Entscheidungsstichwort (Thema)

Relevanzrechtsprechung bei folgenloser Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers gegenüber Versicherer

 

Leitsatz (amtlich)

Die Grundsätze der Relevanzrechtsprechung finden nur dann Anwendung, wenn die vorsätzliche Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers folgenlos geblieben ist, d.h. dem Versicherer bei der Feststellung des Versicherungsfalles oder des Schadenumfanges keine Nachteile entstanden sind. Das ist nicht notwendig schon dann der Fall, wenn der Versicherer nicht geleistet hat.

 

Normenkette

VVG § 6 Abs. 3; AKB § 7

 

Verfahrensgang

OLG Hamburg (Urteil vom 29.10.2003; Aktenzeichen 14 U 64/03)

LG Hamburg

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des 14. Zivilsenats des Hanseatischen OLG Hamburg v. 29.10.2003 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagte ihm wegen eines Fahrzeugdiebstahls bedingungsgemäßen Versicherungsschutz zu gewähren hat. Dem Versicherungsverhältnis liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung (AKB; Stand März 1997) zu Grunde.

Die Beklagte erhielt am 2.11.2000 vom Kläger eine fernmündliche Schadensmeldung, die die Entwendung eines Fiat-Wohnmobils auf dem Parkplatz eines Supermarkts in P. zum Gegenstand hatte. Das Fahrzeug wurde zu einem späteren Zeitpunkt in Frankreich wieder aufgefunden und sichergestellt. Mit Schreiben v. 6.11.2000 übersandte die Beklagte dem Kläger ein Schadensanzeigeformular und einen "Ergänzungs-Fragebogen Fahrzeugdiebstahl", der eine Belehrung über die Rechtsfolgen unwahrer oder unvollständiger Angaben gegenüber dem Versicherer enthielt. Zugleich forderte die Beklagte den Kläger auf, ihr neben den Fahrzeugunterlagen "vorab postwendend" die Kfz-Schlüssel zu übersenden. Der Kläger kam dieser Aufforderung nicht nach, obwohl ihn die Versicherungsmaklerin wiederholt darauf hinwies, dass er zur Übersendung verpflichtet sei. Der Kläger stellte sich auf den Standpunkt, er müsse die Fahrzeugschlüssel nur Zug um Zug gegen eine Leistungszusage der Beklagten herausgeben. Die Beklagte beruft sich u.a. deshalb auf Leistungsfreiheit, weil der Kläger durch sein Verhalten gegen seine Obliegenheit aus § 7 I (2) S. 3 und 4 AKB verstoßen habe. Danach ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, alles zu tun, was zur Aufklärung des Tatbestandes und zur Minderung des Schadens dienlich sein kann; er hat hierbei die etwaigen Weisungen des Versicherers zu befolgen.

LG und Berufungsgericht haben die Feststellungsklage abgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision.

 

Entscheidungsgründe

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Die Weigerung der Beklagten, den Kläger wegen des behaupteten Diebstahls zu entschädigen, sei nach § 7 I (2) S. 3 und 4, V 4 AKB i.V.m. § 6 Abs. 3 VVG rechtens. Der Kläger habe sich der mit Schreiben v. 6.11.2000 durch den Versicherer erteilten Weisung widersetzt und sich trotz mündlicher und schriftlicher Mahnung seitens der Versicherungsmaklerin geweigert, die Fahrzeugschlüssel zur Verfügung zu stellen, solange die Beklagte ihre Eintrittspflicht nicht anerkenne. Der Verlust des Versicherungsschutzes widerspreche nicht § 242 BGB. Denn die Obliegenheitsverletzung des Klägers sei generell geeignet, die Interessen der Beklagten ernsthaft zu gefährden. Die Fahrzeugschlüssel seien für den Versicherer von erheblicher Bedeutung, weil eine sachverständige Untersuchung darüber Aufschluss geben könne, ob Nachschlüssel existierten; das Fehlen eines Schlüssels könne darauf hinweisen, dass das Fahrzeug auf andere Weise als durch Diebstahl verschwunden sei. Das Verschulden des Klägers sei schon deshalb nicht gering, weil er gegen den ausdrücklichen Rat der Versicherungsmaklerin gehandelt und auch sonst keinen Kontakt zur Beklagten gesucht habe. Die Beklagte habe den Kläger schließlich nicht nach Treu und Glauben über die möglichen Folgen eines Verstoßes gegen die ihm erteilte Weisung belehren müssen. Eine Belehrung durch den Versicherer müsse nicht für alle denkbaren Obliegenheitsverstöße erfolgen, sondern lediglich im Zusammenhang mit der Verletzung von Aufklärungsobliegenheiten durch unwahre oder unvollständige Angaben im Schadensanzeigeformular. Wegen dieser Frage hat das Berufungsgericht die Revision zugelassen.

