Entscheidungsstichwort (Thema)

Honorarkürzung beim Vertragsarzt wegen Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot

 

Orientierungssatz

1. Der Prüfinstanz ist es grundsätzlich gestattet, die Wirtschaftlichkeit mit Hilfe einer Statistik zu messen. Dabei wird der durchschnittliche Kostenaufwand des Vertragsarztes an dem statistischen Durchschnitt der Fachkollegen gemessen. Überschreitet er diesen offensichtlich, so wird vermutet, daß der Arzt unwirtschaftlich gearbeitet hat, ohne daß es eines weiteren Nachweises bedarf, es sei denn, daß Besonderheiten der jeweiligen Praxis den Mehraufwand ganz oder teilweise rechtfertigen (vgl BSG 1980-04-15 6 RKa 5/79 = BSGE 50, 84).

2. Wenn bei einem offensichtlichen Mißverhältnis keine Einzelfallprüfung vorgenommen zu werden braucht, dann bedarf es jedenfalls keiner Abmahnung des Vertragsarztes über die einzelnen Fallüberschreitungen, da dieses Mißverhältnis so sehr ins Auge fällt, daß der Arzt es entweder erkannt hat oder pflichtgemäß - als dem Wirtschaftlichkeitsgebot Unterworfener - hätte erkennen müssen. Eine Abmahnungspflicht besteht nur, wenn der Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses nicht erreicht wird.

3. Bei der Prüfung der Honorarüberschreitungen des Vertragsarztes sind auch Besonderheiten durch eine enge Spezialisierung des Arztes und Anfangsschwierigkeiten bei der Praxiseröffnung zu berücksichtigen.

 

Normenkette

RVO § 368e; EKV-Ä § 14 Nr 1

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 20.12.1978; Aktenzeichen L 1/3 Ka 2/75)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 27.08.1975; Aktenzeichen S 2 Ka 14/74)

 

Tatbestand

Im Streit sind Kürzungen des vertragsärztlichen Honorars des Klägers.

Der Kläger ist seit dem 3. September 1973 als Facharzt für innere Krankheiten und Lungen- und Bronchialheilkunde zugelassen. Er betreibt eine internistische Praxis seit dem IV. Quartal 1973 und hat sich auf dem Gebiet der Pulmonologie und Allergologie spezialisiert. Er ist als Vertragsarzt seit dem IV. Quartal 1973 an der Ersatzkassenpraxis beteiligt.

Im Februar 1974 kürzte die Prüfungskommission der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) die Gesamthonorarforderung des Klägers für das Quartal IV/1973 um 30 Prozent, was einer Summe von 9.504,79 DM entspricht. Sie begründete dies damit, daß der Kläger mit seinen durchschnittlichen Honorarforderungen um 208 Prozent über dem Durchschnittswert der vergleichbaren Ärztegruppe liege.

Auch die Honoraranforderung für das I.Quartal 1974 kürzte sie im Mai 1974 um 15 Prozent (4.844,47 DM). In dem Beschluß führte die Prüfungskommission aus, daß den Besonderheiten der klägerischen Praxis dadurch ausreichend Rechnung getragen worden sei, daß nach Durchführung der Kürzung immer noch eine Überschreitung von 96 Prozent gegenüber der Fachgruppe der Internisten vorliege.

Die Widersprüche des Klägers blieben erfolglos. Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Bescheide mit der Begründung aufgehoben, die Prüfungskommission habe unberechtigterweise auch dort gekürzt (zB bei Besuchen und Wegegebühren), wo der Kläger die Durchschnittsleistungen der Fachgruppe bei weitem unterschritten habe.

Auf die Berufungen der Beigeladenen Ziff 1, 2 und 3 hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Es hat ausgeführt: Die Praxis des Klägers sei zu Recht mit der Fachgruppe der Internisten verglichen worden. Daß er auch auf dem Gebiet der Pulmonologie tätig sei und seine Praxis erst eröffnet habe, sei bei der Kürzung hinreichend berücksichtigt worden, was sich auch daran zeige, daß die Honoraranforderung auch nach der Kürzung noch über der Summe der Fallwerte der Internisten und der Lungenfachärzte liege. Die Fallwerte des Klägers seien außerdem seit dem IV. Quartal 1973 in allen Leistungsbereichen stark zurückgegangen.

