Rz. 91

Der Grundsatz, dass später eintretende Umstände die Wirksamkeit einer Kündigung grundsätzlich nicht mehr beeinflussen können, gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber seine Kündigungsentscheidung auf eine aus seiner Sicht im Zeitpunkt der Kündigungserklärung zutreffende Prognose stützt, die sich nachträglich als unrichtig erweist. Die Kündigung wird auch dann nicht sozialwidrig (vgl. bereits Rdn 52). Allerdings kann der Arbeitgeber trotz der wirksamen Kündigung verpflichtet sein, den Arbeitnehmer wieder einzustellen.[200] Der Arbeitnehmer hat einen Wiedereinstellungsanspruch, wenn zwischen dem Zugang der betriebsbedingten Kündigung und der Kündigungsfrist der bisherige Arbeitsplatz des gekündigten Arbeitnehmers doch erhalten bleibt[201] oder eine unvorhergesehene Beschäftigungsmöglichkeit für den gekündigten Arbeitnehmer auf einem freien Arbeitsplatz entsteht.[202] Ein Wiedereinstellungsanspruch wird auch bei einer endgültig beschlossenen Betriebs(teil-)stilllegung angenommen, die wegen einer nach Ausspruch der Kündigung vereinbarten Betriebsübernahme nicht vollzogen wird.[203] Er kommt allerdings grundsätzlich nach Ablauf der Kündigungsfrist nicht mehr in Betracht (ausführlich dazu siehe § 10 Rdn 62).[204] Die Maßstäbe zum Wiedereinstellungsanspruch finden grundsätzlich keine Anwendung bei sog. Kleinbetrieben i.S.v. § 23 Abs. 1 S. 2–4 KSchG.[205] Von der Rechtsprechung offengelassen wurde, ob sich in Kleinbetrieben ausnahmsweise aus § 242 BGB ein Wiedereinstellungsanspruch ergibt, wenn bei der Auswahl der weiter zu beschäftigenden Arbeitnehmer ein Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme nicht gewahrt wurde.[206] Darüber hinaus besteht kein Anspruch auf Wiedereinstellung des Arbeitnehmers gegen den Betriebserwerber nach einer Betriebsveräußerung im Insolvenzverfahren.[207]

 

Rz. 92

Die gegenüber dem Zeitpunkt der Kündigung veränderte Situation kann eine Hinweispflicht des Arbeitgebers begründen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die fehlerhafte Prognose seinem Verantwortungsbereich zuzurechnen ist. Besetzt der Arbeitgeber gleichwohl den Arbeitsplatz anderweitig, kann er gezwungen sein, den nachträglich eingestellten Arbeitnehmer zu entlassen, um den Wiedereinstellungsanspruch des zuvor rechtswirksam gekündigten Arbeitnehmers zu erfüllen.[208] Der Arbeitnehmeranwalt sollte in einem Schreiben an den Arbeitgeber derartige Informationen erbitten (siehe § 43 Rdn 14) und sich beim Betriebsrat nach einer etwaigen Änderung der Verhältnisse erkundigen.

[200] BAG v. 27.2.1997, EzA § 1 KSchG Wiedereinstellungsanspruch Nr. 1; BAG v. 28.6.2000, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung; BAG v. 15.12.2011, NZA-RR 2013, 179.
[201] BAG v. 28.6.2000, NZA 2000, 1097; BAG v. 16.5.2007, AP Nr. 14 zu § 1 KSchG 1969.
[204] BAG v. 6.8.1997, EzA § 1 KSchG Wiedereinstellungsanspruch Nr. 2; BAG v. 4.12.1997, EzA § 1 KSchG Wiedereinstellungsanspruch Nr. 3; vgl. auch BAG v. 12.11.1998, NJW 1999, 1132; BAG v. 13.11.1997, NZA 1998, 251; im Einzelnen Matthes, NZA 2000, 1073.
[206] Bejahend: Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG Rn 744, jedenfalls für langjährig Beschäftigte, da deren durch langjährige Mitarbeit besonders erdientes Vertrauen in den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses geschützt werden müsse.
[208] BAG v. 27.2.1997, EzA § 1 KSchG Wiedereinstellungsanspruch Nr. 1; Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG Rn 839; a.A. Boewer, NZA 1999, 1177, 1181, nur Schadensersatzanspruch in Geld.

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