II. Das hält der rechtlichen Nachprüfung im Ergebnis stand. Allerdings kommt es auf die Frage, die dem Berufungsgericht Anlass zur Zulassung der Revision gegeben hat, nicht an; dennoch war der Senat an die Zulassung gebunden (§ 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO).

1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger eine nach dem Versicherungsvertrag bestehende Obliegenheit verletzt hat. Er ist nach § 7 I (2) S. 3 AKB verpflichtet, alles zu tun, was zur Aufklärung des Tatbestandes und zur Minderung des Schadens dienlich sein kann. Der Versicherer kann nach Eintritt des Versicherungsfalls verlangen, dass der Versicherungsnehmer jede Auskunft erteilt, die zur Feststellung des Versicherungsfalles oder des Umfangs der Leistungspflicht erforderlich ist. Der Versicherungsnehmer muss allerdings nicht unaufgefordert ("spontan") durch Auskunftserteilung zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen und den Versicherer von sich aus über alle für Grund und Höhe des Entschädigungsanspruchs wesentlichen Umstände in Kenntnis setzen. Er darf abwarten, bis der Versicherer an ihn herantritt und die Informationen anfordert, die er zur Feststellung des Versicherungsfalles und des Umfangs seiner Leistungspflicht benötigt (vgl. BGH, Urt. v. 11.6.1976 - IV ZR 84/75, VersR 1976, 821, unter III 1 zu § 13 AFB). Eine solche Aufforderung liegt in dem Schreiben der Beklagten v. 6.11.2000. Sie hat dem Kläger u.a. aufgegeben, ihr die Fahrzeugschlüssel zur Verfügung zu stellen. Darin lag eine an den Kläger gerichtete, ihrem Inhalt nach unmissverständliche Weisung i.S.d. § 7 I (2) S. 4 AKB, durch eine bestimmte Handlung - die Übersendung der Schlüssel - an der Aufklärung des Tatbestandes mitzuwirken.

2. Das Berufungsgericht ist weiter rechtsfehlerfrei von einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung ausgegangen. Dem Kläger waren die sich aus § 7 I (2) S. 3 und 4 AKB ergebenen Verhaltensnormen bekannt. Ihr Vorhandensein ist ihm spätestens durch die Hinweise der Versicherungsmaklerin, er sei zur Herausgabe der Schlüssel verpflichtet, klar vor Augen geführt worden; dennoch hat er sich der Aufforderung der Beklagten widersetzt.

