nicht unterschreitet, und daß deshalb der durchschnittliche Behandlungsaufwand einer Arztgruppe grundsätzlich ein geeigneter Maßstab für die Wirtschaftlichkeitsprüfung eines Angehörigen dieser Arztgruppe ist. Ob sich aus der erstmaligen Festschreibung dieser Prüfmethode im Gesetz Folgerungen in Richtung auf eine Einschränkung der bisher von der Rechtsprechung zugestandenen großzügigen Überschreitungstoleranzen und einen erhöhten Rechtfertigungszwang für erheblich über dem Durchschnitt liegende Behandlungs- und Verordnungskosten ergeben, bedarf im vorliegenden Fall keiner Erörterung, weil sich der angefochtene Bescheid auch auf der Grundlage der bisher von der Rechtsprechung aufgestellten geringeren Anforderungen als rechtmäßig erweist.

Die arztbezogene Prüfung nach Durchschnittswerten, die unter der Voraussetzung ausreichender Vergleichbarkeit auch zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit des Ansatzes einzelner Leistungspositionen des BMÄ herangezogen werden kann (BSGE 71, 194, 196 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15), basiert auf einer Gegenüberstellung der durchschnittlichen Fallkosten einerseits des geprüften Arztes und andererseits der Gruppe vergleichbarer Ärzte. Eine Unwirtschaftlichkeit ist anzunehmen, wenn der Fallwert des geprüften Arztes so erheblich über dem Vergleichsgruppendurchschnitt liegt, daß sich die Mehrkosten nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur und den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lassen und deshalb zuverlässig auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise als Ursache der erhöhten Aufwendungen geschlossen werden kann. Wann dieser mit dem Begriff des offensichtlichen Mißverhältnisses gekennzeichnete Überschreitungsgrad erreicht ist, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Prüfungsgegenstandes und den Umständen des konkreten Falles ab und entzieht sich einer allgemeinverbindlichen Festlegung. Bei einem Einzelleistungsvergleich kann der Beweis der Unwirtschaftlichkeit regelmäßig nicht allein mit der Feststellung und Angabe von Überschreitungsprozentsätzen geführt werden; vielmehr bedarf es einer genaueren Untersuchung der Strukturen und des Behandlungsverhaltens innerhalb des speziellen engeren Leistungsbereichs sowie der Praxisumstände des geprüften Arztes, um die Eignung der Vergleichsgruppe und den Aussagewert der gefundenen Vergleichszahlen beurteilen zu können. Die dazu angestellten Erwägungen müssen, damit sie auf ihre sachliche Richtigkeit und – soweit sie in Ausübung eines Beurteilungsspielraumes erfolgen – auf ihre Plausibilität und Vertretbarkeit hin überprüft werden können, gemäß § 35 Abs 1 SGB X im Bescheid genannt werden oder jedenfalls für die Beteiligten und das Gericht erkennbar sein. Im Hinblick darauf, daß die Festlegung des Grenzwertes für das offensichtliche Mißverhältnis von der Beurteilung zahlreicher mehr oder weniger unbestimmter und in ihren wechselseitigen Auswirkungen nicht exakt quantifizierbarer Einzelfaktoren abhängt und auch bei Berücksichtigung aller relevanten Umstände letztlich eine wertende Entscheidung erfordert, verbleibt den Prüfungsorganen insoweit ein Beurteilungsspielraum.

Mit diesen rechtlichen Vorgaben ist es nicht vereinbar, wenn das SG dem Beklagten für die Grenzwertbestimmung eine rein statistische Vorgehensweise vorschreibt. Der Senat geht zwar, wie zuvor ausgeführt, ebenfalls davon aus, daß die Prüfung nach Durchschnittswerten auf einem statistischen Kostenvergleich aufbaut. Er hat aber wiederholt klargestellt, daß die statistische Betrachtung nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine sog intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muß, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Arztgruppe und die bei dem geprüften Arzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, in Rechnung zu stellen sind (BSGE 62, 24, 25 ff = SozR 2200 § 368n Nr 48 mwN; BSGE 71, 194, 197 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15). Diese Gesichtspunkte sind nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium oder nur auf entsprechende Einwendungen des Arztes, sondern bereits auf der ersten Prüfungsstufe von Amts wegen mit zu berücksichtigen; denn die intellektuelle Prüfung dient dazu, die Aussagen der Statistik zu überprüfen und ggf zu korrigieren. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten läßt sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Mißverhältnisses und damit den Schluß auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen.

