Rz. 102

Wer Inhaber des Sorgerechts ist, beurteilt sich nach dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt unmittelbar vor der Verbringung. Hierbei handelt es sich um eine Gesamtverweisung.[273] Es kommt allein auf das Recht des ersuchenden Staates an, nicht auf das des ersuchten Staates.[274] Deshalb steht es der Rückgabe der Kinder nicht entgegen, wenn dem entführenden Elternteil im ersuchten Staat – der dafür nicht international zuständig ist, Art. 16 HKÜ! – das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen wurde, Art. 17 HKÜ.[275]

 

Rz. 103

Art. 3 HKÜ ist stets einschlägig, sobald ein Elternteil dem anderen die Ausübung eines Mitsorgerechts[276] durch tatsächliche Maßnahmen unmöglich macht.[277] Das Sorge- oder Mitsorgerecht muss im Entführungszeitpunkt bereits bestanden haben.[278]

Eine Verletzung des Sorgerechts ist auch dann anzunehmen, wenn durch den Aufenthaltswechsel des Kindes behördliche, gerichtliche oder private Rechte des anderen Elternteils verletzt werden.[279]

Der die Rückführung verlangende Elternteil muss im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens das Sorgerecht tatsächlich auch ausgeübt haben bzw. hätte es ausüben müssen.[280] Bei einer Trennung der Eltern erfüllt diese Voraussetzung der Elternteil, der formal mindestens über eine Ausreise des Kindes mitentscheiden darf und zu dem Kind gelegentlich Kontakt hat, also sein Umgangsrecht nicht völlig unzureichend wahrnimmt.[281]

 

Rz. 104

In zahlreichen Staaten[282] besteht nach der Trennung oder Scheidung der Eltern die gemeinsame elterliche Sorge fort, wenn kein Elternteil einen Antrag auf Übertragung der Alleinsorge stellt. Grundsätzlich gilt auch bei gemeinsamer elterlicher Sorge, dass der die Rückführung des Kindes beantragende Elternteil im Zeitpunkt des Verbringens das Sorgerecht tatsächlich ausgeübt haben muss. An diese Ausübung des Mitsorgerechts sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen.[283] Die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts muss auch an getrennten Lebensmittelpunkten möglich sein. Dies folgt für Deutschland schon aus § 1687 BGB. Daher übt ein getrennt lebender Elternteil das Sorgerecht in einem dem Art. 3 HKÜ entsprechendem Maße schon dann aus, wenn er sich an den das Sorgerecht betreffenden Entscheidungen beteiligt.[284] Entsprechendes gilt, wenn er das Kind gelegentlich besucht, es anruft, aber einen Aufenthalt im Ausland ablehnt.[285]

 

Rz. 105

Das bloße Innehaben und die Ausübung eines Umgangsrechts reicht jedenfalls nicht aus,[286] zumindest muss der zurückgelassene Elternteil nach seinem Heimatrecht neben dem Umgangsrecht das Recht haben, dem Verbringen des Kindes ins Ausland zu widersprechen. Nur dann hat er ein Sorgerecht im Sinne des Übereinkommens. Während Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b HKÜ die tatsächliche Ausübung des verletzten Sorgerechts als objektive Voraussetzung formuliert, was der zurückgelassene Elternteil im HKÜ-Verfahren darzulegen hat, kann nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. a HKÜ unter anderem die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweisen, dass der andere Elternteil das Sorgerecht tatsächlich gar nicht ausgeübt hat. Dann liegen die Voraussetzungen für eine Rückführungsanordnung nicht vor. Gelingt in dem Verfahren der Nachweis der Ausübung oder Nichtausübung des Sorgerechts nicht, wirkt sich dies also zu Ungunsten des – feststellungsbelasteten – Sorgerechtsverletzers aus.[287]

[273] AG Hamburg IPRax 1992, 390; Staudinger/Pirrung, Vorb zu Art. 19 EGBGB Rn D 27; zur Widerrechtlichkeit bei der Anwendung italienischen Sorgerechts OLG Frankfurt ZKJ 2009, 373.
[274] OLG Rostock FamRZ 2001, 642; LG Augsburg FamRZ 1996, 1033; AG Bielefeld FamRZ 1992, 467; Staudinger/Pirrung, Vorb zu Art. 19 EGBGB Rn D 27; a.A. OLG Düsseldorf FamRZ 1994, 185.
[275] OLG Celle FF 1999, 87.
[276] BVerfG FamRZ 1997, 1269; OLG Dresden FamRZ 2002, 1136 (siehe auch die Anm. der Redaktion zu dieser Entscheidung in FamRZ 2003, 468); OLG Rostock FamRZ 2002, 46 m. abl. Anm. Siehr, IPRax 2002, 199, hierauf wiederum Winkler von Mohrenfels, IPRax 2002, 372; OLG Hamm FamRZ 1999, 948, AG Saarbrücken FamRZ 2003, 398, Anm. Witteborg, IPRax 2005, 330.
[277] Bach/Gildenast, Rn 23 und 25; Staudinger/Pirrung, Vorb zu Art. 19 EGBGB Rn D 33.
[278] OGH Österreich IPRax 1999, 177.
[280] OLG Düsseldorf FamRZ 1994, 181; AG Weilburg NJW-RR 1995, 8.
[281] Hierzu OLG Hamm FamRZ 2004, 1513; zust. Anm. Völker, jurisPR-FamR 14/2004, Anm. 6: Sorgerecht dann nur "leere Hülse".
[282] So wie in Deutschland.
[283] OLG Hamm FamFR 2012, 141; OLG Stuttgart FamRBint 2011, 74; OLG Dresden FamRZ 2002, 1136 (siehe auch die Anm. der Redaktion zu dieser Entscheidung in FamRZ 2003, 468); OLG Rostock FamRZ 2002, 46 m. abl. Anm. Siehr, IPRax 2002, 199, hierauf wiederum Winkler von Mohrenfels, IPRax 2002, 372; FamRZ 2003, 959; OLG Zweibrücken FamRZ 2000, 1607; Bach, FamRZ 1997, 1051; vgl. Schulz, IPRax 2001, 91; Weitzel, DAVorm 2000, 1059.
[285] BVerfG FamRZ 1997, 1269; vgl. OLG Hamm FamFR 2012, 141; OLG Stuttgart FamRBint 20...

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