Der Kläger, der die nach § 6 Abs. 3 VVG bestehende Vermutung des Vorsatzes zu widerlegen hat (BGH, Urt. v. 21.4.1993 - IV ZR 34/92, MDR 1993, 957 = VersR 1993, 828, unter 2c; v. 2.6.1993 - IV ZR 72/92, MDR 1993, 737 = VersR 1993, 960, unter I 2; v. 5.12.2001 - IV ZR 225/00, BGHReport 2002, 226 = VersR 2002, 173, unter 2a), kann sich nicht auf einen diesen ausschließenden Rechtsirrtum berufen. Sein von ihm eingenommener Rechtsstandpunkt - Herausgabe der Schlüssel nur Zug um Zug gegen die Anerkennung der Leistungspflicht durch die Beklagte - musste sich aus seiner eigenen Sicht als unhaltbar erweisen. Denn er konnte dem zeitnah zur telefonischen Schadensmeldung v. 2.11.2000 verfassten Schreiben der Beklagten v. 6.11.2000 unzweifelhaft entnehmen, dass die Beklagte die Fahrzeugschlüssel - und zwar "vorab postwendend" - benötigte, um Feststellungen zum Eintritt des von ihm behaupteten Versicherungsfalles zu treffen, und nicht etwa erst zur Abwicklung eines Eigentumsüberganges an dem zum damaligen Zeitpunkt noch nicht wieder aufgefundenen Fahrzeug gem. § 13 (7) S. 2 AKB. Dass aber die Aushändigung von Beweismitteln, die erst der Feststellung des Versicherungsfalles dienen sollen, nicht von einer Leistungszusage durch den Versicherer abhängig gemacht werden kann, muss jedem verständigen Versicherungsnehmer ohne weiteres einleuchten; das gilt umso mehr angesichts der Hinweise der Versicherungsmaklerin, der Kläger sei zur Übersendung der Schlüssel an die Beklagte verpflichtet.

3. Nach § 7 V (4) AKB i.V.m. § 6 Abs. 3 VVG ist die Beklagte bei vorsätzlicher Obliegenheitsverletzung dem Versicherungsnehmer gegenüber leistungsfrei. In diesem Zusammenhang kommt es auf die vom Berufungsgericht herangezogene "Relevanzrechtsprechung" des Senats nicht an. Danach kann sich der Versicherer zwar auf die vereinbarte Leistungsfreiheit dann nicht berufen, wenn der Obliegenheitsverstoß generell ungeeignet war, die Interessen des Versicherers ernsthaft zu gefährden, oder den Versicherungsnehmer subjektiv kein schweres Verschulden trifft (BGH, Urt. v. 21.4.1993 - IV ZR 33/92, MDR 1993, 617 = VersR 1993, 830, unter II 3), wobei diese Grundsätze auch auf die Fahrzeugversicherung Anwendung finden (BGH, Urt. v. 20.12.1972 - IV ZR 57/71, VersR 1973, 174, unter VI 1; v. 28.5.1975 - IV ZR 112/73, bei juris abrufbar, unter III; v. 21.1.1998 - IV ZR 10/97, VersR 1998, 447, unter 2b). Das Berufungsgericht hat jedoch übersehen, dass die Relevanzrechtsprechung unter der weiteren Voraussetzung steht, dass die Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers folgenlos geblieben ist, dem Versicherer also bei der Feststellung des Versicherungsfalles oder des Schadensumfanges keine Nachteile entstanden sind. Die Folgenlosigkeit ist vom Versicherungsnehmer darzulegen und zu beweisen (BGH, Urt. v. 21.4.1993 - IV ZR 33/92, MDR 1993, 617 = VersR 1993, 830, unter II 3). Dazu hat der Kläger weder vorgetragen noch ist eine Folgenlosigkeit sonst ersichtlich.

Durch seine Weigerung, die Schlüssel für das - später wieder aufgefundene - Fahrzeug zur Verfügung zu stellen, hat der Kläger die Beklagte dauerhaft gehindert, die Voraussetzungen des von ihm angezeigten Versicherungsfalles zu prüfen. Wie das Berufungsgericht zutreffend festgestellt hat, lassen sich durch eine sachverständige Untersuchung der Schlüssel Erkenntnisse darüber gewinnen, ob Kopierspuren vorhanden sind, was auf das Fertigen von Nachschlüsseln deuten würde. Das Fehlen eines Schlüssels kann Hinweise darauf geben, dass dieser einem Dritten zur Verfügung gestellt worden ist, damit dieser das Fahrzeug - zur Vortäuschung eines Diebstahls - von seinem Standort verbringt. Gerade Letzteres erklärt die Aufforderung der Beklagten, ihr die (kompletten) Fahrzeugschlüssel "postwendend" zu übersenden, um dem Kläger keine Gelegenheit zu geben, sich die Schlüssel von einem etwaigen Dritten wiederzubeschaffen und sie anschließend der Beklagten auszuhändigen. Die der Beklagten durch das Vorenthalten der Schlüssel entstandenen Nachteile lassen sich angesichts des Zeitablaufs nicht mehr beheben. Die Parteien streiten nach wie vor über das Vorliegen eines Versicherungsfalles; Feststellungen, ob ihre Einstandspflicht gegeben ist, kann die Beklagte auf Grund der Obliegenheitsverletzung des Klägers zuverlässig nicht mehr treffen.