In der bisherigen Rechtsprechung ist allerdings die Frage, an welcher Stelle im Ablauf des Prüfverfahrens die von der Typik der Fachgruppe abweichenden Praxisumstände des geprüften Arztes zu berücksichtigen sind, nicht einheitlich beantwortet worden. Das BSG hat es den Prüfungseinrichtungen freigestellt, diese Umstände je nach Zweckmäßigkeit entweder schon am Beginn der Prüfung durch Bildung einer engeren Vergleichsgruppe oder erst in einem nachfolgenden Prüfungsabschnitt durch Ermittlung und Anrechnung des ihretwegen erforderlichen Mehraufwandes zur Geltung zu bringen (BSGE 50, 84, 87 = SozR 2200 § 368e Nr 4 S 9; SozR 2200 § 368n Nr 31 S 105; SozR 2200 § 368n Nr 50 S 170). Das ist überwiegend so aufgefaßt worden, daß im zweiten Fall zunächst nach statistischen Kriterien über das Vorliegen eines offensichtlichen Mißverhältnisses zu befinden und erst danach gegebenenfalls zu prüfen sei, ob und inwieweit der durch die Fallkostendifferenz begründete Nachweis der Unwirtschaftlichkeit durch Praxisbesonderheiten widerlegt werde (so ausdrücklich zB BSG SozR 2200 § 368n Nr 3 S 8 f; Nr 31 S 99; Nr 43 S 144; Danckwerts, MedR 1991, 316, 320; Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht, 1994, S 226 RdNr 520 mwN). Indessen wird eine derartige Ausgestaltung des Prüfverfahrens weder der beweisrechtlichen Funktion und Bedeutung des offensichtlichen Mißverhältnisses noch den Erfordernissen einer effizienten Wirtschaftlichkeitsprüfung gerecht.

Wie der Senat zuletzt im Urteil vom 8. April 1992 (SozR 3-2500 § 106 Nr 11 S 59) dargelegt hat, kommt der Feststellung eines offensichtlichen Mißverhältnisses praktisch die Wirkung eines Anscheinsbeweises zu. Nach dessen Regeln kann aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, daß die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der statistischen Aussagen wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsweise oder der Angaben des Arztes (zu dessen Mitwirkungspflicht vgl BSG SozR 2200 § 368n Nr 31 S 101) erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verläßliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen läßt. Das gilt um so mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Mißverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann.

Umgekehrt können die Krankenkassen und die KÄVen ihren gesetzlichen Auftrag aus § 106 Abs 1 SGB V, die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen (nunmehr: vertragsärztlichen) Versorgung zu überwachen, nur unzureichend erfüllen, wenn es den Prüfungseinrichtungen verwehrt wird, die Praxisumstände des Arztes und andere medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte bereits im Rahmen des statistischen Kostenvergleichs bei der Bewertung der aufgetretenen Fallkostendifferenzen mit zu berücksichtigen. Das beruht darauf, daß eine rein statistische Vergleichsprüfung aus methodischen Gründen nur begrenzte Erkenntnisse über die Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Tätigkeit zu vermitteln vermag. Soll der Beweis für eine unwirtschaftliche Behandlungsweise auf der Grundlage der ausgewiesenen Fallkostenüberschreitungen allein nach mathematisch-statistischen Kriterien geführt werden, so muß bei wenig homogenen Vergleichsgruppen mit stark streuenden Werten bei der Festlegung des Grenzwertes für das offensichtliche Mißverhältnis ein sehr weiter Toleranzbereich vorgesehen werden, der aus medizinisch-ärztlicher Sicht bei Kenntnis des Behandlungsverhaltens der Fachgruppenangehörigen einerseits und des geprüften Arztes andererseits vielfach nicht gerechtfertigt ist. Eine verfeinerte, auf Teilbereiche der ärztlichen Tätigkeit bezogene Wirtschaftlichkeitsprüfung in der Form von Sparten- oder Einzelleistungsvergleichen könnte mangels genügend ausgereifter statistischer Verfahren überhaupt nicht durchgeführt werden (vgl Gaus, Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise des Kassenarztes, 1988, Kapitel 11.2, S 52 f). Die Folge wäre, daß dann auch gröbere Unwirtschaftlichkeiten unerkannt bleiben müßten bzw im Rahmen der angewandten Prüfmethode nicht beanstandet werden könnten. Für eine derartige Beschränkung der Beweismöglichkeiten gibt es keinen sachlichen Grund.

