Rz. 202

Auch bei einem unverschuldeten Versagen[720] der Eltern greift die Schutznorm des § 1666 BGB ein, was durch die Neufassung von § 1666 BGB noch klarer herausgestellt wurde. Typische Beispielsfälle – die Grenzen zur Vernachlässigung können teilweise fließend sein – sind etwa:

schwere Traumatisierung des Elternteils,[721]
psychische Erkrankungen eines Elternteils,[722]
im Einzelfall – je nach den konkreten Auswirkungen auf die Erziehungsfähigkeit – eine massive intellektuelle Minderbegabung,[723]
chaotische häusliche Lebens- und Wohnverhältnisse,[724] im Einzelfall bei weiteren Gefährdungsmomenten auch extrem häufige Trennungen und Wiederversöhnungen der Eltern verbunden mit permanenten Umzügen,[725]
Suchtabhängigkeiten eines Elternteils,[726] insbesondere wenn das Kind sogar mit Betäubungsmittel in direkten Kontakt gelangt ist,[727] nicht aber, wenn das Kind im Haushalt der subs­tituierten Mutter gut versorgt wird,[728]
Duldung des Fehlverhaltens eines Ehepartners[729] oder Lebensgefährten,
mangelnde Förderung[730] in Verbindung mit mangelndem Erziehungsvermögen des einen Elternteils bei nicht zu erwartendem Ausgleich dieser Mängel durch den anderen Elternteil,[731]
andererseits auch überfürsorgliches "Bemuttern", etwa, wenn das Kind von Außeneinflüssen ganz abgeschottet und seelisch völlig abhängig von seinem Elternteil ist mit der Folge von Entwicklungsrückständen oder psychosomatischen Erkrankungen,[732]
Starrsinnigkeit[733] bzw. eine nachhaltig ambivalente Haltung gegenüber einer gebotenen Fremdunterbringung eines Kindes,[734] allerdings sind die §§ 1666, 1666a BGB kein Instrument zur Disziplinierung schwieriger, eher konfrontativer und weniger kooperativer, bloß ungeschickt agierender Eltern,[735]
seelischer Ausnahmezustand des Elternteils, verbunden mit einer Suizidandrohung, von der auch das Kind erfasst sein soll,[736]
Unterlassen heilpädagogischer und psychiatrischer Behandlungen der Kinder folgend aus intensiver Befassung der Eltern mit eigenen Schwierigkeiten.[737]

Auch schwer wiegende Straftaten des Kindes können Ausdruck seiner drohenden Verwahrlosung sein und zum Entzug der elterlichen Sorge führen.[738]

 

Rz. 203

Da das Verschulden der Eltern unerheblich ist, kann auch eine endgültig und hoffnungslos zerbrochene Beziehung der Eltern zu einem 17-jährigen Kind eine vollständige Entziehung der elterlichen Sorge wegen unverschuldeten Versagens der Eltern rechtfertigen.[739] Kann den Eltern weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit angelastet werden, so ist ein Eingriff allerdings auf krasse Ausnahmefälle zu beschränken. Allein auf den Willen des Kindes kann ein Sorgerechtsentzug – allemal im Wege einstweiliger Anordnung – nicht gestützt werden.[740] Der nichtehelichen Mutter kann ein unverschuldetes Versagen nicht deswegen angelastet werden, weil sie auch noch einige Zeit nach der Geburt an ihrer Entscheidung festgehalten hat, das Kind einem ungeeigneten Adoptionsbewerber zu übergeben, wenn sie letztlich von dieser Einschätzung abgerückt und sich zur eigenen Erziehung des Kindes entschlossen hat.

 

Rz. 204

Ein teilweiser Entzug der elterlichen Sorge und die Bestellung eines Ergänzungspflegers kommt auch dann in Betracht, wenn im Interesse des Kindes ein Statusverfahren zu führen ist und der sorgeberechtigte Elternteil die Durchführung eines solchen Verfahrens ablehnt.

Die Entziehung des Sorgerechts nach §§ 1666, 1666a BGB wegen unverschuldeten Erziehungsversagens der Eltern kann letztlich auch gerechtfertigt sein, wenn festgestellt werden muss, dass die Chancen auf Sicherstellung der sozialen Grundentwicklung nur in einem anderen Pflegeverband zu erhalten sind.[741]

[720] BayObLG FamRZ 1993, 843; OLG Hamm FamRZ 2009, 1753; AG Korbach JAmt 2002, 526.
[722] BayObLG FamRZ 1999, 318; OLG Brandenburg, Beschl. v. 3.3.2014 – 10 UF 192/13 (chronisch depressive Erkrankung); OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.12.2012 – 3 UF 84/12, juris; OLG Saarbrücken JAmt 2011, 49; OLG Stuttgart FamRZ 2010, 1090; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 6.3.2013 – 6 UF 433/12 (n.v), dort endogene paranoide Schizophrenie ("Mafiageschmierte Nazischweindiagnosen"); OLG Düsseldorf FamRZ 2010, 308; Ehinger, FPR 2005, 253; siehe zum Ganzen auch eingehend Vogel, Die Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangs bei psychischer Erkrankung der Eltern oder eines Elternteils im Rahmen des Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern, FF 2014, 150; Hipp/Kleinz, Mütter mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), ZKJ 2014, 316; Rauwald, Elterliches Trauma und Kindeswohl – Psychotraumatologische Überlegungen zu einer transgenerational vermittelten Beeinträchtigung, NZFam 2014, 1116; siehe auch Ergebnis 1 des Arbeitskreises 22 des 21. Deutschen Familiengerichtstages: "Hochrisikogruppe".
[723] BGH, Beschl. v. 6.7.2016 – XII ZB 47/15, juris.
[726] OLG Frankfurt FamRZ 1983, 530; OLG Saarbrücken JAmt 2011,...

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