Die Beklagte habe ihr Ermessen nicht dadurch verletzt, daß sie pauschal gekürzt habe. Zwar erfasse die Kürzung auch solche Positionen, in denen der Kläger tatsächlich unter dem Falldurchschnitt der zum Vergleich herangezogenen Fachgruppe gelegen habe. Diese "unterdurchschnittlichen" Forderungen des Klägers bei den Besuchen und Wegegebühren seien gegenüber dem geforderten Gesamthonorar aber so unbedeutend, daß sie bei der Pauschalkürzung hätten außer Betracht bleiben dürfen.

Seit dem 1. Juli 1973 sähen die Auswahlrichtlinien für die Einleitung des Prüfungsverfahrens vor, daß einer Kürzung eine ausreichende Information vorausgehen müsse. Der Kläger habe aber nicht informiert werden können, weil die streitigen Honoraranforderungen die ersten nach Praxiseröffnung gewesen seien, und es habe auch ein so offensichtliches Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten der Vergleichsgruppe bestanden, daß in den Kürzungen kein Ermessensmißbrauch zu erblicken sei.

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt.

Er beanstandet, daß seine Honoraranforderungen nicht pauschal mit den Durchschnittswerten von Internisten bzw Lungenfachärzten hätten verglichen werden dürfen. Er habe Sonderleistungen berechnet, die weder von den Internisten noch von den Fachärzten für Lungen- und Bronchialleiden erbracht würden (zB die Ziffern 27A, 49A, 49B E-Adgo). Die Überhöhungen bei den Röntgenleistungen erklärten sich daraus, daß er Facharzt für Lungen- und Bronchialheilkunde sei und deshalb in sehr viel größerem Umfang Thoraxuntersuchungen durchzuführen habe als die Fachgruppe der Internisten. Die Laborleistungen seien in erhöhtem Maße erbracht worden, weil er auf dem Gebiet der Pulmonologie zahlreiche Patienten mit hohen Dosen von Antibiotika behandelt habe, was in größerem Umfang Laborkontrollen erfordere. Die "sonstigen Leistungen" fielen wegen des hohen Überweisungsanteils überhöht aus.

Bisher sei nirgends festgelegt, wie das Gebot der Wirtschaftlichkeit genau zu definieren sei. Die einzige Orientierungshilfe seien die Informationen. Wäre eine ausreichende Information in den ersten Quartalen der Niederlassung überflüssig, würden die neu niedergelassenen Ärzte gegenüber den Ärzten, die seit längerer Zeit niedergelassen seien, benachteiligt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts vom 20. Dezember 1978 aufzuheben und die Berufungen der Beigeladenen Ziffer 1, 2 und 3 zurückzuweisen.

Die Beklagte und die Beigeladenen beantragen, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat unter Mitwirkung von zwei Kassenärzten als ehrenamtlichen Richtern entschieden. Die Besetzung des Senats für Angelegenheiten des Kassenarztrechts hängt davon ab, ob die angefochtenen Verwaltungsakte in den Aufgabenkreis der kassenärztlichen Selbstverwaltung fallen oder ob sie zum Zuständigkeitsbereich der gemeinsamen Selbstverwaltung der KÄV und der Krankenkassen gehören. Die Prüfungs- und Beschwerdekommissionen, die von den KÄV gemäß § 15 Nr 1 und 2 des Arzt/Ersatzkassenvertrages vom 20. Juli 1963 (EKV) gebildet werden, bestehen ausschließlich aus Vertragsärzten, die von der KÄV bestellt werden, während der Verband der Angestellten-Krankenkassen lediglich das Recht hat, sich beratend zu beteiligen. Die angefochtenen Prüfbescheide der Beklagten sind deshalb der kassenärztlichen Selbstverwaltung zuzuordnen.

Die Revision des Klägers ist iS einer Zurückverweisung begründet. Ob der Kläger das Gebot, wirtschaftlich zu handeln, beachtet hat und ob die vorgenommene Kürzung - gegebenenfalls der Höhe nach - gerechtfertigt ist, darüber kann erst nach weiteren Ermittlungen entschieden werden, welche der Senat nicht vornehmen kann.