Der Beklagte war bei dieser rechtlichen Ausgangslage entgegen der Auffassung des SG aus Rechtsgründen nicht gehalten, für das offensichtliche Mißverhältnis eine Grenzwahrscheinlichkeit festzulegen oder bestimmte für die Beurteilung der Homogenität der Vergleichsgruppe geeignete statistische Kenndaten zu erheben, sondern konnte sich mit einem Vergleich auf der Grundlage arithmetischer Durchschnittszahlen begnügen. Ebensowenig ist der angefochtene Bescheid deshalb rechtswidrig, weil in ihm der Grenzwert für das offensichtliche Mißverhältnis nicht exakt mit einem bestimmten Überschreitungsprozentsatz angegeben ist. Der Senat hat bereits im Urteil vom 28. Oktober 1992 (BSGE 71, 194, 198 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15) ausgeführt, daß die Prüfungseinrichtungen sich nicht ausdrücklich auf einen bestimmten Grenzwert festlegen müssen, wenn sich aus den vorgenommenen Kürzungen in Verbindung mit der dazu gegebenen Begründung ersehen läßt, bei welcher Überschreitung ein offensichtliches Mißverhältnis angenommen wurde.

Diesen Anforderungen wird der angefochtene Bescheid des Beklagten gerecht. Im Quartal IV/89 hat er dem Kläger bei den Leistungen Nrn 1 und 8 BMÄ eine Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts von 50 % und bei den Leistungen Nrn 11 und 825 BMÄ eine Überschreitung von 100 % belassen. Gleichzeitig hat er dem Kläger den Minderaufwand, dh den Unterschied zwischen der Zahl der Leistungsansätze des Klägers und dem durchschnittlichen Ansatz der Fachgruppe, bei der Nr 4 BMÄ (= 57.600 Punkte) und bei der Leistungsgruppe 03 (29.120 Punkte) gutgebracht, so daß bei der Leistungsgruppe 01 die vom Kläger abgerechnete Gesamtpunktzahl von 490.680 Punkten im Ergebnis nur um 45.450 Punkte gekürzt wurde. Für das Quartal I/90 hat der Beklagte die Kürzung des Leistungsansatzes bei den Leistungen Nrn 8, 825 und 851 auf jeweils 100 % Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts bestätigt.

Die vorgenommene Grenzziehung ist nicht zu beanstanden; sie hält sich innerhalb des gegebenen Beurteilungsspielraums und ist mit den im Bescheid vom 24. Mai 1991 angestellten Erwägungen plausibel und nachvollziehbar begründet worden. Zunächst hat der Beklagte die Grundlagen für eine aussagefähige Vergleichsbetrachtung dadurch geschaffen, daß er in diese nur diejenigen Ärzte mit einbezogen haben, welche die betreffenden Leistungen in den streitigen Quartalen abgerechnet haben. Zugleich hat er die Kürzungsmaßnahmen auf fachgruppentypische Leistungen beschränkt; denn die Leistungen Nrn 1 und 8 BMÄ wurden von weit über 90 %, die Leistungen Nrn 11 und 825 BMÄ von über 80 % und die Leistung Nr 851 noch von deutlich mehr als 50 % der Ärzte der Vergleichsgruppe erbracht.

Die vom Beklagten gegebene Begründung trägt die Grenzziehung zum offensichtlichen Mißverhältnis bei 50 % bzw 100 % Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts. Nach dem zu beurteilenden Sachverhalt, der vom SG unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die – auch dem Kläger bekannten – Abrechnungsunterlagen festgestellt worden ist, hat der Kläger im Quartal IV/89 bei der Leistung Nr 1 BMÄ mit 129,9 Ansätzen auf 100 Fälle den Fachgruppendurchschnitt (76,6 auf 100 Fälle) unter Berücksichtigung seines höheren Rentneranteils um 63,6 % überschritten. Die Überschreitungen betrugen bei der Leistung Nr 8 (Kläger: 117,6 Ansätze; Fachgruppe: 30,6 Ansätze) 282,5 % und bei der Leistung Nr 11 (Kläger: 6,7 Ansätze; Fachgruppe: 1,8 Ansätze) 247,8 %. Die durchschnittliche Gesamtpunktzahl des Klägers pro Fall bei der Leistungsgruppe 01 betrug 476,9 Punkte, die der Fachgruppe – gewichtet nach Rentneranteil – 280,1 Punkte, die Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts durch den Kläger damit 2,5 S.

