Entscheidungsstichwort (Thema)

Bußgeldverfahren. Geldbuße. Fahrverbot. Regelfahrverbot. Rechtsbeschwerde. Sachrüge. Urteilsaufhebung. Rettungsgasse. frei. Tatbestand. außerorts. Außerortsstraße. innerorts. innerstädtisch. Fahrstreifen. Seitenstreifen. Schrittgeschwindigkeit. Stillstand. Durchfahrt. Verkehrsunfall. Polizeifahrzeug. Pannenfahrzeug. Hilfsfahrzeug. Rettungskraft. Bundesstraße. Ausbauzustand. Autobahn. autobahnähnlich. Blinklicht. Einsatzhorn. Bestimmtheitsgrundsatz. Analogie. Analogieverbot. Rechtsfortbildung. Auslegung. Normauslegung. Interpretation. teleologisch. Gesetzeslücke. planwidrig. Sinn. Sinngrenze. Verkehrszeichen. Verordnung. Wortlaut. Gesetzeswortlaut. Wortsinn. Normzweck

 

Leitsatz (amtlich)

Es überschreitet die Grenzen zulässiger Auslegung, entgegen dem Wortlaut des § 11 Abs. 2 StVO die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse auf einer autobahnähnlich ausgebauten innerörtlichen Straße anzunehmen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 2; StVO § 11 Abs. 2, §§ 18, 38 Abs. 1 S. 2, § 49 Abs. 1 Nr. 11, Abs. 3 Nr. 3; StVG § 25 Abs. 1 S. 1; StVO Anl. 3 Zeichen 330.1; StVG § 25 Abs. 2a; OWiG §§ 3, 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, Abs. 6, § 80a Abs. 1; StPO § 353

 

Verfahrensgang

AG Augsburg (Entscheidung vom 25.05.2023)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 25. Mai 2023 mit Ausnahme der Feststellungen zur Fahrereigenschaft aufgehoben.

  • II.

    Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Augsburg zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen mit Urteil vom 25.05.2023 wegen der fahrlässigen Ordnungswidrigkeit, auf einer Autobahn oder Außerortsstraße keine vorschriftsmäßige Gasse zur Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen gebildet zu haben, begangen am 16.01.2023 auf einer Bundesstraße im Stadtgebiet A., zu einer Geldbuße von 240 Euro verurteilt und ein mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer von einem Monat verhängt. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts. Er beanstandet insbesondere, dass innerorts keine Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse bestehe und der Betroffene alles Notwendige unternommen habe, um eine vorschriftsmäßige Rettungsgasse zu bilden. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Antrag vom 16.08.2023 beantragt, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 25.05.2023 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Dazu hat sich die Verteidigung mit Gegenerklärung vom 14.09.2023 geäußert.

II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist begründet.

1. Die Urteilsfeststellungen tragen die Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen §§ 11 Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 11 StVO nicht, da auch bei Befahren einer autobahnähnlich ausgebauten Straße innerorts der Tatbestand nicht erfüllt ist.

a) Maßgebend für die Auslegung einer Norm ist in erster Linie der Wortlaut (vgl. BGH, Urt. v. 31.10.1986 - 2 StR 33/86 = BGHSt 34, 211 = NJW 1987, 1280 = NStZ 1987, 323 = StV 1987, 151), wobei der Wortsinn einerseits die Grenze der Auslegung bestimmt, andererseits aber bei der Auslegung zwischen den möglichen Wortbedeutungen bis zur "äußersten sprachlichen Sinngrenze" gewählt werden darf, jenseits dieser beginnt der Bereich der Analogie (vgl. KK-OWiG/Rogall 5. Aufl. § 3 Rn. 76, 53 m.w.N.). Eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfortbildung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, ausgehend von einer teleologischen Interpretation, den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird. Richterliche Rechtsfortbildung überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft (BVerfG NJW 2012, 669, 671 m.w.N.). Dies gilt für die Auslegung von Verordnungen in gleicher Weise (vgl. BayObLG, Beschl. v. 10.1.2022 - 201 ObOWi 1507/21, BeckRS 2022, 149 = NStZ 2022, 495 = DAR 2022, 156).

b) Die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse gilt dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 2 StVO nach nicht für den innerstädtischen Verkehr auf einer Bundesstraße (vgl. auch LG Hamburg, Urt. v. 18.02.2022 - 306 O 471/20 = BeckRS 2022, 3593). Der autobahnähnliche Ausbau ändert daran nichts.

§ 11 Abs. 2 StVO benennt lediglich Autobahnen sowie Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung. Eine Autobahn kann zwar auch innerstädtisch verlaufen, dies ist hier aber nicht festgestellt. Die Eigenschaft einer Straße als Autobahn wird nicht durch begriffliche Merkm...

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