Rz. 319

Die Frage, ob eine beim Erwerber bestehende Einzelbetriebsvereinbarung der normativen Weitergeltung der Veräußererbetriebsvereinbarung entgegensteht bzw. eine solche die Veräußererbetriebsvereinbarung ablöst, stellt sich nach der h.M. nicht. Die Verdrängung einer Veräußererbetriebsvereinbarung durch eine beim Erwerber bestehende Einzelbetriebsvereinbarung käme nur in Fällen der Eingliederung des übertragenen Betriebs(teils) in einen Betrieb des Erwerbers in Betracht. Nach der Rechtsprechung dürfte in diesem Fall bereits ein die normative Weitergeltung ausschließender Identitätsverlust vorliegen. Auch die wohl h.M. nimmt bei Eingliederungen nach einem Betriebs(teil)übergang zumindest dann, wenn im aufnehmenden Betrieb des Erwerbers ein Betriebsrat ­besteht, mangels Übergangsmandats keine normative Weitergeltung der Veräußererbetriebsvereinbarungen an.[366] Hält man hingegen eine normative Weitergeltung der Veräußererbetriebsvereinbarungen auch bei Eingliederung des übertragenen Betriebs(teils) für denkbar, dürfte dasselbe gelten wie bei unternehmensinternen Eingliederungen: Besteht im aufnehmenden Betrieb des Erwerbers eine Einzelbetriebsvereinbarung mit demselben Regelungsgegenstand, verdrängt diese die Veräußererbetriebsvereinbarung, so dass nur die Betriebsvereinbarung des Erwerbers gilt und die Wirkung der Betriebsvereinbarung des Veräußerers endet.

 

Rz. 320

Die normative Weitergeltung einer Betriebsvereinbarung des Veräußerers kann jedoch ausscheiden, wenn beim Erwerber zu demselben Regelungsgegenstand bereits eine Gesamt- oder Konzernbetriebsvereinbarung in Kraft ist.

 

Rz. 321

Voraussetzung ist allerdings, dass der Gesamtbetriebsrat bzw. der Konzernbetriebsrat beim Erwerber die Gesamt- bzw. Konzernbetriebsvereinbarung in originärer Zuständigkeit gem. § 50 Abs. 1 BetrVG bzw. § 58 Abs. 1 BetrVG abgeschlossen hat (nicht nur im Auftrag der Betriebsräte bzw. des Gesamtbetriebsrats gem. § 50 Abs. 2 BetrVG bzw. § 58 Abs. 2 BetrVG) und dass der übertragene Betrieb/Betriebsteil in den Geltungsbereich der Gesamt- oder Konzernbetriebsvereinbarung fällt.[367] Das ergibt sich aus der Wertung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB sowie aus der Zuständigkeitsregelung der §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 BetrVG.

 

Rz. 322

Dabei gilt für das Verhältnis zweier Betriebsvereinbarungen nach der ständigen Rechtsprechung des BAG nicht das Günstigkeits- sondern das Ablöseprinzip (Zeitkollisionsregel). Das bedeutet, dass die beim Erwerber geltende Betriebsvereinbarung die denselben Regelungsgegenstand betreffende Veräußererbetriebsvereinbarung ablöst, und zwar unabhängig davon, ob sie für die übergehenden Beschäftigten günstiger oder ungünstiger ist.

 

Rz. 323

Ob sich auch in Bezug auf die Ablösung von (dem Grundsatz nach) normativ weitergeltenden Betriebsvereinbarungen aus der "Scattolon“-Entscheidung des EuGH[368] Einschränkungen ergeben, ob insbesondere jegliche verschlechternde Ablösung gegen Unionsrecht verstoßen würde, wird von der Rechtsprechung noch geklärt werden müssen (siehe zur "Scattolon"-Entscheidung genauer Rdn 359 ff.)."

 

Rz. 324

 

Praxistipp

Betriebsräte sollten bei Abschluss neuer Betriebsvereinbarungen sorgfältig prüfen, ob sie hierdurch möglicherweise günstigere Betriebsvereinbarungen aus vorangegangenen Betriebs(teil)übergängen verschlechternd ablösen. Dabei sollte auch die Möglichkeit der Einschränkung des Geltungsbereichs der neuen Betriebsvereinbarung in Betracht gezogen werden.

[366] Siehe Rdn 301 ff.
[367] BAG v. 27.6.1985 – 6 AZR 392/81, Rn 29; BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00; WHSS/ Hohenstatt, S. 559; Kleinebrink, ArbRB 2004, 184, 185; GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rn 439; GK-BetrVG/Kreutz/Franzen, § 50 Rn 84, 87.
[368] EuGH v. 6.9.2011 – C-108/10 ("Scattolon").

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