Gegenstand des Streits sind Honorarkürzungen im vertragsärztlichen Bereich. § 2 Nr 1 EKV gebietet jedem Vertragsarzt, bei seiner Tätigkeit das Maß des Notwendigen einzuhalten, das Gebot der Wirtschaftlichkeit zu beachten und hierauf seine Behandlungs- und Verordnungsweise einzurichten. Falls der Vertragsarzt sich nicht an dieses Gebot hält, erlaubt § 14 Nr 1 EKV eine Honorarkürzung in einem Prüfungsverfahren.

Der Prüfinstanz ist es grundsätzlich gestattet, die Wirtschaftlichkeit mit Hilfe einer Statistik zu messen. Dabei wird der durchschnittliche Kostenaufwand des Vertragsarztes an dem statistischen Durchschnitt der Fachkollegen gemessen. Überschreitet er diesen offensichtlich, so wird vermutet, daß der Arzt unwirtschaftlich gearbeitet hat, ohne daß es eines weiteren Nachweises bedarf, es sei denn, daß Besonderheiten der jeweiligen Praxis den Mehraufwand ganz oder teilweise rechtfertigen (BSG SozR 2200 § 368n Nr 3, S 9, Nr 14, S 47, Nr 19; BSGE 50, 84, 87 = SozR 2200 § 368e Nr 4). Wenn bei einem offensichtlichen Mißverhältnis keine Einzelfallprüfung vorgenommen zu werden braucht, dann bedarf es jedenfalls keiner Abmahnung des Vertragsarztes über die einzelnen Fallüberschreitungen, da dieses Mißverhältnis so sehr ins Auge fällt, daß der Arzt es entweder erkannt hat oder pflichtgemäß - als dem Wirtschaftlichkeitsgebot Unterworfener - hätte erkennen müssen. Eine Abmahnungspflicht seitens der Beklagten hätte daher - aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung in ihren Auswahlrichtlinien für die Einleitung des Prüfungsverfahrens - nur bestanden, wenn der Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses nicht erreicht worden wäre. Ob das hier der Fall ist, hat das LSG nicht ausreichend geklärt. Ob die vom Berufungsgericht zum Vergleich herangezogene Ärztegruppe der Internisten der Praxis des Klägers gerecht wird, erscheint zweifelhaft, da dieser zwar als Internist, zugleich aber auch für Lungen- und Bronchialheilkunde zugelassen ist und sich auf dem Gebiet der Pulmonologie und Allergologie spezialisiert hat. Das LSG wird entweder eine Vergleichsgruppe zu bilden haben, die diesen Besonderheiten Rechnung trägt oder aber - falls es eine genügend große Zahl von Ärzten dieser Behandlungsgruppe nicht gibt - herausarbeiten müssen, in welcher Hinsicht sich beim Kläger die pulmonologische und allergologische Behandlung von der allgemeinen internistischen Behandlung unterscheidet. Aber auch dem Argument des Klägers, er habe es in erhöhtem Maße mit Überweisungen zu tun, wird das LSG angesichts der engen Spezialisierung des Klägers nachzugehen haben. Schließlich wird aber auch zu klären sein, inwieweit die hohen Überschreitungen im diagnostischen Bereich darauf zurückzuführen sind, daß der Kläger bei Eröffnung seiner Praxis noch keine Altpatienten haben konnte.

Denn es fällt auf, daß der Kläger gerade bei diagnostischen und Sonderleistungen den Gruppendurchschnitt der Internisten erheblich überschreitet zB bei den Labor- und Röntgenleistungen und bei den Sonderleistungen und den elektrischen Untersuchungen (zur Neuzulassung als Praxisbesonderheit vgl BSG SozR 5550 § 14 EKV-Ärzte Nr 2). Gerade die Tatsache, daß die hohen Durchschnittswerte des Klägers bei den Labor- und Röntgenleistungen nach den ersten Quartalen zurückgegangen sind, könnte für jene Anfangsschwierigkeiten sprechen.

Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662085

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