Rz. 136

Zum Nachweis der Widerrechtlichkeit im Sinne des Art. 3 HKÜ kann von dem Antragsteller die Vorlage einer Bescheinigung der Behörden des Herkunftsstaates verlangt werden, Art. 15 HKÜ.[411] Eine Verpflichtung des HKÜ-Gerichts hierzu besteht indes nicht.[412] Stets sollte hierbei die Verfahrensdauer im Blick behalten werden.[413] Daher sollte zunächst einmal geprüft werden, ob es einer Widerrechtlichkeitsbescheinigung[414] überhaupt bedarf, ob also die Frage nicht schon unter Heranziehung der allgemein zugänglichen rechtsvergleichenden Literatur und Würdigung etwa im Ursprungsstaat ergangener Sorgerechtsentscheidungen gelöst werden kann, wovon der – verfassungsrechtlich unbedenkliche[415] – Art. 14 HKÜ ausgeht.

Dies gilt umso mehr, als der Widerrechtlichkeitsbescheinigung keine Bindungswirkung zukommt, so dass deutsche Gerichte die Sorgerechtslage abweichend von einer ihnen vorgelegten oder eingeholten Widerrechtlichkeitsbescheinigung ausländischer Behörden beurteilen dürfen.[416] Unterliegt die Bescheinigung allerdings keinen ernsthaften Bedenken des HKÜ-Gerichts, so kann sie ohne weiteres besonderes Verfahren für die Beurteilung der Widerrechtlichkeit herangezogen werden.[417]

Wenn das Gericht hiernach zu der Überzeugung gelangt, dass es eine Widerrechtlichkeitsbescheinigung[418] benötigt, sollte es zunächst bei der deutschen Zentralen Behörde nachfragen, ob dort Erkenntnisse hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeit der Ausstellung einer Widerrechtlichkeitsbescheinigung[419] und bejahendenfalls deren durchschnittlicher Dauer im Ursprungsstaat vorliegen. Denn jene führt diesbezüglich eine Liste.

Erstellen die Gerichte des Ursprungsstaats grundsätzlich Widerrechtlichkeitsbescheinigungen, so kann das HKÜ-Gericht zu Beschleunigungszwecken neben der Zentralen Behörde auch die EJN- und HKÜ-Verbindungsrichter) einschalten (siehe dazu die Links unter Rdn 9), um die Erstellung der Widerrechtlichkeitsbescheinigung zu beschleunigen oder die ausländische Rechtslage auf diesem Weg zu erfragen.

 

Rz. 137

Die Rechtsgrundlagen und Formen der Widerrechtlichkeitsbescheinigung sind gemäß Art. 15 HKÜ dem nationalen Recht des Herkunftsstaates unterworfen.[420] In HKÜ-Rückführungsverfahren, die vor einem ausländischen Gericht geführt werden, sind die deutschen Gerichte nach Art. 15 HKÜ, § 41 IntFamRVG für die Erteilung einer Widerrechtlichkeitsbescheinigung für das HKÜ-Gericht im Ursprungsstaat international zuständig.[421] Örtlich zuständig ist das Gericht, in dessen Bezirk das Kind seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Bescheinigung kann auch ohne genaue Kenntnis der Rechtsvorschriften des Landes, in das die Entführung erfolgt ist, ausgestellt werden.[422]

Allerdings besteht für den Antrag auf Erteilung einer Widerrechtlichkeitsbescheinigung erst ab Anhängigkeit eines HKÜ-Verfahrens ein Rechtsschutzbedürfnis.[423] Dieses entfällt freilich, sobald der Rückführungsantrag vom Zufluchtsstaat rechtskräftig abgelehnt worden ist.[424]

In Deutschland werden Bescheinigungen über die Widerrechtlichkeit von den Familiengerichten durch begründeten Beschluss erteilt, § 41 IntFamRVG. Diese Entscheidung kann nach § 40 IntFamRVG mit der Beschwerde – Frist (einschließlich Begründung, siehe dazu Rdn 142!) ausnahmsweise: zwei Wochen – angefochten werden.[425]

Problematisch ist, dass bislang insoweit eine Zuständigkeitskonzentration gesetzlich nicht vorgesehen ist. Dabei sind HKÜ-Rückführungsverfahren wegen der Sechswochenfrist des Art. 11 Abs. 2 HKÜ bzw. des Art. 11 Abs. 3 S. 2 Brüssel IIa-VO sehr eilbedürftig. Dieser Eilbedürftigkeit sind sich diejenigen deutschen Gerichte, die wegen der Zuständigkeitskonzentration in §§ 1012 IntFamRVG selbst keine HKÜ-Rückführungsverfahren haben, oft nicht bewusst. Der EuGHMR hat im Fall Deak ./. Rumänien und das Vereinigte Königreich den rumänischen Staat verurteilt, weil die Ausstellung einer Widerrechtlichkeitsbescheinigung zu lange gedauert hatte. Grund dafür, keine Zuständigkeitskonzentration vorzusehen, war vormals die Annahme des Gesetzgebers, dass es oft eine deutsche Sorgerechtsentscheidung gebe, die ja vom allgemein zuständigen Familiengericht erlassen worden sei. Dieses Gericht sei dann auch am besten in der Lage, die Widerrechtlichkeitsbescheinigung auszustellen. Diese Erwägungen sind – jedenfalls heute – nicht mehr ausreichend, um die Vorteile der Zuständigkeitskonzentration aufzuwiegen. Denn in den meisten praktisch vorkommenden HKÜ-Rückführungsfällen beruht die Sorgerechtslage nicht auf einer gerichtlichen Entscheidung, sondern folgt unmittelbar aus dem Gesetz. Dies gilt gleichermaßen für die alleinige wie für die gemeinsame Sorge. Außerdem ist die Bevölkerung Deutschlands zunehmend mobil, so dass der Wohnortnähe des Familiengerichts für die hier diskutierte Frage weniger Bedeutung hat als früher, zumal hier rechtliche und keine tatsächlichen Tatsachen zu bescheinigen sind. Zwar sind die Konzentrationsgerichte wiederum gehalten, vor Ausstellung der Bescheinigung beim für den gewöh...

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