Der Beklagte hat in seiner Vergleichsprüfung die Auswirkungen der vom Kläger abgehaltenen und als Praxisbesonderheit gewerteten Samstagsprechstunde berücksichtigt und die bei den Leistungen Nrn 3 und 6 BMÄ angefallenen Punktzahlen von der Gesamtpunktzahl der Leistungsgruppe 01 abgezogen. Danach überschritt der Ansatz der vom Kläger abgerechneten Leistungen den Fallwert der Fachgruppe immer noch um 2,0 S (438,5 zu 280,1 Punkte). Nachdem der Beklagte keinen Anhaltspunkt dafür gefunden hat, daß die vom Kläger als Praxisbesonderheiten behaupteten Umstände „erhöhter Diabetikeranteil” und „größerer Anteil von Familienangehörigen” einen erhöhten Behandlungsaufwand rechtfertigen könnten, ist es nicht zu beanstanden, daß der Beklagte die Grenze zum offensichtlichen Mißverhältnisses bei 50 % bzw 100 % Überschreitungen des Fachgruppendurchschnitts angenommen hat, zumal er von der im Quartal IV/89 zu kürzenden Punktzahl den Minderaufwand bei der Leistung Nr 4 BMÄ und bei der Leistungsgruppe 03 abgezogen hat. Aus denselben Erwägungen war auch die Festlegung des offensichtlichen Mißverhältnisses auf 100 % Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts bei der Leistung Nr 825 BMÄ im Quartal IV/89 und bei der im Quartal I/90 zusätzlich gekürzten Leistung Nr 851 BMÄ gerechtfertigt. Die entgegenstehende Auffassung des SG, das eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides deshalb angenommen hat, weil sich aus ihm im einzelnen keine Begründung dafür ersehen lasse, daß die Prüfgremien gerade die genannte prozentuale Überschreitung belassen und nicht eine andere Entscheidung getroffen hätten, beruht bei dem festgestellten Sachverhalt auf überspitzten Anforderungen an die Begründungspflicht des Beklagten. Ihr ist nicht zu folgen.

Zu Unrecht hat das SG den angefochtenen Bescheid auch deshalb als rechtswidrig angesehen, weil der nach § 8 der maßgebenden Prüfvereinbarung erforderliche Hinweis auf die unwirtschaftliche Behandlungsweise nicht bzw nicht rechtzeitig genug gegeben worden sei, aber erst nach Hinweis eine Kürzung erfolgen dürfe. Der Senat hat nicht zu beurteilen, ob die genannte Vorschrift der Prüfvereinbarung die vom SG vorgenommene Auslegung trägt; denn es handelt sich insoweit um die Auslegung nichtrevisiblen Rechts (§ 162 SGG). Seine Anwendung in der vom Vordergericht getroffenen Auslegung verstößt jedoch gegen revisibles Recht dadurch, daß sie die Honorarkürzung bei unwirtschaftlicher Behandlungsweise von zusätzlichen, nicht in § 106 SGB V vorgesehenen Voraussetzungen abhängig macht und damit deren Zulässigkeit in einem nicht durch die genannte Vorschrift gedeckten Umfang einschränkt. § 106 Abs 5 Satz 2 SGB V bestimmt, daß in Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung gezielte Beratungen weiteren Maßnahmen in der Regel vorangehen sollen. Der Regelungsgehalt dieser Vorschrift im einzelnen kann dahingestellt bleiben. Ihr kann jedenfalls nicht entnommen werden, daß bei Überschreitungen des Fachgruppendurchschnitts im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses Honorarkürzungen erst nach vorherigen gezielten Beratungen erfolgen dürften (vgl bereits zu einer vergleichbaren Regelung aus dem Ersatzkassenbereich die Entscheidung des Senats vom 27. April 1982 – 6 RKa 4/79 = USK 82178).

Der angefochtene Bescheid erweist sich damit entgegen der Auffassung der Vorinstanz als rechtmäßig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, wobei dessen Abs 4 im Hinblick auf den Zeitpunkt der Revisionseinlegung noch in der früheren, bis 31. Dezember 1992 geltenden Fassung anzuwenden war (BSGE 72, 148, 156 f = SozR 3-2500 § 15 Nr 1).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174305

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