Rz. 1

Mit der stetigen Zunahme binationaler Ehen und Beziehungen ist eine ständig wachsende Zahl grenzüberschreitender familienrechtlicher Fälle verbunden. Dies betrifft auch häufig kindschaftsrechtliche Streitigkeiten.[1] Von der – in Sorge- und Umgangssachen einschlägigen – Brüssel IIa-Verordnung[2] sind rund 16 % der Ehepaare in der EU betroffen. Allein in Deutschland leben rund 30.000 binationale Paare in Scheidung, EU-weit sind es jährlich rund 140.000.[3] In der EU werden jedes Jahr rund 1.800 Fälle registriert, in denen ein Elternteil ein gemeinsamens Kind entführt.[4] In Deutschland leben zudem mittlerweile mehrere Millionen Kinder, bei denen zumindest ein Elternteil nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Hinzu kommt eine – uns zahlenmäßig nicht bekannte, aber große – Gruppe von Familien, die einen Migrationshintergrund haben, nachdem alle oder einige Familienangehörige in der zweiten oder dritten Generation eingebürgert wurden.[5] In den anderen EU-Staaten zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab.[6]

 

Rz. 2

Rechtsanwälte betrachten diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Sie wissen natürlich, dass eine Spezialisierung auf dem Gebiet des Internationalen Familienrechts – oder zumindest der Erwerb vertiefter Kenntnisse – große Marktchancen eröffnet. Dessen unbeschadet birgt indes die Bearbeitung grenzüberschreitender familienrechtlicher Fälle zugleich hohe Haftungsrisiken.[7] Die Rechtsquellen sind zahlreich und oft ungewohnt. Die Fälle sind oft sehr eilbedürftig, so dass unter sehr hohem Zeitdruck gearbeitet werden muss. Oft spielen zudem ausländische Rechtsnormen in den Fall mit hinein. Deshalb wäre es wünschenswert, für Fachanwälte für Familienrecht die Möglichkeit einer Zertifizierung als Spezialist für grenzüberschreitende Familienrechtsfälle zu schaffen.[8]

 

Rz. 3

In diesem Zusammenhang sind folgende in Deutschland geltende bi- und multilateralen Übereinkünfte, die teilweise miteinander konkurrierende Rechtsvorschriften enthalten,[9] zu berücksichtigen:

die seit dem 1.3.2005 anwendbare Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die ­Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (Brüssel IIa-VO),[10]
das Haager Übereinkommen vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ),[11]
das Luxemburger Europäische Übereinkommen vom 20.5.1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses (ESÜ),[12]
das Haager Übereinkommen vom 5.10.1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (MSA),[13]
das Haager Übereinkommen vom 19.10.1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit bezüglich der elterlichen Verantwortung und Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ).[14] Dieses Übereinkommen ist für Deutschland am 1.1.2011 in Kraft getreten und hat weitgehend das MSA abgelöst, außer im Verhältnis zur Türkei; diese ist Vertragsstaat des MSA, aber nicht des KSÜ. Das KSÜ ersetzt also im Verhältnis seiner Vertragsstaaten zueinander das MSA.
das Deutsch-Iranische Niederlassungsabkommen[15] vom 17.2.1929, das gerne übersehen wird, obwohl es in seinem Art. 8 Abs. 3 die Anwendung des iranischen Heimatrechts anordnet, wenn alle Beteiligten ausschließlich die iranische Staatsangehörigkeit haben.
Keine Rolle spielt hingegen die Verordnung (EG) Nr. 606/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.6.2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen. Denn diese – für Deutschland insbesondere für Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz einschlägige Verordnung gilt nach ihrem Art. 2 Abs. 3 nicht für Maßnahmen, die unter die Brüssel IIa-VO fallen.
 

Rz. 4

Die Ausführung der Brüssel IIa-VO, des HKÜ, des KSÜ und des ESÜ wird durch das Internationale Familienrechtsverfahrensgesetz vom 26.1.2005 (IntFamRVG)[16] geregelt.

 

Rz. 5

Hinzuweisen ist auch auf das Europäische Übereinkommen vom 15.5.2003 über den Umgang von und mit Kindern[17] (SEV Nr. 192, Europäisches Umgangsübereinkommen – EUÜ), das allerdings noch nicht in Kraft getreten[18] ist. Dieses ist darauf gerichtet, das grundlegende Recht von Eltern und ihren Kindern auf regelmäßigen Kontakt näher auszugestalten und zu stärken.[19] Es enthält allerdings keine unmittelbar anwendbaren Bestimmungen, sondern beschränkt sich darauf, die Vertragsstaaten völkervertragsrechtlich dazu zu verpflichten, ihr innerstaatliches Recht den Anforderungen des EUÜ anzugleichen. Es ist also in der Praxis nie das EUÜ selbst anzuwenden, sondern es sind die deutschen materiellen und Verfahrensvorschriften heranzuziehen.[20] Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der deutsche Richter Bestimmungen in – wie hier – wirksamem Völkervertragsrecht bei der Auslegung des and...

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