Rz. 470

Bei gegenseitigen Testamenten (und Erbverträgen) ist im Gegensatz zu den Anfechtungsrechten nach §§ 119 ff. BGB auch eine Anfechtung wegen Motivirrtums (§ 2078 Abs. 2 BGB) und sogar hinsichtlich sog. unbewusster Vorstellungen nach den dafür geltenden Sonderregelungen der §§ 20782083 BGB möglich.[557] Beim Anfechtungsverzicht im gegenseitigen Testament geht es um die Frage des Ausschlusses der Beseitigung der Bindungswirkung durch Selbstanfechtung eines Ehegatten[558] und um das Anfechtungsrecht Dritter. Die eigene wechselbezügliche Verfügung, die erst nach dem Tod des Erstversterbenden bindend geworden ist, kann nach h.M.[559] in analoger Anwendung der §§ 2281 ff., 2078, 2079 BGB selbst angefochten werden.[560] Die Anfechtungsfrist beträgt ein Jahr.

 

Rz. 471

In erster Linie ist die Anfechtung wegen Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten gem. § 2079 BGB von praktischer Bedeutung.[561] Danach ist eine Anfechtung möglich, wenn ein Pflichtteilsberechtigter übergangen wurde bzw. neu hinzutritt. War dem Erblasser der Pflichtteilsberechtigte im Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung nicht bekannt oder bewusst bzw. entstand die Pflichtteilsberechtigung aufgrund Heirat,[562] liegt hierin ein besonderer Motivirrtum,[563] der zur Anfechtung berechtigt. Für den Fall, dass der überlebende Ehegatte eine neue Ehe eingeht, kann er seine getroffenen Verfügungen anfechten. Die Folgen der Anfechtung sind jedoch umstritten. Ein Teil der Rechtsprechung und Literatur vertritt die Auffassung, dass die Anfechtung grundsätzlich zur Nichtigkeit des gesamten Testaments bzw. Erbvertrags führt.[564] Dies wird teilweise mit dem Wortlaut begründet,[565] teilweise auch damit, dass § 2079 BGB die Verwirklichung des Erblasserwillens bezwecke, nicht hingegen den Schutz des Pflichtteilsberechtigten.[566] Im Falle jedoch, dass gem. S. 2 der Regelung positiv festgestellt werden kann, dass der Erblasser einzelne Verfügungen auch dann getroffen hätte, wenn er von der Pflichtteilsberechtigung Kenntnis gehabt hätte, führt dies dazu, dass einzelne Verfügungen wirksam bleiben.[567] Nach der Gegenansicht ist das Testament bzw. der Erbvertrag nur insoweit nichtig, als der Pflichtteilsberechtigte von seinem gesetzlichen Erbrecht ausgeschlossen wurde.[568] Gegen die Ansicht, eine Nichtigkeit des gesamten Testaments anzunehmen, wenden sich auch andere Auffassungen im Schrifttum. Diese gehen von unterschiedlichen Begründungsansätzen aus. Nach Ansicht von Leipold[569] müsse zwischen einer Anfechtung nach dem Erbfall und einer Anfechtung durch den Erblasser selbst unterschieden werden. Liegt eine Anfechtung durch den Erblasser vor, soll sich die Anfechtung in der Regel auf das gesamte Testament oder den gesamten Erbvertrag beziehen. Handele es sich um eine Anfechtung nach dem Erbfall, soll das Testament nur in dem Umfang nichtig sein, als das Testament dem gesetzlichen Erbrecht des Pflichtteilsberechtigten entgegenstehe.

 

Rz. 472

Das Selbstanfechtungsrecht des Ehegatten und das Anfechtungsrecht Dritter kann aber in der gegenseitigen Verfügung von Todes wegen ausgeschlossen werden.[570] Es handelt sich hierbei um einen Vorausverzicht, der auch gegenüber einem Dritten gilt, der zur Anfechtung berechtigt ist. Es ist teilweise aber auch ein genereller Verzicht auf das Anfechtungsrecht möglich.[571] Ein Anfechtungsverzicht kann sich auch im Wege der Auslegung ergeben.[572]

 

Rz. 473

Ein Ausschluss der Anfechtungsmöglichkeit wegen Hinzutretens weiterer Pflichtteilsberechtigter gem. § 2079 BGB sollte in jeder Verfügung von Todes wegen enthalten sein.

[557] Nieder/Kössinger, § 24 Rn 13 ff.
[558] BGHZ 37, 333; vgl. zur Selbstanfechtung beim gemeinschaftlichen Testament auch Iversen, ZEV 2004, 55.
[559] Nieder/Kössinger, § 24 Rn 24 ff.
[560] Vgl. zur Anwendbarkeit des § 2079 BGB und zur Frage der Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten OLG Düsseldorf MittBayNot 1999, 296.
[561] Rohlfing/Mittenzwei, ZEV 2003, 49.
[562] BayObLG FamRZ 1983, 952.
[563] Nieder/Kössinger, § 24 Rn 12.
[564] OLG Schleswig ZEV 2016, 263 m. abl. Anm. Leipold; BayObLG NJW-RR 2005, 91; BayObLG FamRZ 1985, 534; BayObLG FamRZ 1975, 6, 9; BayObLG FamRZ 1980, 42, 49; BayObLG FamRZ 1983, 952, 954; OLG Brandenburg FamRZ 1998, 59; OLG Frankfurt NJW-RR 1995, 1350; OLG Hamburg FamRZ 1990, 910.
[565] BayObLGZ 1971, 147, 151.
[566] Reinicke, NJW 1971, 1962.
[567] OLG Düsseldorf FamRZ 1999, 122, 123.
[568] OLG Köln NJW 1956, 1522; LG Darmstadt NJW-RR 1988, 262; Soergel/Loritz, § 2079 Rn 9; Jung, AcP 194, 42, 77 ff.
[569] MüKo/Leipold, § 2079 Rn 27 ff.
[570] Vgl. zur Selbstanfechtung nach Eintritt des ersten Erbfalls OLG Oldenburg OLG-Report 1999, 23.

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