Da die Obliegenheitsverletzung mithin nicht folgenlos geblieben ist, hätte sich das Berufungsgericht nicht mehr damit zu befassen brauchen, ob die Leistungsfreiheit der Beklagten weiter davon abhängt, den Kläger ausdrücklich und unmissverständlich über die Rechtsfolgen seiner Obliegenheitsverletzung belehrt zu haben. Eine Klärung der Frage, inwieweit sich die Rechtsprechung zur folgenlosen Verletzung von Auskunfts- und Aufklärungsobliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalles (vgl. BGHZ 48, 7 [9]; BGH v. 21.1.1998 - IV ZR 10/97, VersR 1998, 447, unter 2c) auf den hier gegebenen Verstoß gegen eine seitens des Versicherers erteilte Weisung übertragen lässt, ist nicht erforderlich; einer Zulassung der Revision hätte es unter diesem Gesichtspunkt nicht bedurft.

4. Ebenso kann auf sich beruhen, ob dem Recht des Versicherers, sich auf Leistungsfreiheit zu berufen, im Allgemeinen oder im Einzelfall entgegenstehen kann, dass er wegen einer unvollständigen Auskunft oder wegen einer nicht befolgten Weisung keine Rückfrage beim Versicherungsnehmer gehalten hat (§ 242 BGB). Denn jedenfalls hier musste die Beklagte beim Kläger nicht nachfragen, weshalb die Übersendung der "vorab postwendend" angeforderten Schlüssel unterblieb.

Der Kläger ist einer von der Beklagten klar und unmissverständlich formulierten Weisung nicht nachgekommen. Er hat die Weisung nicht etwa versehentlich nicht beachtet, sondern sich ihr bewusst und hartnäckig verweigert. Unstreitig hat die Versicherungsmaklerin bei ihm mehrfach schriftlich und fernmündlich die Herausgabe der Schlüssel angemahnt. Da sie nach seinen Behauptungen von der Beklagten mit der Abwicklung des Schadenfalles beauftragt war, hat sich der Kläger aus seiner Sicht, auf die es an dieser Stelle ankommt, von der für den Versicherer handelnden Vertreterin aufgefordert gesehen, die Schlüssel herauszugeben. Dann aber gilt nichts Anderes, als wenn ein Versicherungsnehmer beharrlich an falschen Angaben in seinem Antragsformular festhält, obwohl ihn der Versicherer wiederholt auf die Bedenken gegen seine Angaben aufmerksam gemacht hat (vgl. BGH, Urt. v. 12.3.1976 - IV ZR 79/73, VersR 1976, 383, unter II 2). Denn nur der schutzwürdige Versicherungsnehmer soll vor den Folgen einer Obliegenheitsverletzung und einem unerwarteten Verlust seines Versicherungsanspruchs bewahrt werden. Für ein solches Schutzbedürfnis ist von vornherein kein Raum, wenn mehrfache Aufforderungen, die erteilte Weisung zu befolgen, ihn nicht dazu veranlassen können, seiner vertraglichen Obliegenheit doch noch nachzukommen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1205646

BGHR 2004, 1475

NJW-RR 2004, 1395

ZAP 2004, 1151

DAR 2004, 582

MDR 2004, 1236

NZV 2004, 624

VersR 2004, 1117

ZfS 2004, 462

IVH 2004, 208

RdW 2004, 656

JWO-VerbrR 2004, 267

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge